Goethes Briefe: GB 2, Nr. 82
An Johann Christian und Charlotte Kestner

〈Frankfurt a. M. 〉, 25. Dezember 〈1773. Samstag〉 → 〈Hannover〉


Am ersten Cristtage
morgends nach sechs.

Es ist ein Jahr dass ich um eben die Stunde an euch schrieb meine lieben, wie manches hat sich verändert seit der Zeit.

Ich hab euch lange nicht geschrieben das macht dass es bunt um mich ​ 1 zugeht.

Ich dancke dir liebe Lotte dass du mir für meine Spinneweben einen Brief geschenckt hast. Wenn ich das gehofft hätte wäre mein Geschenck eigennützig gewesen. Ich habe ihn wohl hundertmal geküsst. Es giebt Augenblicke ​ 2 wo man erst merckt wie lieb man seine Freunde hat.

Ich kann euch die Freude nicht beschreiben die ich hatte ​Mercken wieder zu sehn, er kam acht Tage eh ich's vermuthete, und sas bey meinem Vater / in der Stube ich kam nach Hause, ohne was zu wissen tret ich hinein und höre seine Stimme eher als ich ihn sehe.    Du kennst mich Lotte.

Die Stelle in deinem Brief die einen Winck enthält von möglicher Näherung zu euch ist mir durch die Seele gangen. Ach es ist das schon so lange mein Traum als ihr weg seid. Aber es ​ 3 wird wohl auch Traum bleiben. Mein Vater hätte zwar nichts dagegen wenn ich in fremde Dienste ginge, auch hält mich hier weder Liebe noch Hoffnung eines Amts ——— und so scheint ​ 4 es könnt ich wohl einen Versuch wagen, wieder einmal wie's draussen aussieht. / Aber Kestner, die Talente und Kräffte die ich habe, brauch ich für mich selbst gar zu sehr, ich binn von ieher gewohnt nur nach meinem Instinckt zu handlen, und damit könnte keinem Fürsten gedient seyn. Und dann biss ich politische Subordination lernte – Es ist ein verfluchtes Volck die Franckfter, pflegt der Präs. v. Moser zu sagen, man kan ihre eigensinnigen Köpfe nirgends hin brauchen. Und wenn auch das nicht wäre, unter all meinen Talenten ist meine Jurisprudenz der geringsten eins. Das bissgen theorie, und Menschenverstand. / richtens nicht aus – Hier geht meine Praxis mit meinen Kenntnissen ​ 5 Hand in Hand, ich lerne ieden Tag. und haudere mich weiter. – Aber in einem Justiz Collegio – Ich habe mich von ieher gehütet ein Spiel zu spielen da ich der unerfahrenste am Tisch war – Also – doch möcht ich wissen ob deine Worte etwas mehr als Wunsch und Einfall waren.

Meine Schwester ist brav. Sie lernt leben! und nur bey verwickelten ​ 6 misslichen Fällen erkennt ​ 7 der Mensch was in ihm stickt. Es geht ihr wohl und Schl. ist der beste Ehmann wie er ​ 8 der zärtlichste und unverrückteste Liebhaber war. /

Die liebe Max de la Roche, heurathet – hierher einen angesehnen Handelsmann. Schön! Gar schön.

Euer Hans schreibt mir immer wies im deutschen Haus hergeht, und so hab ich eine komplete Chronick aller Löcher, Beulen, und Händel von einigem Belang ​ 9 seit eurer Abreise.

Obs wahr ist dass Dorthel heurathet?

In unsrer Stadt ist ein unerhorter Stern, seit einem halben Jahre haben wir wohl zwanzig Heurathen von Bedeutung. Unsre zwo Nächsten Nachbarinnen haben mit meiner Schwester fast in einer Woche sich vergeben. /

Der Türner bläst, die Glocken läuten, die Trommel geht, und dort hinten fängts an zu tagen.

Ich bin auch Zeit her fleisig gewest hab viele kleine ​ 10 Sachen gearbeitet, und ein Lustspiel mit Gesängen 11 ist bald fertig, auch einige ansehnlichere Stücke in Grund gelegt, und nun wird drüber studirt.

Obiges Lustspiel ist ohne grossen Aufwand von Geist und Gefühl, auf den Horizont unsrer Ackteurs und unsrer Bühne gearbeitet. Und doch sagen die Leute es wären Stellen drinn die sie nicht / prästiren würden. Dafür kann ich nachher nicht.

Ihr sollts im Msspt haben.

