Goethes Briefe: GB 2, Nr. 60
An Ernst Theodor Langer

Frankfurt a. M. , 27. Oktober 1773. Mittwoch → 〈Braunschweig〉


Als ich meinen Götz herausgab, war das eine meiner angenehmsten Hoffnungen, meine Freunde, deren ich doch manchen in der weiten Welt habe, würden sich nach mir umsehen, und angenehmer sich mein erinnern als wenn ich eine lange unbedeutende Verbindung mit ihnen unterhalten hätte.

Und es ist eingetroffen. Ihr Brief 1 lieber Langer hat mir eine ausserordentliche Freude gemacht. Ich habe Sie nicht vergessen, und die Geschichte Ihres Lebens war mir unerwartet und höchst interessant. Mein Wandern hat keine grose Tagreisen gemacht. Ich binn fast immer auf diesem Fleckgeblieben. Meine Gesundheit nahm seit dem sie mich verliessen immer zu, aber weil sie mir doch nicht erlauben wollte, im Bürgerlichen Leben meine Rolle zu spielen, wie ich wohl wünschte, so hab ich dem Trieb der Wissenschafften und Künste ge/folgt, und nicht ehe geruht, biss ich glaubte mich darstellen zu dürfen. Ich habe sogleich an die Herzen des Volcks angefragt, ohne erst am Stapel der Critick anzufahren. Doch gesteh ich gern der Beyfall der mir worden ist überstieg meine Hoffnungen. Auch soll so lang Krafft in mir ist, sie nicht lässig werden, um ​ 2 mehr zu leisten.

In die bürgerlichen Geschäffte misch ​ 3 ich mich nach und nach, und auch da gibt mir der Genius auch gute Stunden.

Horn ist GerichtsSchreiber Adjunck worden. Das trägt ihm jetzt 300 f. wenn der Alte stirbt hat er 1000 f. und freye Wohnung. Er grüsst Sie ​ 4 vielmal.

Mellin ist vor wenigen Wochen nach Sachsen, in Condition als Hofmeister, bey einem Hℓ v. Zedtwiz denck ich, in der Gegend von Grosen Hayn. Er war hier lange ausser Kondition, vertrauerte und verlappte sich, und ist sehr gut, dass er wieder ins Leben kommen ist. /

Empfelen Sie mich Hℓ. Graf Marschall. Und behalten Sie mich lieb.

Wenn Sie nach Hannover kommen, besuchen Sie doch ia einen gewissen Archiv Sekretar ​Kestner , Sie werden an ihm und seiner Frau warme Freunde meiner finden ​ 5 . Ich sag Ihnen nichts weiter von dem Werth dieses Paars und von unsren Relationen.

Sollten Sie An Behrisch schreiben oder sonst ihn grüsen lassen, viel Grüse auch von mir.

Franckfurt am 27. Oktobr 1773.

Goethe.

  1. b ​Brief​ ↑
  2. und ​m ​ ↑
  3. mi× ​sch​ ↑
  4. s ​Sie​ ↑
  5. F ​finden​ ↑

H: FDH/FGM Frankfurt a. M., Sign.: 3. – Doppelblatt 11,6 × 19 (–19,2) cm, 2 ½ S. beschr., egh., Tinte.

E: Deutsche Reichs-Zeitung. Braunschweig 1850. Nr 1 (danach von Hermann Uhde gedruckt in: Hamburger Nachrichten. Morgen-Ausgabe. 1877. Nr 57 [vom 8. März]; ebenso bei Zimmermann [1883], 9 f. und Goethe-Langer [1922], 31 f., Nr 10).

WA IV 2 (1887), 114–116, Nr 176 (nach E).

Der Brief beantwortet einen nicht überlieferten Brief Langers (vgl. 48,1 ). – Der wahrscheinlich verspätete Antwortbrief ist nicht überliefert (vgl. zu 78,13–14 ).

Über das Verhältnis Goethes zu Ernst Theodor Langer vgl. die einleitende Erläuterung zum Brief vom 8. September 1768 (GB 1 II, Nr 43 ).

Als ich meinen Götz herausgab] Goethes Erstlingsdrama „Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand“, dessen erste Fassung bereits im November/Dezember 1771 entstanden war, erschien nach einer Umarbeitung im Juni 1773 ohne Angabe des Verfassers und des Ortes auf Mercks und Goethes eigene Kosten im Selbstverlag (vgl. zu 32,22 ; zu 37,6–7 ).

eine lange unbedeutende Verbindung mit ihnen] Wohl als Anspielung auf den seit längerer Zeit unterbrochenen Briefwechsel zu verstehen. Der letzte überlieferte Brief Goethes an Langer, der dem vorliegenden voranging, stammt vom 8. August 1771 (GB 1 I, Nr 86 ).

Ihr Brief] Nicht überliefert.

die Geschichte Ihres Lebens 〈…〉 interessant] Zum Zeitpunkt des letzten nachweisbaren brieflichen Kontaktes zwischen Goethe und Langer hatte dieser noch als Hofmeister des Grafen von Lindenau in Lausanne gelebt. Im September 1771 verließ Langer nach etwa zweijährigem Aufenthalt die Schweiz, um mit seinem damaligen Zögling in dessen Heimat nach Dresden zu reisen, wo er bis Mai 1772 blieb. Nach verschiedenen Zwischenstationen, darunter in Leipzig, hatte Langer Ende 1772 eine Hofmeisterstelle bei dem russischen Grafen Czernitschew in St. Petersburg angenommen, mit dem er sich im Mai 1773 wiederum auf Reisen begab. Ziel der Reise war zunächst Braunschweig und das Collegium Carolinum, damals eine Ausbildungsstätte besonders für junge Adlige, die nicht die Universität beziehen wollten. In Braunschweig hielten sich Langer und sein Zögling etwa vom Frühsommer 1773 bis Ende August 1774 auf. Wie seine Stammbücher belegen, suchte Langer auch an diesem Ort die Bekanntschaft von Künstlern und Gelehrten, darunter den Professoren des Carolinums. Mit Johann Joachim Eschenburg blieb er seit dieser ersten Braunschweiger Zeit lebenslang verbunden, auch seine persönliche Bekanntschaft mit Lessing datiert aus dieser Zeit (vgl. Zimmermann, 21–27).

