Goethes Briefe: GB 2, Nr. 77
An Johann Georg Christoph Steche

Frankfurt a. M. , 4. Dezember 1773. Samstag → 〈Göttingen〉

   Wohlgebohrner
Hochgeehrtester Herr,


Dero geehrtes vom 1sten Novemb. welches mit einer Vollmacht und einem Spezies dukaten begleitet war, habe nicht ehe beantworten mögen, biss ich etwas relevantes Denenselben ​ 1 zugleich mit zu melden im Stande wäre.

Aus ​ 2 beygebognen Billet Hℓ. Amtmann Luthers können dieselbe ersehen, wie ich ihn zuförderst freundlich gemahnet, und sich mit Hℓ. Registrator Horn gütlich abzufinden angetragen, Ew. Wohlgebℓ. sehen aber auch / wie fest er darauf beharret, die Schuld zwar gemacht, aber auch schon längst gezahlt zu haben.

Weil es nun also zur Klage kommen muss, so will Denenselben ​ 3 noch vorher verschiednes zu bedencken geben.

Zuförderst muss ich Dieselben benachrichtigen dass die mir zugeschickte Rechnung falsch summirt war, und bey genauerer durchsicht, nicht 61 rh. 18 grℓ. 4 dℓ. sondern rh ​ 4 62 : 7 : 4. sich ergeben; und obgleich Error calculi sonst von keinem Belang, so ist doch bey einer Rechnung die dereinst wahrscheinlich beschworen seyn muss, alle Akkuratesse nötig.

Sodann hätte ich gewünscht dass gedachte Rechnung mit denen ehmaligen Hℓ. Luther überschickten / gleichförmig gewesen wäre, doch hat auch dieses nichts zu sagen, weil sie nicht durch Veränderung der Summen, sondern durch Zufügen eines neuen Posten verstärckt worden.

Der Beweis der uns beym Laugnen 5 des Gegenteils obliegt, wird freylich am leichtsten durch Beschwörung des Buches geführt, nur ist die Frage, wie ​ 6 dasselbe ​ 7 beschaffen, und ob es kauffmannisch und ordentlich genug geführt ist, |:denn wie ich vermuthe ists nur ein Buch derer, fur, im Hause verköstigte ​ 8 Studiosen, geschehenen Auslagen:| um semiplenam probationem zu geben. Wäre ia daran einiger Mangel, so müsste man seine Zuflucht zu einem Zeugen Verhöre ​ 9 nehmen, um dadurch ge/genseitige Einwendungen zu balanziren.

Ferner werden dieselbe für eine Caution Sorge tragen müssen, weil ohne dieselbe pro reconventione et expensis , niemand fremdes bey unsern Gerichten zu Verfolgung seines Rechts gelassen wird. Sie mögte wenigstens auf 50 hiesige Thaler, vielleicht drüber angesetzt werden.

Dieses alles habe denenselben zur weitern Beherzigung vorerst melden wollen, eh ich Hand ​ 10 ans Werck lege. Ich bitte um ausführliche Information 11 obiger Punckte, und verharre mit schuldigster Empfelung an Hℓ. Reg. Horn

Ew. Wohlgebℓ.
ergebenster JWGoetheDr.


Des Hℓ. Luthers Orig. Billet bitte mir wieder zurück.

  1. × ​Denenselben​ ↑
  2. Auch ​s ​ ↑
  3. d ​Denenselben​ ↑
  4. |rh|​ ↑
  5. l ​Laugnen​ ↑
  6. wir ​e d ​ ↑
  7. die ​asselbe​ ↑
  8. verköstigter ​ ↑
  9. n ​Verhöre​ ↑
  10. h ​Hand​ ↑
  11. Ins ​formation​ ↑

H: GSA Weimar, Sign.: 29/484,I, Bl. 1–2. – Doppelblatt 16 × 23(–23,2) cm, 4 S. beschr., egh., Tinte; die Zeile Aus beygebognen Billet ( 59,7 ) ist durch einen Anlagestrich am linken Seitenrand markiert.

E: WA IV 2 (1887), 128–130, Nr 188 (Erich Schmidt) (Textkorrekturen in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 208).

Billet von Karl Friedrich Luther (vgl. 59,7 ).

Antwort auf einen nicht überlieferten Brief Steches vom 1. November 1773 (vgl. 59,3 ). – Ein Antwortbrief ist nicht bekannt.

Johann Georg Christoph Steche (auch: Stecke) (1738–1805) war Advokat und Ratsauditor (Richter) in Göttingen. 1789 wurde er Syndikus und 1800 Bürgermeister in Northeim (etwa 30 km nördlich von Göttingen). Steche war Goethes Korrespondenzanwalt. Ein solcher hält die Verbindung zwischen einem Klienten und dessen auswärtigem Prozessbevollmächtigten aufrecht.

