Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 26
Von Johann Kaspar Lavater

1. Mai 1774, Zürich

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Goethe, deine Briefe freüen uns, nü-
tzen uns, o könnt' ich vergelten. Doch
Freünde halten nicht Rechnung. Izt
bin ich einsam. Mein Vater ist dem
Tode sehr nahe. Ein sehr redlicher Mann –
voll praktischen Verstandes, ohne alle Theo-
rie u: GeistesEnergie. Meiner Mutter
dank' ich meinen Kopf, mein Herz
dem Vater. Auch ist mein kleiner
Hofnung inspirirender Knabe - tödt-
lich krank, u: Freünd Pfenninger mit
all den Seinigen im Wonne Schloß He-
gi, deßen im Tagbuch gedacht wird. Al-
so bin ich in seltner Lage, geschieden
zum Theil auch von allen meinen übrigℓ
Freünden und Freündinnen ....


Unaussprechlich erquiken mich Dürstendℓ
die Gedanken, die du mir von einer schwe-
sterlichen Seele mittheiltest. Täglich ist's | 2 |
ein lastendes Gefühl, kräftiger als tau-
send Demonstrationen, daß alle Theolo-
gie, Christenthum, Hofnung des ewigen
Lebens, Glauben an Gott - Wahn, Traum,
Unsinn, Abgötterey, Atheismus u: Schwär-
merey zugleich ist, ohne unmittelbares
Christus Gefühl. Ich verachte mich tiefer,
als es keiner meiner Höhner kann, verach-
te mich als Heüchler, Betrieger, Schwätzer,
Wahnsinniger, Gottesspötter – so lang ich
von Christus Leben nicht so überzeügt
bin, wie von deinem, wiewohl ich dich
nicht sehe. – Entweder Atheist oder Christ!
Ich verachte den Deisten, er ist der incon-
sequenteste Mann von der Welt. Ich habe
keinen Gott, als Jesus Christus; – Sein
Vater! Großer Gedanke – ist mir nur
in ihm; ist mir in allem – wäre mir
nirgends, wär' er mir nicht in ihm. Ich
bethe – die Luft an, wenn ich Gott außer | 3 |
Christus anbethe; ich liebe ein Idol mei-
ner Symbolik, wenn ich Gott außer den
Menschen liebe! Es ist alles Schwärme-
rey außer Glauben an Christus, der sich
auf sinnliche Erfahrungen gründet; aus-
ser Liebe zu den Menschen, als Gottes,
meines Gottes Kindern, meines Bru-
ders Geschwistern. Nicht ein einziges
Glaubens Beyspiel führt die Schrift an,
wo nicht sinnliche Erfahrung zum Grun-
de lag; drum bitt' ich so oft – "bist du,
so zeige mir, daß du bist."


Ich will eben nicht auf dem Sehen mit
den Augen bestehen, wiewohl es doch
Saulus u: Steffanus so gut ward; ich
will zugeben, daß dieß Vorrecht der Apo-
stel sey. Wer zeügen will muß sehen;
Aber fragen mögt' ich die simpathetische
Seele: braucht's denn nun izt keine Apo- | 4 |
stel mehr? Oder braucht's izt nicht mehr
als jemals? Wer kann glauben ohne Er-
fahrung? Und glauben machen, ohne
zusehen?


Gesezt aber, es bedürfe keine Zeügen des
Lebens Christi mehr, wie die Apostel wa-
ren – so wünscht' ich näher, bestimmter, ganz
offen zu wißen – welche unmittelba-
re Umgangsweise mit Christus, der
edle Denker izt noch für möglich, und
der gegenwärtigen Ökonomie ange-
meßen hält?


Keine Seele auf dem Erdboden kann ihm
entgegenkommen, denen Belehrungen
hierüber so wichtig, so nützlich seyn könn-
ten, wie die Meinige; keine, die mehr
hierüber zuvernehmen ertragen mag.
Also liebster Goethe, verschaffe mir hier-
über Licht, bald Licht, viel Licht, Nebel-
loses Licht.

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Und dann, um meines Herzens willen,
das nicht ruht, bis es an dem Deinigen
schlagen kann – deine Wahrnehmungℓ,
u: Jubeln über deine Gebeths Erhö-
rungen u: innre Kraft! O folgende
woche, wie geseegnet bist du mir, bringst
mir schwere Briefe von Goethe! Bru-
der, ich will dich amüsiren – u: mehr
als dieß.


