Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 125
Von Johann Kaspar Lavater

30. September 1780, Zürich

| 1 |


   Das Weib, deßen Silhuette du mir
sandtest, lieber Goethe, ist allervörderst nicht
aus meiner Welt. Ist's allenfalls Klug, so
ist's nicht weise – Sie kann regieren. Ob-
gleich einwenig mehr fürchterliche Dumm-
heit anzeigte – so läßt mich doch die Abwe-
senheit dieses wenigmehr in Ungewißheit,
ob nicht hohe Klugheit, Sçavoir faire, Re-
gierungssucht und Kunst und Mätreße-
femmewesen einen Hauptzug dieses Charak-
ter, machen. Zärtliche Liebe, stille trinken-
den Blick, Andachts Bedürfniß, und sinken-
de Demuth hat dieß Gesicht gewiß nicht. Es
ist Carrikatur, Miswachs eines Großen Ge-
sichts – Ein Stein des Anstoßes, und ein
Fels der Ärgerniß für die Physiognomik.
Sie kann nur stammeln – "viele Sinnlichkeit u:
Miswachsne Größe!"


   Gegeben Zürich in unserm Haus zur
   Reblaube. den 30. Sept: 1780.
   Johann Caspar Lavater.

| 2 |


Mit der Geldes Angelegenheit wird es nun, hoff' ich,
bald in seine Richtigkeit gehen – vielleicht ehe du
diesen Brief hast.


Denke, mein Lieber, Br. und ich wollten einander
einen Rendezvous geben und die Unsterblichen
sandten Ephod Abaddon mit flammendem Schwert
zwischen uns – Nur eine halbe Stunde waren
wir von einander und aus Schuld des Boten, der
sich berauschte, reiste jedes wieder zurük. Was
du über sie sagst, that mir sehr wohl; ist Ihrer
und deiner würdig – und mir lüminös u:
heilig, wie's etwas in der Welt seyn kann.
Für alles, was du mir senden wirst, Dank zum
Voraus.


Vor dem bloßen in dir stehenden Gedanken
der Pyramide neige ich mein Haupt – und
glaube, eh ich sehe.


Der gute Landesvater. Dauert mich doch
oft herzlich, daß er sich oft mit dem bloß | 3 |
täuschenden "wir wollen sehen!" – aus seinen
Labyrinthen heraushelfen muß. An deiner
Seite seh ich ihn doch Herz gern Visitation
halten. Ich kann nicht mehr. Gott mit Dir


   
    Johann Caspar Lavater.


S:  Zentralbibliothek Zürich  D:  GL Nr. 89  B : 1780 September 20 (WA IV 4, Nr. 1021)  A : 1780 Oktober 13 (WA IV 4, Nr. 1027)  V:  Abschrift 

Charakterisierung einer von G. übersandten Silhouette einer weiblichen Person. - Zur Regelung der Geldes Angelegenheit zwischen L. und Herzog Karl August. - Ein beabsichtigtes Rendezvous mit M. A. von Branconi sei durch einen Zufall verhindert worden. - Vor G.s Gedanken der Pyramide neige L. sein Haupt. - L. bedauere Herzog Karl August, der sich oft mit dem bloß täuschenden 'wir wollen sehen!' - aus seinen Labyrinthen heraushelfen muß.

| 1 |

  Das Weib, deßen Silhuette du mir sandtest, lieber Goethe, ist allervörderst nicht aus meiner Welt. Ist's allenfalls Klug, so ist's nicht weise – Sie kann regieren. Obgleich einwenig mehr fürchterliche Dummheit anzeigte – so läßt mich doch die Abwesenheit dieses wenigmehr in Ungewißheit, ob nicht hohe Klugheit, Sçavoir faire, Regierungssucht und Kunst und Mätreßefemmewesen einen Hauptzug dieses Charakter, machen. Zärtliche Liebe, stille trinkenden Blick, Andachts Bedürfniß, und sinkende Demuth hat dieß Gesicht gewiß nicht. Es ist Carrikatur, Miswachs eines Großen Gesichts – Ein Stein des Anstoßes, und ein Fels der Ärgerniß für die Physiognomik. Sie kann nur stammeln – "viele Sinnlichkeit u: Miswachsne Größe!"

  Gegeben Zürich in unserm Haus zur  Reblaube. den 30. Sept: 1780.  Johann Caspar Lavater.

| 2 |

 Mit der Geldes Angelegenheit wird es nun, hoff' ich, bald in seine Richtigkeit gehen – vielleicht ehe du diesen Brief hast.

 Denke, mein Lieber, Br. und ich wollten einander einen Rendezvous geben und die Unsterblichen sandten Ephod Abaddon mit flammendem Schwert zwischen uns – Nur eine halbe Stunde waren wir von einander und aus Schuld des Boten, der sich berauschte, reiste jedes wieder zurük. Was du über sie sagst, that mir sehr wohl; ist Ihrer und deiner würdig – und mir lüminös u: heilig, wie's etwas in der Welt seyn kann. Für alles, was du mir senden wirst, Dank zum Voraus.

 Vor dem bloßen in dir stehenden Gedanken der Pyramide neige ich mein Haupt – und glaube, eh ich sehe.

 Der gute Landesvater. Dauert mich doch oft herzlich, daß er sich oft mit dem bloß| 3 | täuschenden "wir wollen sehen!" – aus seinen Labyrinthen heraushelfen muß. An deiner Seite seh ich ihn doch Herz gern Visitation halten. Ich kann nicht mehr. Gott mit Dir

    Johann Caspar Lavater.

 

 
 

Nutzungsbedingungen

Kontrollen

Kontrast:
SW-Kontrastbild:
Helligkeit:

Zitierhinweis

Online-Edition:
RA 1, Nr. 125, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0125_00138.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 125.

Zurück zum Seitenanfang