Goethes Briefe: GB 2, Nr. 83
An Elisabeth Jacobi

〈Frankfurt a. M. 〉, 31. Dezember 〈1773. Freitag〉 → 〈Düsseldorf〉

Um um um! herum um um! ists nun. Lassen Sie Sich s das nächste auch wohl seyn, und rechnen Sie mich zu Ihrer Welt, wie ich Sie zu meiner, und so bleibts vice versa im alten. Welches ich herzlich gern habe, dass niemand mercke, dass Vergänglichkeit überall die Nase im Spiel hat.

Auf s neue Jahr haben sich die Aussichten für mich recht Raritätenkasten mässig aufgeputzt. Max la Roche heurathet hierher. Ihr künftiger scheint ein Mann zu seyn mit dem zu leben ist und also heysa!! wieder die Anzahl der lieben Geschöpfe ​ 1 vermehrt, die nichts weniger als geistig sind, wie Sie freylich vermuthen mussten ​ 2 . Denn unter uns, weils so eine gar missliche Sache auf der Erde mit Bekanndtschafften Freund und Liebschafften ist, dass, meynt man offt man habs an allen vier Zipfeln pumps reist der Teufel ein Loch mitten drein und alles verschütt'. Wie mirs noch neuerdings gangen ist, das mich sehr verdrossen hat. Und also auf mein Wort zu kommen, binn ich weit geschäfftiger zu suchen wo was liebs freundlichs und guts stickt als bisher, und guten Humor weil ich allerley unvermuthetes ​ 3 finde pp dass ich einigemal auf dem Sprunge / gestanden habe mich zu verlieben. Davor doch Gott seye. Auf allen Fall aber sich ereignenden Unglücks sogleich Mamagen überschrieben werden soll.

Wie schön ich Zeit her gezeichnet habe mag nicht sagen, weil ich noch in ansehnlichem Rest stehe.

Und dann ist der Schildrer der die Han. Lotte zeichnete einer der sich drauf versteht. Sie ists von Kopf zu Fusse, nur dass ich s nicht so im Detail hätte herbeten können, das macht ich war in s Ganze so verliebt, und Gott hat gewollt dass ein Liebhaber ein schlechter Beobachter ​ 4 seye.

An der Rezens. binn ich so unschuldig wie ein Kind, und / diesmal haben Sie ​ 5 Gespenster gesehen, weil sie sie suchten. Ich schickte es


der Tante viel Grüsse, ich wollt ihr schreiben, kann mir aber kein Bild von ihr machen wie sie zu düsseldorf träg faul, und schnupfenhaftet ist, da lässt mich mein dramatischer Genius stecken. ​ 6

eigentlich dass Sie über mich lachen sollten. Ich hatte der Tante geschrieben, wie ich den Deinet gehezzt habe, und würcklich, ich hoffte er sollte sich prostituiren, und siehe da er ist so höflich wie ein Hündlein. Auf mein Wort, von mir ist kein Milch und Gall Tropfen drinn.

Gott vergelts dem Hauptm. Dobel dass er Ihnen durch diese Finsterniss und trübseelige Zeit durchhaudern hilft. Doch er hat seinen Lohn dahin. Auf Fassnacht bleibts dabey kommt was angefahren. Und so Adieu. Nimmt der Kleine wohl zu. Ach liebe Frau seit drey viertel Jahren hab ich drey vier Paare verheurathet, und noch will mir niemand gute Hoffnung melden

G.

  1. Geschö× ​pfe​ ↑
  2. mü ​ussten​ ↑
  3. unvermuthetet ​s ​ ↑
  4. b ​Beobachter​ ↑
  5. s ​Sie  ​ ↑
  6. ↓der Tante 〈…〉 Genius stecken.↓ ​(S. 1 der Handschrift) ​ ↑

Dass sich die Angabe Den letzten Tag im Jahr. ( 64,25–26 ) auf das Jahr 1773 bezieht, geht nicht nur aus dem Inhalt hervor, sondern auch aus Elisabeth Jacobis Antwortvermerk (vgl. Überlieferung).

H: GSA Weimar, Sign.: 51/II,1,1, Bl. 2–3. – Doppelblatt 11,5(–11,8) × 18,9(–19,1) cm, 4 S. beschr., egh., Tinte; Nachschrift am unteren Rand von S. 1, durch waagerechten Strich vom übrigen Text getrennt; S. 4 oben rechts Antwortvermerk, Tinte: „beantw. dℓ 11tℓ Jan: 1774“.

E: Goethe-Jacobi (1846), 15–17, Nr 7.

WA IV 2 (1887), 136–138, Nr 197 (Textkorrektur in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 208).

Der Brief antwortet auf einen nicht überlieferten Brief Elisabeth Jacobis (vgl. 65,7 ). – Der Antwortbrief vom 11. Januar 1774 (vgl. Überlieferung) ist nicht überliefert.

Um um um! herum um um!] Für die Vermutung, die Formulierung stamme aus einem „humoristischen Gedicht“ Johann Heinrich Jungs (vgl. G〈otthilf〉 Stecher: Jung Stilling als Schriftsteller. Berlin 1913, S. 142) oder aus einem „Neujahrslied“ desselben (vgl. Julius Heyderhoff: Die Hausgeister von Pempelfort. Familien- und Freundschaftsbriefe des Jacobihauses. In: Goethe und das Rheinland. Düsseldorf 1932, S. 214, Anm. 2) könnte Charlotte Jacobis Brief an ihren Bruder Johann Georg vom 25. Januar 1774 sprechen, zitiert in der vierten Erläuterung zu 68,2 ; daraus geht hervor, dass Charlotte Jacobi Goethe einen Text Jungs, möglicherweise ein Gedicht, geschickt hatte: „den herum um um von Jung“.

vice versa] Lat.: umgekehrt.