Nun – ich fahre fort, zubitten – Das
Buch voll Gottes Wort mögt' ich wißen.
Mir ist alle Wahrheit, die die Wahrheit
in mir herausschlägt – Gottes Wort.
Apokryphisch? Canonisch? Sind die
Menschen rasend? Kein Mensch ist, der
nicht schon reine Gottes Worte geredet,
Gottes Thaten gethan habe! O weh –
wenn Gottes Wort in die Bibel geker-
kert ist. Die Bibel hat viel garstiges – | 6 |
aber hat's die Natur nicht auch? – Doch,
zu wem sag'ich's? – So wahr ich lebe,
zu einem Bruder – u: dennoch scheinen
wir so unermeßlich entfernt, daß alle
Welt uns beyde für Schurken u: Heüch-
ler halten würde – wüßte sie, wie wir
uns schrieben.


Nun – noch Eins. Wie? Wenn ich dieß
Jahr 36. Meilen dir näher käme –
wär's dir Bruder Freüde?


Und noch Eins: Dank für das, was du
Steinern gabst; Ich habe noch nichts.

Ich umarme dich.
   
    J. C. L.


Ramler ist Christ; dem Christen sind
Götzen – Greüel! Satane! Jennem
waren sie's nicht; Doch kann ich mirs
zum Theil vorstellen, daß dir seine
Ode garstig vorkommen muß.


S:  Zentralbibliothek Zürich  D:  Briefe HA Nr. 20  B : an L. und an J. K. Pfenninger, 1774 April 26 (WA IV 2, Nr. 216)  A? : 1774 vor Mai 11 (vgl. RA 1, Nr. 27)  V:  Abschrift 

Goethe, deine Briefe freuen uns, nützen uns [...]. - L.s Vater und sein Sohn Hans Kaspar seien todkrank; J. K. Pfenninger sei auf dem Schloßgut Hegi bei Winterthur. - Die Gedanken, die ihm G. von einer schwesterlichen Seele (S. K. von Klettenberg) mitgeteilt habe, erquiken mich Dürstenden. Ausführlich über L.s Glauben an Christus, seine Zweifel und über seine Ablehnung deistischer Vorstellungen. Es sei alles Schwärmerey außer Glauben an Christus, der sich auf sinnliche Erfahrungen gründet. Wenn es keiner Zeugen des Lebens Christi [...], wie die Apostel waren, mehr bedürfe, so wünsche er zu wissen, welche unmittelbare Umgangsweise mit Christus, der edle Denker izt noch für möglich, und der gegenwärtigen Ökonomie angemeßen hält. Für L. sei alle Wahrheit [...] Gottes Wort, und das beschränke sich nicht auf die Bibel. - Ankündigung seines Besuchs in diesem Jahr. Er dankt G. für das, was dieser H. Steiner gegeben habe. - K. W. Ramler sei Christ, doch müsse G. dessen Ode garstig vorkommen.

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 Goethe, deine Briefe freüen uns, nützen uns, o könnt' ich vergelten. Doch Freünde halten nicht Rechnung. Izt bin ich einsam. Mein Vater ist dem Tode sehr nahe. Ein sehr redlicher Mann – voll praktischen Verstandes, ohne alle Theorie u: GeistesEnergie. Meiner Mutter dank' ich meinen Kopf, mein Herz dem Vater. Auch ist mein kleiner Hofnung inspirirender Knabe - tödtlich krank, u: Freünd Pfenninger mit all den Seinigen im Wonne Schloß Hegi, deßen im Tagbuch gedacht wird. Also bin ich in seltner Lage, geschieden zum Theil auch von allen meinen übrigℓ Freünden und Freündinnen ....