Hat Lotte den Can. Jakobi gesehn, gesprochen. Er ist auf sie aufmercksam gewesen, ​ 12 Merck ich. Ist er noch da.

Falcke ist ein trefflicher Junge, mit freuts dass er Liebe zu mir hat, er schreibt mir manchmal.

Merck und ich haben eine wunderliche Scene gehabt, über eine Silhouette die Lavater mir schickte und die Lotten viel änlich sieht. Es lässt sich nicht sagen wies war. Es war den Abend seiner Ankunft, und ich / habe draus gesehn dass er Lotten noch recht liebt. denn wer Lotten kennt und nicht recht liebt den mag ich auch nicht recht.

Adieu ihr Kinder es wird Tag.

Wisst ihr schon dass Höpfner die Jfr Thomä geheurathet hat.

Schreibt mir bald. Und ergötzt euch an der ​ 13 Errinnerung meiner, wie ich mich an Euch ergötze.

G.

  1. m|i|ch​ ↑
  2. F ​Augenblicke​ ↑
  3. ⎡es⎤​ ↑
  4. schei⎡n⎤t​ ↑
  5. Kenntsch ​nissen​ ↑
  6. vew ​rwickelten​ ↑
  7. ke erkennt​ ↑
  8. d ​er​ ↑
  9. b ​Belang​ ↑
  10. ke ​leine​ ↑
  11. g ​Gesängen​ ↑
  12. gewesen. ​, ​ ↑
  13. Dei ​der ​ ↑

Die Jahreszahl ergibt sich aus dem Inhalt: Merck kehrte nach längerer Abwesenheit am 20. Dezember 1773 nach Darmstadt zurück (vgl. zu 62,26–27 ), der eingangs erwähnte Brief (vgl. 62,17 ) muss der vom 25. Dezember 1772 (GB 1 I, Nr 124 ) gewesen sein. – Der zweite Teil des Briefes ( 63,25–64,24 ), der auf S. 1 des zweiten Doppelblattes beginnt und bis zur WA IV als separater Brief vom Herbst 1773 gedruckt wurde, gehört seiner äußerlichen Beschaffenheit nach (vgl. Überlieferung) und auch vom Inhalt her zu dem vorliegenden Brief, wofür insbesondere die Erwähnung der bevorstehenden Heirat Maximiliane La Roches spricht, die am 9. Januar 1774 stattfand (vgl. zu 63,25–26 ).

H: GSA Weimar, Sign.: 29/264,I,2, Bl. 50–53. – 2 Doppelblätter 11,5 × 19 cm, 7 ½ S. beschr., egh., Tinte; S. 5 oben Mitte von fremder Hd, Bleistift: „1773. Aug.“; beide Doppelblätter von derselben Papierqualität (Bütten mit Rippen und Stegen) und mit zwei Querbrüchen in gleicher Höhe (jeweils im Abstand von 6,5 cm vom oberen und 5 cm vom unteren Blattrand).

E​1: Goethe und Werther​1 (1854), 192–194, Nr 88 (Am ersten Christtage 〈…〉 Liebhaber war. [ 62,15–63,24 ]); 185 f., Nr 83 (Die liebe Max 〈…〉 Euch ergötze. / G. [ 63,25–64,24 ]).

E​2: DjG​2 3 (1910), 72–75, Nr 196 (erster zusammenhängender Druck beider Briefteile).

WA IV 2 (1887), 134–136, Nr 196 (Am ersten Christtage 〈…〉 Liebhaber war. [ 62,15–63,24 ]); 113 f., Nr 175 (Die liebe Max 〈…〉 Euch ergötze. / G. [ 63,25–64,24 ], Datierung: Oktober 1773; Textkorrekturen in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 208).

Der Brief beantwortet einen nicht überlieferten Brief Charlotte und Johann Christian Kestners (vgl. 62,21–22 ; 63,1 ). – Ein Antwortbrief ist nicht bekannt.

ersten Cristtage] 25. Dezember (vgl. Grotefend, 43).

Es ist ein Jahr 〈…〉 schrieb] Vgl. GB 1 I, Nr 124 .

lange nicht geschrieben] Der letzte überlieferte Brief Goethes an die Kestners, der dem vorliegenden vorangeht, stammt vom 15. September 1773 ( Nr 54 ; vgl. GB 1 I, einleitende Erläuterung zu Nr 99 ).

meine Spinneweben] Goethe hatte Charlotte Kestner, die ein Kind erwartete, Stoff zu einem Negligé geschenkt (vgl. zu 49,7 ).

einen Brief] Nicht überliefert.