Raritätenkasten mässig] Hier wohl im Sinn von ‚wunderbar‘, ‚überraschend‘; über ‚Raritätenkasten‘ vgl. GB 1 II, zu 203,9–10 .

Max la Roche] Maximiliane La Roche, Tochter von Sophie La Roche; sie heiratete am 9. Januar 1774 den Frankfurter Kaufmann Peter Anton Brentano. Goethe, der Maximiliane im April 1772 in Frankfurt kennen gelernt (vgl. Chronik 1, 493 f.) und auf der Rückreise von Wetzlar im September 1772 in Ehrenbreitstein wieder gesehen hatte, fühlte sich von ihr angezogen. Als er den vorliegenden Brief schrieb, war er über die Vermählung scheinbar heiterer Laune (vgl. auch 71,13–17 sowie zu 63,25–26 ). Das Verhältnis der 18-Jährigen zu dem über 20 Jahre älteren Brentano erwies sich jedoch als schwierig, und zwischen Brentano und Goethe kam es zu Spannungen; vgl. Goethes Briefe an Sophie La Roche vom 16. Juni 1774 und von Anfang Juli 1774 ( Nr 119 und 122 ).

Anzahl der lieben Geschöpfe 〈…〉 geistig sind] Bezieht sich auf 61,14–18.

man habs an allen vier Zipfeln] Die Wendung ‚etwas bei allen vier Zipfeln fassen oder haben‘ bedeutet: „es ganz fassen“, darüber hinaus auch: „bei einer sache sehr vorsichtig gehen“ (Grimm 15, 1552).

Wie mirs noch neuerdings gangen ist] Worauf sich diese Anspielung bezieht, konnte nicht ermittelt werden.

stickt] Hier: ‚steckt‘.

Humor] Im 18. Jahrhundert noch im Sinne von franz. humeur: Laune, Stimmung. – Möglicherweise hat Goethe zuvor ein ‚habe‘ oder das Genitiv-s bei Humor vergessen.

Mamagen] Familiäre Anrede für Elisabeth Jacobi.

Wie schön ich Zeit her gezeichnet habe] Vgl. auch 76,19–20 .

Schildrer] Johann Georg Jacobi; vgl. die erste Erläuterung zu 62,2 ; zu 75,9–10 .

Han. Lotte] Hannoversche Lotte: Charlotte Kestner, die mit ihrem Mann Johann Christian, Registrator am Calenberger Archiv, seit Anfang Juni 1773 in Hannover lebte.

Rezens.] Die Rezension des „Teutschen Merkur“ in den FGA (vgl. die zweite Erläuterung zu 56,1 ).

Ich schickte es] Wann dies geschah, konnte nicht ermittelt werden, vielleicht mit der in Nr 81 angekündigten Übersendung der Violine für Elisabeth Jacobis Kinder oder der Druckbogen von Lenz' Plautus-Nachdichtung „Das Väterchen“ (vgl. 61,12 ; zu 61,19–20 ).

Tante] Johanna Fahlmer.

ich wollt ihr schreiben] Der letzte überlieferte Brief Goethes an Johanna Fahlmer stammt von Anfang Dezember ( Nr 75 ), der nächste vom 2.? Januar 1774 ( Nr 86 ).

schnupfenhaftet] Hapaxlegomenon Goethes für „schnupfenbehaftet“ (Grimm 9, 1390).

geschrieben] Vgl. 56,2–8 .

wie ich den Deinet gehezzt habe] Goethe hatte den Verleger der FGA, Johann Conrad Deinet, vergeblich zu bewegen gesucht, eine kritische Rezension über den „Merkur“ zu veröffentlichen (vgl. die zweite Erläuterung zu 56,1 ).

sich prostituiren] Nach lat. prostituere (bloßstellen): hier nicht pejorativ gemeint, sondern wohl im Sinne von ‚seine kritische Meinung (über den „Merkur“) öffentlich preisgeben‘.

Milch und Gall Tropfen] ‚Milch‘ wird schon in der Bibel bildlich für ‚süßer Geschmack‘ gebraucht (vgl. vor allem 2 Moses 3,8), ‚Galle‘ für ‚bitterer Geschmack‘ (vgl. vor allem Matthäus 27,34).

Dobel] Gemeint ist der aus Frankfurt stammende, in kurpfalzbayerischen Diensten stehende Hauptmann des 6. Infanterie-Regiments Benjamin Dobel (nach freundlicher Mitteilung von Dr. Höppl, Bayerisches Staatsarchiv München). Näheres über seine Beziehung zu Johanna Fahlmer konnte nicht ermittelt werden.

Zeit durchhaudern] Zeit mühsam hinter sich bringen (vgl. auch 63,17 ). – Gewöhnlich bedeutet ‚haudern‘ rütteln, schütteln (vgl. Grimm 4 II, 573), aber auch „Reisende um Lohn fahren“ (Adelung 2, 1003); der Hauderer war ein Lohnkutscher.

kommt was angefahren] Gemeint ist das Singspiel „Erwin und Elmire“; es wurde erst Anfang 1775 beendet.

der Kleine] Elisabeth Jacobis am 17. Oktober geborener Sohn Franz Theodor.

drey vier Paare verheurathet] Im Jahr 1773 hatten geheiratet: am 4. April Johann Christian Kestner und Charlotte Buff, am 2. Mai Johann Gottfried Herder und Caroline Flachsland, am 1. November Johann Georg Schlosser und Cornelia Goethe.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 83 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR083_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 64–66, Nr 83 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 173–175, Nr 83 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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