Goethes Briefe: GB 2, Nr. 73
An Elisabeth Jacobi

〈Frankfurt a. M. , Ende November 1773〉 → 〈Düsseldorf〉


Verzeihen Sie mir beste Frau meine Wische. Ein Händedruck ist ia immer werther als ein lang Compliment, dafür gehts auch immer von Herzen wenn ich schreibe, und wenn ich erst nachdencken oder studiren und rücken sollte: ​was? kriegten Sie in Ewigkeit keinen Brief. Mit der fahrenden kriegen Sie ein Allerley, darinn die folgenden Bogen zum ​Vätergen, davon Sie zum Trost Hℓ. Jungs kristglaübiger Seele sagen können dass ichs nicht gemacht habe. Ich habs nicht gemacht Mamagen, aber ein Junge, den ich liebe wie meine Seele, und der ein treffℓicher Junge ist. Aber warum richtet man nach den Wercken! / Zwar steht geschrieben: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Aber sind das unsre ​Früchte was wir aufs Papier sudeln, geschrieben oder gedruckt. So viel, liebe Frau, weil ich wünschte dass Sie dem Verf. des Vätergen gut blieben, und zugleich wüssten, dass ichs nicht binn. Sie haben den ehrlichen Jung wieder bey sich, vielleicht hat ihn sein Cristelgen schon zurückgefordert, und Ihr letzter Knabe ist wohl und frisch, hoff ich, weil ​ 1 sie ​ 2 nichts davon schreiben. ​Ich kann mir ​Sie ​ohne den / Knaben nicht dencken. Und dann mag ich mich gern nicht beklagen liebe Frau über meine gegenwärtigen Umstände, dass wenn ich nicht neuerdings wieder bissiger geworden wäre ich gar nicht auslangte.

Ich habe gar keine Zeit meine Sinnen zu sammeln, und habe dazu ein Stückgen Arbeit angefangen, stricte für Sie, und alle liebe Seelen die Ihnen gleichen, nicht zur ​Nahrung doch aber hoff ich zur ​Er ​gözun ​g. Auf Fassnacht könnts anmarschieren, wenn die Sterne nicht gar grob zuwieder sind. / Grüssen Sie mir Lolotgen. Von meiner Schw. die Sie grüsst, werden Sie in Täntgens ​ 3 Briefe lesen, und die Gerocks haben Sie von Herzen lieb, sind aber übel dran. Kethgen ist kranck, die Antoinet hatt mehr Begierden, als für ​diesmal befriedigt ​ 4 werden können. Und ich meide sie, weil ich nichts bessers zu würcken Krafft habe. Daran liegts auch dass Sie noch kein Portrait haben. Adieu.

  1. d ​weil​ ↑
  2. × ​sie​ ↑
  3. Täng ​tgens​ ↑
  4. × ​befriedigt​ ↑

Dem vorliegenden Brief war vermutlich Nr 72 vom 29. November 1773 beigeschlossen (vgl. 57,9 ). Dies lässt darauf schließen, dass beide Briefe etwa zur gleichen Zeit entstanden sind. Bestätigt wird diese Annahme durch die Tatsache, dass der Inhalt des vorliegenden Briefes spätestens am 3. Dezember in Düsseldorf bekannt war; Johanna Fahlmer berichtet darüber in einem Brief unter diesem Datum an Johann Georg Jacobi (in: Wilhelm Scherer: Goethe und Adelaide. In: Ders.: Aufsätze über Goethe. Berlin 1886, S. 105–107). Der vorliegende Brief stammt also von Ende November 1773.

H: GSA Weimar, Sign.: 51/II,12,1, Bl. 4–5. – Doppelblatt 11,6 × 19 cm, 3 ¾ S. beschr., egh., Tinte. – Beischluss: Nr 72 ? (Vgl. zu 57,9 .)

E: Goethe-Jacobi (1846), 13 f., Nr 5.

WA IV 2 (1887), 127 f., Nr 187 (Textkorrekturen in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 208).

Druckbogen von Lenz' Plautus-Übersetzung „Das Väterchen“ (vgl. zu 56,18–19 ).

Ein Bezugsbrief ist nicht bekannt. – Elisabeth Jacobi antwortete am 9. Dezember 1773 (vgl. RA Ergänzungsbd zu den Bänden 1–5, 537, Nr 1/16a​+; Brief abgedruckt im Anschluss an die folgenden Erläuterungen).

meine Wische] Gemeint sind der vorliegende sowie der vorhergehende Brief an Elisabeth Jacobi ( Nr 68 ), die offenbar ohne rechte Laune ( 53,2 ) geschrieben worden waren.