Im vorliegenden Fall ging es um die Klage des Registrators Heinrich Ernst Horn aus Göttingen gegen den Frankfurter Landamtmann Karl Friedrich Luther auf Bezahlung einer alten Schuld, die Luther als Student in Göttingen bei ihm gemacht hatte. Der Fall ist von Georg Ludwig Kriegk detailliert dokumentiert worden (vgl. Deutsche Kulturbilder aus dem achtzehnten Jahrhundert. Nebst einem Anhang: Goethe als Rechtsanwalt. Leipzig 1874, S. 410–416). Luther behauptete, den Betrag vor seiner Abreise aus Göttingen am 3. Januar 1756 bezahlt zu haben. Am 9. Februar 1774 reichte Goethe als Bevollmächtigter Horns beim Jüngeren Bürgermeister (Jakob Heinrich Rühle von Lilienstern) als Erster Instanz in Frankfurt eine Klageschrift ein, die am 23. März abgewiesen wurde. Daraufhin machte Goethe am 13. April eine Eingabe beim Schöffengericht (vgl. DjG​3 4, 211 f.), der stattgegeben wurde. Das Gericht forderte im weiteren Verlauf die Akten an. Am 13. Juli erbat Goethe in einer erneuten Eingabe einen vierwöchigen Aufschub zu Beibringung meiner weiteren rechtlichen Ausführung (DjG​3 4, 213). Am 2. September reichte Goethe die Replik ein; am 29. April 1775 schließlich wurde das Urteil gesprochen. Danach wurde Luther zur Zahlung des Betrages verurteilt, unter der Bedingung, dass „Horn durch Vorlegung und Beschwörung seines Handelsbuchs, wozu ihm vier Wochen anberaumt würden, die Richtigkeit seiner eingeklagten Rechnung, sowie daß dieselbe bisher nicht berichtigt worden sei, auf rechtserforderliche Weise bestärke“ (Kriegk, S. 416). Da Horn kein „zum Erfüllungs-Eid genugsam qualificirtes Handelsbuch zu produciren“ vermochte (ebd.), verlor er den Prozess, der sich einschließlich des Berufungsverfahrens noch bis zum 1. Mai 1778 hinzog.

Von Goethes Briefen, die er in dieser Sache an Steche richtete, sind nur die drei im vorliegenden Band gedruckten Briefe überliefert ( Nr 77 , 125 und 136 ). Antwortschreiben Steches haben sich nicht erhalten. – Vgl. auch Otto Deneke: Dr. Goethe als Anwalt eines Göttinger Bürgers. In: Ders.: Aus Göttingen und Weimar (Göttingische Nebenstunden 17). Göttingen 1938, S. 33–39 (weitere Literaturhinweise in GB 1 II, Erläuterungen zu Nr 87 ).

Spezies dukaten] Speciesdukaten waren – im Unterschied zu bloßem Rechnungsgeld – ausgeprägte Münzen, deren Goldwert zum Tageskurs berechnet wurde und den Wert der Münze bestimmte.

relevantes] Relevant: „sachdienlich“ (Schweizer 2, 718).

beygebognen] Beibiegen (kanzleisprachlich): etwas „als Anlage einem Schreiben beifügen“ (GWb 2, 285).

Billet] Nicht überliefert.

Amtmann] „Vertreter der weltl Obrigkeit und Gerichtshalter“, „Beamter 〈…〉 mit Befugnissen in Verwaltung, Rechtsprechung u Steuereinziehung; repräsentiert als Vorsteher des Amts 〈…〉 in den Landbezirken der Kleinstaaten für den Untertan oft die Staatsgewalt überhaupt“ (GWb 1, 455).

Registrator] „Beamter, der zum Eintragen, Verzeichnen, Ordnen und Aufbewahren wichtiger Staatsschriften und Verhandlungen bestellt ist.“ (Schweizer 2, 716.)

zugeschickte Rechnung] Nicht überliefert.

Error calculi] Lat.: Rechenfehler.

Laugnen] Ableugnen, widersprechen.

Gegenteils] Der Gegenteil (kanzleisprachlich): „der Gegenpart, Gegner“ (Adelung 2, 487).

durch Beschwörung des Buches] Gemeint ist: durch eidliche Versicherung der Korrektheit des (Rechnungs-)Buches.

Studiosen] Plural zu Studiosus (Student).

semiplenam probationem] Lat. probatio semiplena (kanzleisprachlich): „halber Beweis“ (Schweizer 2, 666).

balanziren] Franz. balancer: ausgleichen, in Gleichgewicht bringen.

pro reconventione et expensis] Lat.: für Gegenklage und Ausgaben.

hiesige Thaler] In Frankfurt handelsübliche Taler. – Der Wert des Talers war regional unterschiedlich (vgl. die Tabelle „Münze und Geldrechnung in Goethes Briefen 1764–1775“ im vorliegenden Band).

Information] „Recherche, Untersuchung, Nachfrage“ (GWb 4, 1531).

Reg.] Registrator.

JWGoetheDr.] Goethe hatte in Straßburg den Grad eines Lizentiaten der Rechte erworben. Das Angebot einer Promotion zum Doktor juris lehnte er ab, denn in Teutschland haben beide Gradus gleichen Wehrt (GB 1 I, 226,15 ). Den Doktor-Titel benutzte Goethe nur gelegentlich in privaten Briefen; amtliche Schreiben als Rechtsanwalt unterschrieb er hingegen stets als ‚Lizentiat‘.

Orig.] Original.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 77 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR077_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 59–60, Nr 77 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 162–164, Nr 77 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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