Goethes Briefe: GB 2, Nr. 72
An Johanna Fahlmer

〈Frankfurt a. M. 〉, 29. November 1773. Montag → 〈Düsseldorf〉


Liebe Tante.

Wenn wir nur erst ins gleiche kommen, dass iedes seinen Gang geht, ohne den andern mitnehmen zu wollen ​ 1 , wird alles gut werden. Wir treffen uns doch wieder, wenn wir auch hier und dort abweichen. Nur waren wir ​vielleicht beyde des ​Hand in ​Hand gehen zu gewohnt ​ 2 . und wer ist das nicht. ppppp. Meine Schwester führt sich wohl auf. Ihre Wanderschafft, Einrichtung alles macht sie gut.

Sie erinnern sich noch des Schimpf und Schelt weegs zwischen Bornheim und ​Franckfurt /

Jetzt watet sie nach Art und Lust, ​ 3 und lässt euch alle grusen.

Wenn der Geist der Erfindung vor mir über streicht, will ich ihn um so ein Meubel fragen. a l'imitation — das thut er sonst nicht gern.

Aber im Ernst wenns keine ​Posse ist, so freu ich mich dass der Moralische Wortkram sich abermal prostituirt. ​ 4 Ich mögte einen Pot-pourri oder was fur einen sie wollen, mit Moralischen ​Emblemen und ​Sprüchen vorschlagen. /

Für die Romanze danck ich, bitte um mehre.

dagegen stehn all die zu Diensten die ich aus Elsas mitbrachte.

Das Violingen will ich ausfragen. Und erst Nachricht geben.

Im Packet kommt eine Rezens. der hiesigen Zeit. über den Merkur, wo die Herren, Wiel. den Staub von den Füssen lecken. Ich hab das meinige gethan um den Deinet gegen Wielanden aufzubringen. Hab ihm vorgestellt: wie schändlich es sey dass der Merkur sagt ​: Die Frfurter Zeit. sei mit dem Ende 72 verschwunden , da sie doch würcklich noch / en toutes lettres existire. demohngeachtet musst ich die Hoflichkeit und Frömmlammsfreündlichkeit pag 773 sqq. von Seel aus bewundern. Adieu liebe Tante, ich dancke Ihnen in Andres Seele.

Auch für die Communikation der ​Meynungen über ​mich . Sie interessiren einen immer, so wenig sie auch Einfluss ​über und ​in einen sie haben mögen oder können.

Addio.

29 Nov 1773.

  1. wollem ​n ​ ↑
  2. gewoh l ​nt​ ↑
  3. Lust. ​, ​ ↑
  4. prosituirt, ​. ​ ↑

H: Privatbesitz, Deutschland. – Doppelblatt 11,4(–11,6) × 19 cm, 4 S. beschr., egh., Tinte; S. 1 oben links von Johanna Fahlmers Hd, Tinte: „N ​r​o  6“ (vgl. die erste Erläuterung zu 46,5 ). – Beischluss zu Nr 73 ? (vgl. zu 57,9 ).

E: Goethe-Fahlmer (1875), 40–44, Nr 7.

WA IV 2 (1887), 125 f., Nr 186 (nach E).

1) ​Vom plapperigen Junggesellen.


Es waren drey Junggesellen Sie tähten was sie wöllen, Sie hielten einen Rath. Zu Strasburch in der Stadt.
Es war wohl einer drunter. Der nichts verschweigen konnte. „Es hat mir gestern spät. Ein Mädchen zu geredt. Sie will mich lassen schlaffen Bey ihr im FederBett!“
Das Mäidel steht an die Wände Hörts von Anfang bis zu Ende. „Verleih mir groser Gott. Den Witz u auch Verstandt. Daß mir der lose Knabe. Nicht kommt an meine Hand.“
Der Knab, es war um Viere. Geritten kam vor die Thure. Er klopfet also stille, Mit seinem Goldenem Ring, „Ey schlafest oder wachest. Mein aus erwähltes Kind?“
„Was ist wenn ich nicht schliesse. Und dich nicht einer liesse. Reit du es immer hin! Wo d' her geritten bist. Ich kann ein wenig Schlaffen. Wen du schon nicht bey mir bist.“
„Wo soll ich dann hin reuten, Es schlafen alle Leuten. Es schlafen alle Leut. Und alle BürgersKind. Es regenet, und schneyet. Und geht ein kalter Wind.“
Er sass sich auf seinem Gaule. Er schlug sich selbst aufs Maule, „Hättst du mir still geschwiegen. Du lose Plapper zung. Du bringst mich nun ums liegen. Bey mein braun Mädlein jung.“
„Dort under jener Linde, Werst du dein Schlafplatz finden. Bind du es deinen Gaul. Wohl an denselben Baum. Und laß mich ümer schlaffen. In meinem Süssen Traum.“