Mit der fahrenden] Gemeint ist die ‚fahrende Post‘, also die Postkutsche, im Unterschied zur schnelleren ‚reitenden Post‘.

folgenden Bogen zum ​Vätergen] Druckbogen von Jakob Michael Reinhold Lenz' Nachdichtung der „Asinaria“ des römischen Dichters Titus Maccius Plautus unter dem Titel „Das Väterchen“; sie erschien als erstes Stück in den „Lustspielen nach dem Plautus fürs deutsche Theater“ (Frankfurt und Leipzig 1774). Möglicherweise enthielt auch das Packet ( 56,1 ), von dem in Nr 72 die Rede ist, solche Druckbogen. Die fahrende Post brachte jedenfalls Druckbogen, die auf die mit dem vorliegenden Brief übersandten Bogen folgten.

Jungs kristglaübiger Seele] Johann Heinrich Jung; über dessen fromme Gesinnung vgl. GB 1 II, einleitende Erläuterung zu Nr 96 . – Goethe erwartete offenbar eine moralische Verurteilung von Plautus' Stück durch Jung: Vater und Sohn intrigieren gemeinsam gegen die geizige Mutter; der Vater hilft unter der Bedingung, dass ihm der Sohn seine Geliebte für eine Nacht überlässt. Auch Elisabeth Jacobi war empört und verbrannte die überschickten Druckbogen (vgl. ihren Antwortbrief im Anschluss an die folgenden Erläuterungen).

ein Junge, den ich liebe wie meine Seele] Gemeint ist Lenz; vgl. Elisabeth Jacobis Antwortbrief.

An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.] Vgl. Matthäus 7,16.

Sie haben den ehrlichen Jung wieder bey sich] Jung, der in Elberfeld wohnte, hielt sich wegen einer ärztlichen Kur in Düsseldorf auf (vgl. Elisabeth Jacobis Antwortbrief).

Cristelgen] Jungs Frau Christine.

Ihr letzter Knabe] Elisabeth Jacobis am 17. Oktober geborener Sohn Franz Theodor.

​Ich kann 〈…〉 nicht dencken.] Diese Bemerkung wurde wohl dadurch veranlasst, dass die Familie von der Geburt des Jungen kaum Notiz genommen hatte, weil sie sich statt seiner ein Mädchen gewünscht hatte (vgl. zu 46,9 ).

nicht auslangte] Auslangen hier: zu Ende kommen (vgl. Adelung 1, 610).

ein Stückgen Arbeit] Vermutlich ist das Singspiel „Erwin und Elmire“ gemeint; möglicherweise war Goethe zur Beschäftigung mit der Gattung des Singspiels durch sein Interesse an der komischen Oper „Der Töpfer“ von Johann André angeregt worden. André vertonte „Erwin und Elmire“ 1775. Inhaltliche Anregungen gingen von Oliver Goldsmith' „The vicar of Wakefield“ aus. Die Fertigstellung des Singspiels in den ersten Monaten des Jahres 1775 fand dann unter dem Einfluss von Goethes Beziehung zu Anna Elisabeth Schönemann statt.

Auf Fassnacht könnts anmarschieren] „Erwin und Elmire“ wurde erst Anfang 1775 beendet.

Lolotgen] Charlotte Jacobi.

meiner Schw.] Goethes Schwester Cornelia, die am 1. November Johann Georg Schlosser geheiratet hatte.

in Täntgens Briefe] Gemeint ist der Anfang des offenbar beigeschlossenen Briefes an Johanna Fahlmer vom 29. November 1773 ( Nr 72 ).

Gerocks] Johann Georg Gerock und seine Familie, die mit der Familie Goethes befreundet waren.

Kethgen] Catharina Gerock, eine Freundin Goethes und seiner Schwester Cornelia.

Antoinet] Antoinette Louise Gerock, Schwester der Vorhergehenden.

Begierden] Nicht ermittelt.

Portrait] Elisabeth Jacobi hatte in ihrem Brief vom 6. November 1773 (abgedruckt im Anschluss an die Erläuterungen zu Nr 65 ) um Zeichnungen Goethes von dessen Mutter und den Gerocks gebeten.


Elisabeth Jacobis Antwortbrief:


Düßeldorf den 9ten Decemb. 1773.