 Unaussprechlich erquiken mich Dürstendℓ die Gedanken, die du mir von einer schwesterlichen Seele mittheiltest. Täglich ist's| 2 | ein lastendes Gefühl, kräftiger als tausend Demonstrationen, daß alle Theologie, Christenthum, Hofnung des ewigen Lebens, Glauben an Gott - Wahn, Traum, Unsinn, Abgötterey, Atheismus u: Schwärmerey zugleich ist, ohne unmittelbares Christus Gefühl. Ich verachte mich tiefer, als es keiner meiner Höhner kann, verachte mich als Heüchler, Betrieger, Schwätzer, Wahnsinniger, Gottesspötter – so lang ich von Christus Leben nicht so überzeügt bin, wie von deinem, wiewohl ich dich nicht sehe. – Entweder Atheist oder Christ! Ich verachte den Deisten, er ist der inconsequenteste Mann von der Welt. Ich habe keinen Gott, als Jesus Christus; – Sein Vater! Großer Gedanke – ist mir nur in ihm; ist mir in allem – wäre mir nirgends, wär' er mir nicht in ihm. Ich bethe – die Luft an, wenn ich Gott außer | 3 | Christus anbethe; ich liebe ein Idol meiner Symbolik, wenn ich Gott außer den Menschen liebe! Es ist alles Schwärmerey außer Glauben an Christus, der sich auf sinnliche Erfahrungen gründet; ausser Liebe zu den Menschen, als Gottes, meines Gottes Kindern, meines Bruders Geschwistern. Nicht ein einziges Glaubens Beyspiel führt die Schrift an, wo nicht sinnliche Erfahrung zum Grunde lag; drum bitt' ich so oft – "bist du, so zeige mir, daß du bist."

 Ich will eben nicht auf dem Sehen mit den Augen bestehen, wiewohl es doch Saulus u: Steffanus so gut ward; ich will zugeben, daß dieß Vorrecht der Apostel sey. Wer zeügen will muß sehen; Aber fragen mögt' ich die simpathetische Seele: braucht's denn nun izt keine Apo| 4 |stel mehr? Oder braucht's izt nicht mehr als jemals? Wer kann glauben ohne Erfahrung? Und glauben machen, ohne zusehen?

 Gesezt aber, es bedürfe keine Zeügen des Lebens Christi mehr, wie die Apostel waren – so wünscht' ich näher, bestimmter, ganz offen zu wißen – welche unmittelbare Umgangsweise mit Christus, der edle Denker izt noch für möglich, und der gegenwärtigen Ökonomie angemeßen hält?

 Keine Seele auf dem Erdboden kann ihm entgegenkommen, denen Belehrungen hierüber so wichtig, so nützlich seyn könnten, wie die Meinige; keine, die mehr hierüber zuvernehmen ertragen mag. Also liebster Goethe, verschaffe mir hierüber Licht, bald Licht, viel Licht, Nebelloses Licht.

| 5 | Und dann, um meines Herzens willen, das nicht ruht, bis es an dem Deinigen schlagen kann – deine Wahrnehmungℓ, u: Jubeln über deine Gebeths Erhörungen u: innre Kraft! O folgende woche, wie geseegnet bist du mir, bringst mir schwere Briefe von Goethe! Bruder, ich will dich amüsiren – u: mehr als dieß.

 Nun – ich fahre fort, zubitten – Das Buch voll Gottes Wort mögt' ich wißen. Mir ist alle Wahrheit, die die Wahrheit in mir herausschlägt – Gottes Wort. Apokryphisch? Canonisch? Sind die Menschen rasend? Kein Mensch ist, der nicht schon reine Gottes Worte geredet, Gottes Thaten gethan habe! O weh – wenn Gottes Wort in die Bibel gekerkert ist. Die Bibel hat viel garstiges –| 6 | aber hat's die Natur nicht auch? – Doch, zu wem sag'ich's? – So wahr ich lebe, zu einem Bruder – u: dennoch scheinen wir so unermeßlich entfernt, daß alle Welt uns beyde für Schurken u: Heüchler halten würde – wüßte sie, wie wir uns schrieben.

 Nun – noch Eins. Wie? Wenn ich dieß Jahr 36. Meilen dir näher käme – wär's dir Bruder Freüde?

 Und noch Eins: Dank für das, was du Steinern gabst; Ich habe noch nichts.

Ich umarme dich.     J. C. L.

 Ramler ist Christ; dem Christen sind Götzen – Greüel! Satane! Jennem waren sie's nicht; Doch kann ich mirs zum Theil vorstellen, daß dir seine Ode garstig vorkommen muß.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
RA 1, Nr. 26, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0026_00028.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 26.

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