Tagreisen] Die Strecke, die an einem Tag (in der Regel zu Fuß) bequem zurückgelegt werden konnte; Ende des 18. Jahrhunderts noch eine gebräuchliche Art der Entfernungsangabe (vgl. Adelung 4, 522).

Fleckgeblieben] Am Zeilenumbruch versehentlich durch Trennungszeichen zusammengeschrieben.

seit dem sie mich verliessen] Langer hatte auf seiner Reise von Leipzig nach Lausanne in Frankfurt Station gemacht und Goethe am 16./17. September 1769 besucht (vgl. GB 1 II, Datierung zu Nr 62 ).

der Beyfall der mir worden ist] Zur Aufnahme des „Götz“ vgl. zu 39,21–23 ; zu 47,6 .

lässig] Adverb zu lass: träge, ohne gebührenden Eifer; nach Adelung am Ende des 18. Jahrhunderts im Hochdeutschen bereits ungewöhnlich (vgl. Adelung 2, 1916).

In die bürgerlichen Geschäffte] Über Goethes Tätigkeit als Rechtsanwalt vgl. zu 32,16–17 .

Genius] Hier noch in der Bedeutung: eine den Menschen leitende schicksalhafte Macht (vgl. GWb 3, 1471).

Horn] Mit Goethes Frankfurter Jugendfreund Johann Adam Horn war Langer 1768 in Leipzig bekannt geworden; Langer hielt auch nach dem Weggang Goethes aus Leipzig noch Kontakt zu Horn (vgl. GB 1 I, 156,14 ; 179,24 ).

der Alte] Gemeint ist der Frankfurter Gerichtsschreiber Johann Georg Starck, dessen Helfer Horn am 18. Mai 1773 geworden war. Erst im Juli 1778, nachdem Starck gestorben war, erhielt Horn die Anstellung als Gerichtsschreiber (vgl. Pallmann, 76 f.).

Mellin] Johann Christian Mellin, ein Freund Langers, der zeitweise zum Kreis der Frankfurter Pietisten um Susanna von Klettenberg gehört hatte (vgl. auch GB 1 II, zu 131,22 ; zu 179,25 ).

v. Zedtwiz] Gutsbesitzer in Sachsen; um welches Mitglied der Familie von Zedtwitz es sich handelt, konnte nicht ermittelt werden.

Grosen Hayn] Gemeint ist die nordöstlich von Meißen gelegene Stadt Großenhain.

ausser Kondition] Ohne Anstellung.

verlappte sich] Verlappen, verläppern; wetterauisch-frankfurterisch: sein Vermögen vergeuden; hier auf das Talent Mellins bezogen.

Graf Marschall] Gemeint ist August Dietrich Graf von Marschall auf Burgholzhausen, Hofgerichtsassessor und Kammerherr in Braunschweig, der zum Bekanntenkreis Lessings gehörte. Er hatte zuvor in Leipzig studiert und stand dort in Verbindung zu Gellert; es ist anzunehmen, dass Langer ihn schon aus dieser Zeit kannte (vgl. GB 1 II, 302, Abb. 11). – Goethe stand in späteren Jahren auch in persönlicher Verbindung mit dem Grafen von Marschall, der von 1783 bis 1794 Besitzer des Ritterguts in Oßmannstedt war und in Weimar lebte.

nach Hannover kommen] Auf der Reise nach Paris, zu der Langer Ende August 1774 mit seinem Zögling aufbrach, machte er am 2. und 3. September 1774 Station in Hannover (vgl. Zimmermann, 27 f.).

Archiv Sekretar ​Kestner] Ob Langer tatsächlich die Bekanntschaft Johann Christian und Charlotte Kestners machte, lässt sich nicht belegen. Aus Hannover finden sich Eintragungen Johann Heinrich Jungs, Johann Adolf Schlegels und Johann Georg Zimmermanns in Langers Stammbuch (vgl. Zimmermann, 27 f.).

Relationen] Verbindungen. – Zur Beziehung Goethes zu Johann Christian und Charlotte Kestner vgl. GB 1 II, einleitende Erläuterungen zu Nr 99 und Nr 101 .

Behrisch] Ernst Wolfgang Behrisch lebte zu dieser Zeit in Dessau, wo er mit dem Titel eines Hofrats in den Diensten des Fürsten Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau stand. – Langer hielt die freundschaftliche Verbindung zu Behrisch, seinem Vorgänger als Hofmeister des Grafen von Lindenau in Leipzig, noch bis in dessen letzte Lebensjahre aufrecht (vgl. Zimmermann, 6 und 73 f.).

 

 
 

Nutzungsbedingungen

Kontrollen

Kontrast:
SW-Kontrastbild:
Helligkeit:

Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 60 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR060_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 47–48, Nr 60 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 124–127, Nr 60 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

Zurück zum Seitenanfang