Heute Morgen gereichts mir zur Kurzweil an Hn: Doctor zu schreiben, liebe Tante. – Mir auch Betti; und da gieng ein jedes zweckmäßig seiner Wege. Nun, mein lieber Hr. Doctor, muß ich Ihnen noch versichern, daß mich weder gestern noch vorgestern die Lust darzu anwandelte, und Sie werden mich loben, daß ich so den Trieben der Natur über alles gehorche. In der That gehen wir in diesem Stücke oft Hand in Hand miteinander; ich schreibe nicht an meine Freunde, wenns nicht von Herzen geht: und ich bekomme die Kribel Krankheit in die Finger, wenn ich mit Nachdenken schreiben will. – Aber dennoch, Herr Doctor, war ich jüngst mit Ihrer 6 zeilen Antwort auf meinen langen Brief nicht zufrieden; warum? weil die 6 zeilen keine Antwort geben 〈JB: gaben〉 und keine Antwort foderten. Im ganzen Dinge, von Ihnen ​Wisch genannt, war keine Zeile Text, wo ich hätte eine Note anbringen können. Nun aber haben Sie alles wieder gut gemacht, u. vornehmlich dadurch, welches sorgfältig zu Herzen zu nehmen bitte, daß Sie nicht der Vater des garstigen Väterchens sind. Warum, mein lieber Hr. Dr; da ich bey Lesung der ersten Zeilen puncto des Väterchens mit Jauchzen darüber auffuhr, daß Sie nicht Verfaßer davon wären, warum verdarben Sie mir gleich darauf die Freude, indem Sie mir eben diesen Mann, worüber ich mich so herzlich freute, daß er mir gar nichts angieng, als Ihren Seelenfreund bey mir einführen wollen? Nimmermehr, Herr Doctor, Ihr Herz kann diesen Mann nie Freund heissen, und bloß Ihre Laune macht Ihrem Herzen etwas von dieser Seelenverbindung weis. – Ein Mensch, der sich in Bildung solcher Gegenstände gefällt, den sein Geist antreibt, ins häßliche zu idealisieren, was machen ich und die mich lieb haben damit zum Freunde? Sie erlauben mirs ja, He. Doctor, daß ich so frey heraus sage, wie mirs ans Herz kommt. Mamachen ist keine Philosophin, sieht nicht viel weiter als ihre Nase, glaubt unser Hr. Gott habe den bon sens universel, weiß aber, daß sie ihn nicht hat, sondern nur einen petit bon sens particulier, mit dem sie in ihrem angewiesenen Stückelchen Welt herumschlendert und thut und treibet. Nun kann aber Mamachen nicht anders als nach ihrem geringen Alltagsverstand zu Werke gehen, weil sie sonst sich ganz ohne Verstand behelfen müste, und da hat sie denn das Väterchen verbrannt, theils damits ihr selbst; und theils damits ihren naseweisen Knaben aus der 〈JB: de〈m〉〉 Wege käme. Soviel vom Väterchen und Mütterchen, und auf immer sey das Seelenbrüderchen verbannt und vergessen, wenns Freund Goethe beliebt.

Pater Brey ruht sicher und wohlverwahrt in meinem Secretair, und soll mir noch eins zu lachen machen, wenn meine Augen ihre jetzigen Dünste von sich —— Hr. Doctor, ich bleibe stecken, es war eine unsinnige Phrase, woran ein armer Sünder, den man so eben, unserm Hause vorbey, zum Gericht führte, schuld war. Die Trommel erschütterte meine Seele, ob ich den Mensch 〈JB: Menschen〉 gleich nicht sahe.

Um Fastnacht also ein neues Stückchen Arbeit von Ihnen ganz nach unserm Herzen und Geschmacke. – Es soll uns sehr viel Freude machen, Hr. Doctor, das versichere ich Ihnen; allein mischen Sie doch auch den pot pourri, wenn Sie Mamachen noch mehr Freude machen wollen. ​Das Stückchen Arbeit kann so gar hübsch für uns unersättliche begierliche Frauenzimmer werden, und wird es werden wenn Sie es unternehmen wollen.

Jungs christglaubige Seele hat ein Medicinal Rath allhier, wegen Theorie und Praxis, einige mahl lassen herwandern. Man hat ihn sehr chicanirt, nun kan er aber vermuthlich ruhig bey sein Christelchen bleiben.