​Mercken wieder zu sehn] Merck war am 20. Dezember 1773 von seiner Reise nach St. Petersburg im Gefolge der Landgräfin Karoline von Hessen-Darmstadt zurückgekehrt (vgl. zu 27,14–15 ).

deinem Brief] Der Bezugsbrief ist nicht überliefert. Wie aus dem Folgenden hervorgeht, hatte Kestner Goethe offenbar geraten, sich um eine Stelle in der Justizbehörde eines fürstlichen Hofes in der Nähe Hannovers zu bewerben.

politische Subordination] Hier wohl zu verstehen als: Unterordnung in einem Amtsverhältnis. – Vgl. dazu auch die zeitgenössische Erklärung: „Subordination, Unterwerffung, 〈…〉 bedeutet eigentlich nichts anders, als die Ordnung des einen unter den andern, damit ein jeder wisse, wem er zu befehlen oder zu gehorchen habe.“ (Zedler 40, 1565.)

Es ist ein verfluchtes Volck 〈…〉 v. Moser zu sagen] Wahrscheinlich eine Anspielung auf das ‚republikanische‘ Selbstbewusstsein der Frankfurter, die als Bürger einer Freien Reichsstadt stolz auf ihre Unabhängigkeit waren, damit aber auch wie die Einwohner im ganzen deutschen Reich ihre eigenen Interessen über die ‚vaterländischen‘ stellten. Friedrich Carl von Moser beklagt z. B. in seiner in Frankfurt entstandenen Schrift „Von dem deutschen Nationalgeist“ (1766) den Mangel an patriotischer Gesinnung und das Vorherrschen einer ‚separatistischen Denkungsart‘ unter den Deutschen: „〈…〉 und so, wie wir 〈das deutsche Volk〉 sind, sind wir schon Jahrhunderte hindurch ein Räthsel politischer Verfassung, ein Raub der Nachbarn, ein Gegenstand ihrer Spöttereyen, ausgezeichnet in der Geschichte der Welt, uneinig unter uns selbst, kraftlos durch unsere Trennungen, stark genug, uns selbst zu schaden, ohnmächtig, uns zu retten, unempfindlich gegen die Ehre unsers Namens, gleichgültig gegen die Würde der Gesetze, eifersüchtig gegen unser Oberhaupt, mißtrauisch unter einander, unzusammenhangend in Grundsäzen, gewaltthätig in deren Ausführung, ein grosses und gleichwohl verachtetes, ein in der Möglichkeit glückliches, in der That selbst aber sehr bedaurenswürdiges Volk.“ (S. 5 f.) Für Goethe gehörte der in den 1750er Jahren eng mit Susanna von Klettenberg befreundete Moser, seit April 1772 Präsident sämtlicher Landeskollegien und Kanzler in Hessen-Darmstadt, zu den einprägsamen Persönlichkeiten seiner Jugend (vgl. AA DuW 1, 69 f. [2. Buch] und GB 1 II, einleitende Erläuterung zu Nr 74 ).

haudere] Haudern: rütteln, schütteln (vgl. Grimm 4 II, 573); in einigen Gegenden des Rheinlandes das Reisen in einem Mietwagen, Hauderer: Mietkutscher (vgl. Adelung 2, 1003; GWb 4, 732); hier bildhaft für ‚langsam vorankommen‘, ‚sich mühsam fortbringen‘.

Meine Schwester 〈…〉 lernt leben!] Cornelia, seit dem 1. November 1773 mit Johann Georg Schlosser verheiratet, lebte seit Mitte November mit ihrem Mann in Karlsruhe und schien mit ihrem neuen Leben im Einklang zu sein (vgl. auch 55,10–11 ). Goethes Einschätzung wird auch durch einen Brief Cornelias an Caroline Herder vom 13. Dezember 1773 bestätigt: „Dass Sie glücklich sind beste Freundinn fühle ich an mir selbst – alle meine Hoffnungen, alle meine Wünsche sind nicht nur erfüllt – sondern weit – weit übertroffen. – wen Gott lieb hat dem geb er so einen Mann – “ (Witkowski, Cornelia, 234).

Schl.] Johann Georg Schlosser.