H: Privatbesitz, Deutschland. – Doppelblatt 11,6 × 19 cm, 4 S. beschr., fremde Hd, Tinte; S. 4 unten von Johanna Fahlmers Hd, Tinte: „Daß hatt, der Göthe gemacht.“


2) Paket, u. a. mit einer Rezension des „Teutschen Merkur“ (vgl. 56,1 ).

3) Stoffproben (?) (vgl. die erste Erläuterung zu 56,1 ).

Der Brief beantwortet einen nicht überlieferten Brief Johanna Fahlmers (vgl. 55,21 ; 56,8 ). – Ein Antwortbrief ist nicht bekannt.

Wenn wir nur 〈…〉 zu gewohnt.] Diese Bemerkungen zielen auf Goethes Beziehung zu seiner Schwester Cornelia, die seit Mitte November mit ihrem Mann Johann Georg Schlosser in Karlsruhe lebte. In Nr 59 hatte Goethe über die befürchtete Einsamkeit nach deren Abreise geklagt (vgl. 46,14–15 ).

ins gleiche kommen] „Gesundheit, Wohlbefinden 〈…〉 erlangen“ (GWb 4, 277).

Ihre Wanderschafft 〈…〉 macht sie gut.] Ein Brief Cornelias, in dem sie dem Bruder über ihren Umzug berichtet, ist nicht überliefert.

Schimpf und Schelt weegs] Dieser Ausdruck spielt wohl auf den Umstand an, „daß Bornheim der Ort derber Genußfreudigkeit war, die Stätte, wo Tanzbelustigungen, Hazardspiel und der Dienst der Venus vulgivaga eifrigst gepflegt wurden. 〈…〉 Auf mehreren Wegen gelangte man nach Bornheim, dem ‚lustigen Dorf‘. Der Hauptweg – der heutige Sandweg – führte 〈…〉 zunächst durch Weingelände und wohlbestellte Gemüsefelder; dann ging es über einen grasreichen Anger, auf dem ‚muntere‘ Herden weideten, auf die Hauptstraße Bornheims mit ihrem berüchtigten Pflaster zu, wo ein Gasthaus neben dem anderen stand. 〈…〉 Die anderen Wege nach Bornheim waren Fußpfade. Einer davon war östlich vom Hauptwege, etwa mit der ehemaligen Klickerbahn zusammenfallend; ein zweiter hatte die Richtung der heutigen Bergerstraße.“ (Frankfurter Lesebuch. Literarische Streifzüge durch Frankfurt von der Zeit der Gründung bis 1933. Hrsg. von Herbert Heckmann. Frankfurt a. M. 1985, S. 101.)

​Bornheim] Das im Nordosten des alten Frankfurt gelegene Dorf gehörte zu den der Stadt untertanen Dörfern; zwischen Stadt und Dorf verlief die Bornheimer Landstraße.

Art] „‚Wesen‘, ‚Sinn‘, ‚Charakter‘“ sowie im Sinne von „Gepflogenheit, Brauch, Sitte, Mode“ (GWb 1, 834 und 835).

euch alle] Unter anderen wohl Elisabeth und Charlotte Jacobi.