Daß Sie meinen Franz nicht außer Acht laßen, thut meinem mütterlichen Herzen recht gut. Er ist brav, fromm, und hat viel Feuer in seinen großen braunen Augen, auch ein angenehmes Organ. Einmahl war er sehr 〈JB: schon〉 sehr krank.

Fritz u. George 〈JB: Georg〉 laßen vielmahl für die Violine danken. Vom heiligen Geist wissen die kleinen Heiden nicht viel, aber mehr vom Götz von Berlichingen, Hamlet u. d. gl. Die drey Knaben haben benebst dem armen Sünder meinen Kopf so verwirrt gemacht 〈JB: „gemacht“ fehlt〉, daß ich die übrigen Sachen die Tante muß beantworten lassen; nächstens die Wette, und Ihre Lotte in Hannover, welche jemand gesehen hat. Adieu 〈JB: Adie〉, Hr. Doctor, grüßen Sie die guten Kinder Guerock, welche nach meinem Begriff nicht wohl glücklich in dieser Welt seyn können. ​Sie 〈JB: nicht gesperrt〉, sie können u. müßen es seyn. Mamachen wünscht es.


(GJb 102 [1985], 285 f. [Peter Bachmaier; nach einer Abschrift von Johann Heinrich Schenk, dem Privatsekretär Friedrich Heinrich Jacobis; der Brief selbst ist nicht überliefert; vgl. auch JB II 1, 199–201).

2–3 Heute Morgen 〈…〉 Mir auch Betti] Elisabeth Jacobi zitiert wohl einen Dialog, den sie vor der Niederschrift ihres Briefes mit Johanna Fahlmer geführt hatte. Daraus geht hervor, dass diese zur gleichen Zeit an Goethe schrieb; dieser Brief, die Antwort auf Goethes Brief von Anfang Dezember 1773 ( Nr 75 ), ist nicht überliefert. 7 Hand in Hand miteinander] Vgl. den Bezugsbrief ( 56,14–17 ). 10 Ihrer 6 zeilen Antwort] Goethes Brief vom 7. und 16. November ( Nr 68 ). 12 von Ihnen ​Wisch genannt] Vgl. den Bezugsbrief ( 56,14 ). 13 Nun aber haben Sie alles wieder gut gemacht] Gemeint ist: mit dem Bezugsbrief. 19 Seelenfreund] Vgl. den Bezugsbrief ( 56,21 ). 26 bon sens universel] Franz.: allumfassender gesunder Menschenverstand. 27 petit bon sens particulier] Franz.: kleiner, eingeschränkter gesunder Menschenverstand. 30–31 das Väterchen verbrannt] Die Druckbogen von Lenz' Plautus-Nachdichtung „Das Väterchen“. 31 Knaben] Vgl. unten zu Zeile 48.     34 Pater Brey] Goethes 1774 erschienenes „Fastnachtsspiel 〈…〉 vom Pater Brey“. 37–38 Die Trommel] Sie wurde auf dem Weg des Delinquenten zum Richtplatz geschlagen, zu welchem der Verurteilte, „an den meisten Orten (wie in Preußen) auf einem Wagen, von Cavallerieabtheilungen“ und von einem Geistlichen begleitet, geführt wurde (Binzer/Pierer 23, 545). 39 neues Stückchen Arbeit] Vermutlich „Erwin und Elmire“. 41 pot pourri] Vgl. zu 55,15–20 . 48 Franz] Der drei Wochen alte Franz Theodor Jacobi. 51 Fritz u. George] Elisabeth Jacobis Söhne, der achtjährige Johann Friedrich (Fritz) und der fünfjährige Georg Arnold. 51 Violine] Im Brief an Johanna Fahlmer vom 29. November ( Nr 72 ) hatte Goethe versprochen, sich nach einer Violine umzuschauen (vgl. 55,23 ). Sie war für Elisabeth Jacobis Söhne bestimmt. 51–52 Vom heiligen Geist] Goethe hatte die Violine in seinem Brief an Johanna Fahlmer von Anfang Dezember ( Nr 75 ) als Geschenk zum heiligen Crist angekündigt. 55 die Wette] Einzelheiten der Wette sind nicht bekannt. Über deren Gegenstand vgl. zu 47,15–16 . 55 Ihre Lotte] Charlotte Kestner.     56 jemand] Johann Georg Jacobi; vgl. 64,11 und die erste Erläuterung zu 65,2 . 57 Kinder Guerock] Vgl. zu 57,10 ; zu 57,11 .


 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 73 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR073_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 56–57, Nr 73 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 154–159, Nr 73 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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