Die liebe Max de la Roche 〈…〉 schön.] Die bevorstehende Heirat Maximiliane La Roches, die am 9. Januar 1774 stattfand, erwähnt Goethe auch in seinem Brief an Elisabeth Jacobi vom 31. Dezember 1773 (vgl. 65,4 ). Goethe war Maximiliane zuerst im April 1772 in Frankfurt a. M. in Begleitung ihrer Mutter Sophie La Roche begegnet (vgl. Chronik 1, 493 f.). Seine Bewunderung, ja aufkeimende Neigung für das junge Mädchen spricht aus den Briefen an deren Mutter (vgl. 5,24–27 sowie GB 1 I, 245,31–32 ). Zu bezweifeln ist daher, dass Goethes Freude angesichts der bevorstehenden Verbindung der kaum 18-Jährigen mit dem fast 40-jährigen Witwer und sechsfachen Vater Peter Anton Brentano tatsächlich so ungetrübt war, wie es hier den Anschein hat.

Euer Hans schreibt mir immer] Die Briefe Hans Buffs an Goethe sind nicht überliefert. Wie Goethes Antworten belegen, war er auch in den vorangegangenen Monaten immer im Kontakt mit Charlottes Bruder geblieben (vgl. Nr 74 , 76 , 79 , 80 ).

im deutschen Haus] Das „Teutsche Haus“ im Deutschordenshof in Wetzlar war das Wohnhaus der Familie Buff (vgl. auch GB 1 II, zu 236,14–15 ).

dass Dorthel heurathet] Dorothea Brandt, eine der engsten Freundinnen Charlotte Kestners, heiratete erst 1790 den Arzt Johann Ulrich Heßler (vgl. Gloël, 252).

Unsre zwo Nächsten Nachbarinnen] Eine von ihnen könnte Johanna Philippine Sarasin-Leerse gewesen sein (vgl. GB 1 I, zu 72,17 ), die am 31. Oktober aufgeboten worden war. Am 16. November 1773 hatte sie den Frankfurter Kaufmann Johann Nikolaus Manskopf geheiratet (vgl. Franckfurter Frag- und Anzeigungs-Nachrichten vom 2. und 23. November 1773).

Der Türner bläst, die Glocken läuten, die Trommel geht] Türner: ältere Nebenform von ‚Türmer‘; findet sich bei Goethe nur in den frühen Briefen und Werken (vgl. GB 1 I, 250,13 ; Geschichte Gottfriedens von Berlichingen mit der eisernen Hand, DjG​3 2, 102,12; 184,22; frühe Fassung des „Faust“, DjG​3 5, 345). – Es könnte sich um die üblichen Geräusche bei Tagesanbruch handeln, also das Tagblasen des Türmers, das Glockenläuten zum Morgengottesdienst und das Trommeln der Wachsoldaten. Möglicherweise wurde auch der beginnende Weihnachtstag besonders begrüßt.

ein Lustspiel mit Gesängen] Möglicherweise ist damit das Singspiel „Erwin und Elmire“ gemeint, das allerdings erst im März 1775 in der „Iris“ (2. Bd. 3. Stück, S. 161–224) erschien.

einige ansehnlichere Stücke in Grund gelegt] Was genau gemeint ist, lässt sich nicht nachweisen, möglicherweise sind die dramatische „Prometheus“-Dichtung (vgl. zu 36,16 ) und die frühe Fassung des „Faust“ gemeint (vgl. zu 11,3–5 ).

Ackteurs] Von franz. acteur: Schauspieler.

prästiren] Eigentlich: eine Schuld abtragen, für etwas haften; hier: schätzen.

Msspt] Manuskript. – Eine Handschrift zu „Erwin und Elmire“, deren Übersendung Goethe hier möglicherweise ankündigte, hat sich nicht erhalten.

Can. Jakobi] Kanonikus Johann Georg Jacobi (vgl. die erste Erläuterung zu 62,2 ).

Falcke] Mit Ernst Friedrich Hektor Falcke, dem Sohn von Kestners Wetzlarer Vorgesetztem, stand Goethe nach dessen Besuch in Frankfurt im Oktober 1772 in losem Kontakt (vgl. GB 1 II, zu 239,21 ).

mit] Verschrieben für ‚mich‘.

er schreibt mir manchmal] Briefe Falckes an Goethe sind nicht überliefert.

eine Silhouette 〈…〉 schickte] Nicht überliefert; zur Sache vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 178 .

dass Höpfner 〈…〉 geheurathet hat] Ludwig Julius Friedrich Höpfner, seit 1771 Professor der Rechte in Gießen, hatte am 18. Oktober 1773 Anna Maria Thom geheiratet.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 82 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR082_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 62–64, Nr 82 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 169–172, Nr 82 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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