Wenn der Geist 〈…〉 vorschlagen.] Der Bezug dieser Sätze ist nicht geklärt. Folgende Spekulationen wurden bisher angestellt: Es sei „vermuthlich ein Weihnachtsgeschenk“ gemeint (Goethe-Fahlmer, 41). Oder: „Goethe sollte wohl ein Geschenk vorschlagen und etwas Poetisches dazu liefern. Dabei scheint einer der beiden Jacobi ‚sich prostituirt‘ zu haben.“ (DjG​2 6, 276, zu Nr 187.) Vielleicht gehe es um „ein Hochzeitsgeschenk für Cornelia, zu dem Goethe etwas Poetisches liefern und sich dabei nach einem Vorbild (a ​l'imitation) richten sollte.“ (DjG​3 3, 429.) Die „angedeutete Arbeit sollte sich wohl gegen die Jacobis wenden“ (ebd.; ähnlich auch FA/Goethe II 1, 846). Urlichs gibt zu bedenken: „Der ‚moralische Wortkram‘ scheint Wieland zu meinen.“ (Goethe-Fahlmer, 41.) Begründungen für diese Vermutungen werden nicht gegeben. Warum aber sollte Elisabeth Jacobi, die Frau Friedrich Heinrich Jacobis, in ihrem Brief an Goethe vom 9. Dezember 1773 (abgedruckt im Anschluss an die Erläuterungen zu Nr 73 ) schreiben: „〈…〉 allein mischen Sie doch auch den pot pourri, wenn Sie Mamachen 〈Elisabeth Jacobi〉 noch mehr Freude machen wollen 〈…〉“, wenn sich dieses Produkt gegen die Brüder Jacobi und Wieland richten sollte, zu deren Kreis auch Johanna Fahlmer gehörte? Warum sollte es sich – fast einen Monat nach Cornelias Hochzeit – noch um ein Geschenk zu deren Hochzeit handeln? Was eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich hat, ist lediglich Folgendes: Es geht um etwas Poetisches – in Nr 81 heißt es: eine Epopee ist nicht auf Einen Tag gereimt ( 62,11–12 ) –, vielleicht etwas Parodistisches, Satirisches gegen Moralischen Wortkram ( 55,17–18 ); sowohl im vorliegenden Brief als auch in Nr 81 ist von ‚Pot‘ und ‚Pot-pourri‘ die Rede, wobei Goethe mit der eigentlichen und uneigentlichen Bedeutung dieser Wörter zu spielen scheint. Auch das 55,16 erwähnte Meubel scheint damit in Verbindung zu stehen. In DjG​4 1, 663 wird vermutet: „Wahrscheinlich ein Geschenk zur Hochzeit 〈Cornelia Goethes〉, zu dem Goethe den ‚Geist‘ für passende Verse bemühen sollte.“

a l'imitation] Franz.: in Nachahmung.

der Moralische Wortkram] Ob dies auf den von Goethe seiner anakreontischen Lyrik und empfindsamen Prosa wegen verspotteten Johann Georg Jacobi gemünzt ist, sei dahingestellt. Zum Spott auf Herrn ​Jakobi und sein gutes Herz vgl. Goethes Rezension von Jacobis Schrift „Ueber das von dem Herrn Professor Hausen entworfne Leben des Herrn Geheimenrath Klotz“ (Halberstadt 1772) in den FGA (Nr 101 vom 18. Dezember 1772, S. 808), abgedruckt in der Erläuterung zu 75,17–18 .

prostituirt] Nach lat. prostituere: bloßstellen.

Pot-pourri] Französische Lehnübersetzung von span. olla podrida (Eintopf), wörtlich: Topf mit Verfaultem; hier übertragen im Sinne von: Mischmasch. Im 18. Jahrhundert hatte das Wort variierende Bedeutungen: „Allerleyessen“ (Zedler 28, 1834), wenn „verschiedene Fleisch- und Gemüsearten zusammengekocht“ werden (Binzer/Pierer 16, 647), aber auch: „Riechtopf, ein Gefäß mit getrockneten und eingesalzenen wohlriechenden Blumen und Kräutern“ (Schweizer 2, 647) und allgemein „Blumenschale“ (Deutsches Fremdwörterbuch 2, 625).

​Emblemen] Hier wohl allgemein: Sinnbildern.

Für die Romanze 〈…〉 Elsas mitbrachte.] Mit dem Begriff ‚Romanze‘ wird ursprünglich ein volkstümliches Erzähllied spanischer Herkunft bezeichnet, entstanden im 14./15. Jahrhundert. Die Trennung vom Begriff ‚Ballade‘ wird im 18. Jahrhundert nicht immer streng durchgeführt, obwohl sich die heitere, bunte ‚romanische‘ Romanze von der eher düster-ernsten ‚germanischen‘ Ballade unterscheiden lässt. – Wie der Kontext vermuten lässt, bezeichnet ‚Romanze‘ hier eine ‚volksliedhafte Ballade‘. Auf die Volkspoesie wurde Goethe von Herder aufmerksam gemacht. Während seiner Straßburger Zeit hatte Goethe im Juli und August 1771 mündlich überlieferte Volkslieder aus dem Elsass gesammelt (vgl. WA I 38, 236–254; DjG​3 2, 34–53); darüber berichtet er in seinem Brief an Herder von September 1771 (GB 1 I, Nr 89 ). Welche Romanze er von Johanna Fahlmer erhalten hatte, ist nicht bekannt. Unter den Liedern, die Goethe nach Düsseldorf schickte, befand sich das Lied „Vom plapperigen Junggesellen“ (vgl. Beilagen). Unter dem Titel „Vom plauderhafften Knaben“ hatte Goethe die Romanze mit elf weiteren Volksliedern Ende September 1771 an Herder geschickt (vgl. GB 1 II, Beilagen zu Nr 89 ).

Violingen] Die kleine Violine war zum Weihnachtsgeschenk für die Söhne Elisabeth Jacobis bestimmt (vgl. Nr 75 und 81 sowie Elisabeth Jacobis Brief an Goethe vom 9. Dezember, abgedruckt im Anschluss an die Erläuterungen zu Nr 73 ).

Packet] Was das Paket außer der „Merkur“-Rezension (vgl. die folgende Erläuterung) enthielt, ist nicht bekannt, wahrscheinlich Stoff oder Stoffmuster (vgl. die zweite Erläuterung zu 50,18 ; zu 53,18 ). Möglicherweise enthielt es auch Druckbogen von Jakob Michael Reinhold Lenz' Plautus-Nachdichtung „Das Väterchen“ (vgl. zu 51,24 ; zu 56,18–19 ).

Rezens. der hiesigen Zeit.] In den FGA (Nr 94 vom 23. November 1773, S. 773–777) war eine Rezension über den 2. Band von Wielands „Teutschem Merkur“ erschienen, in welcher dieser mit Ausnahme marginaler Einwendungen grundsätzlich lobend besprochen wird: „Die Idee, 〈…〉 nicht arithmetisch, sondern mit philosophischen Blicken das Ganze unsrer Litteratur in ihren verschiednen Fächern zu berechnen, macht diesem Theile des Merkur vorzüglich Ehre. Ich unterschreibe gern die gründlichen Raisonnemens des Verf. von dem Schreiben über die gegenwärtige historische Litteratur 〈Johann Georg Meusel〉 〈…〉.“ (S. 773.)

Deinet] Johann Conrad Deinet, Verleger der FGA.

der Merkur sagt] Im Juni-Heft des „Teutschen Merkur“ von 1773 wurde unter der „Fortsetzung der Nachrichten vom Zustande des teutschen Parnasses“, freilich ohne die FGA beim Namen zu nennen, mitgeteilt: „Kaum erschien im vorigen Jahre eine Zeitung, welche ein Beyspiel gab, daß sich in Zeitungen auch denken lasse, so verschwand sie in diesem Jahre wieder; vielleicht weil die Verfasser selbst verzweifelten, sich in ihrem überspannten Tone zu erhalten.“ (2. Bd. 3. Stück, S. 204.)

​Die Frfurter Zeit. sei 〈…〉 ​verschwunden] Die FGA waren zwar nicht eingestellt worden, hatten aber seit Ende 1772 Goethe, Merck und Schlosser als Mitarbeiter verloren (vgl. GB 1 II, zu 237,19–20 ).

en toutes lettres] Franz.: ausgeschrieben; hier: vollständig

Frömmlammsfreündlichkeit] Wortspiel wie im „Fastnachtsspiel 〈…〉 vom Pater Brey“ (Vers 225: Mayenlämmelein [DjG​3 3, 170; vgl. auch WA I 16, 68]) und im „Jahrmarktsfest zu Plundersweilern“ (1. Fassung, Vers 276: Hämmleins Lämmleins Liebesflammen [DjG​3 3, 144; vgl. auch WA I 16, 405]), das im Kontext des letztgenannten Stückes die pietistisch-frömmelnde Sprache parodiert. In Nr 86 heißt es ähnlich Herzlein Grus ( 68,2 ).

pag] Lat. pagina/franz. page: Seite.

sqq.] Abkürzung für lat. sequentes: folgende.

ich dancke Ihnen in Andres Seele] Goethe hatte sich für eine wohlwollende Aufnahme von Johann Andrés Oper „Der Töpfer“ in Wielands „Teutschem Merkur“ eingesetzt (vgl. zu 51,8–10 ). Johanna Fahlmer wollte ihm offenbar dabei behilflich sein.

Communikation der ​Meynungen über ​mich] Gemeint ist wohl die Mitteilung von Meinungen der Brüder Jacobi über Goethe, dessen Beziehungen zu dem Brüderpaar gespannt waren (vgl. zu 55,17–18 sowie die einleitenden Erläuterungen zu Nr 134 und 164 ).

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 72 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR072_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 55–56, Nr 72 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 149–154, Nr 72 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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