Goethes Briefe: GB 2, Nr. 57
An Heinrich Christian Boie

〈Frankfurt a. M. 〉, 16. Oktober 1773. Samstag → 〈Göttingen〉


Ihr Freund Schönborn ist ein fürtrefflicher Mann, mich freuts dass er sich s bey uns gefällt, und einige Tage bleibt. Wir treffen uns an mancherley Seiten, und das ist wohl das liebste was einem begegnen kann.

Ihre Blumenlese wird sich trutz dem Neid des hinckenden Götterboten erhalten, der nur für seine eigne Finanzen sorgen mag. Ueberrascht hat mich Bürgers ​Lenore da ist ein erstaunend Gefühl und Dicktion drinne. Besonders das ​reiten kann ich würcklich schon auswendig. Die Verzweifl. des Mädgens ist für mich um ein Paar Strophen zu diffus.

Der andren Gedichte liegen viel außer meinem Empfindungs Kreis, und das lass ich auch gerne liegen. /

Was mich noch besonders ergötzt hat ist der freye Ton ​ 1 und das warme deutsche Gefühl von Treue und Unabhangigkeit. Auch ist viel süsse Gefälligkeit der Liebe und Jugend Genusses mir entgegengekommen. Doch hab ich ihn nur flüchtig durchgesehn und das ist die garstigste Art so eine Sammlung zu brauchen. Ehstens will ich Ihnen allerley schicken, was Teils Bode von mir hat teils nicht. Jetzt binn ich sehr zerstreut, in hundert Sachen, und meiner Schwester Hochzeit mit dem Hofrath Schlosser nähert sich. Leben Sie wohl.

Goethe.

am 16. Okbr. 1773. /


Dancken Sie Ihrem Freunde für seine warmen Gesinnungen. Ich freue mich, mir die Liebe vieler guten und edlen durch mein Stück erworben zu haben. Weiter wünscht ich nichts.

So eben Treff ich auf Klopst. ​Weissagung . Es ist herrlich.

  1. × ​Ton​ ↑

H: Bibliotheca Bodmeriana Cologny-Genève, Sign.: Goethe A II Ms. – Doppelblatt 19,2 × 11,7 cm, 2 ⅓ S. beschr., egh., Tinte. – Faksimile: Neue Zürcher Zeitung, Nr 199 vom 28./29. August 1982, S. 69.

E: Hans-J. Weitz: Ein Brief des jungen Goethe. In: Neue Zürcher Zeitung, Nr 199 vom 28./29. August 1982, S. 69. – Ein Teil des Briefes ( 44,20–45,2 Ueberrascht 〈…〉 diffus. und 45,15–18 Dancken Sie 〈…〉 herrlich.) wurde zuvor in französischer Übersetzung veröffentlicht in: Gœthe 1749–1832. Exposition organisée pour commémorer le centenaire de la mort de Gœthe. Éditions des Bibliothèques Nationales de France 1932 〈Katalog der Goethe-Ausstellung in der Bibliothèque Nationale Paris〉, S. 60.

WAN 1 (WA IV 51; 1990), 46 f., Nr 172a.

Der Brief beantwortet ein nicht überliefertes Empfehlungsschreiben Boies für Schönborn (vgl. dessen Bericht an Heinrich Wilhelm von Gerstenberg vom 12. Oktober 1773; BG 1, 239). – Ein Antwortbrief ist nicht bekannt.

Ihr Freund Schönborn] Gottlob Friedrich Ernst Schönborn (zur Person vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 123 ). Er war etwa am 10. Oktober in Frankfurt eingetroffen und reiste vor dem 18. Oktober wieder ab. Das geht aus Nr 59 hervor; dort ist von Schönborns Besuch in der Vergangenheitsform die Rede (vgl. 46,16–18 ).

Ihre Blumenlese] Boies Göttinger „Musen Almanach“ auf das Jahr 1774, welcher im Anschluss an das Kalendarium die „Poetische Blumenlese auf das Jahr 1774“ enthält (S. 1–233).

Neid des hinckenden Götterboten] Anspielung auf die verzögerte Erscheinungsweise von Wielands „Teutschem Merkur“, über die sich Goethe auch in Nr 59 lustig macht (vgl. 47,10–11 ): Mercurius, griech. Hermes, war in der griechischen Mythologie der auf schnellen Flügelschuhen von den Göttern zu den Menschen eilende Bote. – In Wielands Zeitschrift war Boies Almanach auf das Jahr 1773 von Christian Heinrich Schmid kritisch rezensiert worden (1. Bd. 2. Stück. Februar 1773, S. 163–184). Der Rezensent mahnt den Herausgeber, auf „Vollkommenheit“ zu achten, und rät: „〈…〉 sein gutes Herz möcht' ihn von der gehörigen Strenge, bey der Wahl der einzurückenden Gedichte, nicht ablenken. An seiner Stelle, würd' ich meine Sammlung um den vierten Theil verringern, und dieselbe so einrichten, daß ein kleines Plätzchen darinn nicht viel weniger, als ein Lorbeerkranz, wäre.“ (S. 183 f.) Boie hatte sich in einem Brief an Johann Wilhelm Ludwig Gleim vom 11. Oktober 1773 verärgert gezeigt über den „Ton de superiorité 〈…〉, mit dem der Merkur spricht“, und darüber, dass er von diesem wie ein „Schulknabe“ behandelt werde (in: Zeitschrift für deutsche Philologie 27 [1895], 525). Offenbar hatte Boie sich im nicht überlieferten Bezugsbrief ähnlich geäußert.

für seine eigne Finanzen sorgen] Gemeint ist wohl, Wieland und der „Merkur“ sollten sich um ihre eigene „Vollkommenheit“ kümmern (vgl. die vorhergehende Erläuterung und Goethes Urteil über das Journal im Brief an Johann Christian und Charlotte Kestner vom 15. September 1773 (vgl. 41,33–42 ,3).

Bürgers ​Lenore] Gottfried August Bürgers Ballade „Lenore“ war in Boies Almanach erstmals erschienen (S. 214–226).

das ​reiten] In der zweiten Hälfte der Ballade wird Lenores Ritt mit dem Tod geschildert. „Hurrah! die Todten reiten schnell! – – / Graut Liebchen auch vor Todten?“ (S. 221) lauten zwei sich refrainartig wiederholende Verse.

Was mich 〈…〉 Unabhangigkeit.] In Boies Almanach waren neben Bürger u. a. auch Christian und Friedrich Leopold zu Stolberg, Johann Heinrich Voß, Ludwig Heinrich Hölty und Klopstock vertreten; diesen Dichterkreis habe, so schrieb Goethe später im 12. Buch von „Dichtung und Wahrheit“, das Bedürfniß der Unabhängigkeit und Freyheitssinn ausgezeichnet (AA DuW 1, 441 und 442).

ihn] Gemeint ist der „Musen Almanach“.

allerley] Nicht ermittelt.

was Teils Bode von mir hat] Goethe hatte Gedichte für den von Johann Joachim Christoph Bode herausgegebenen „Wandsbecker Bothen“ an dessen Redaktor Matthias Claudius nach Hamburg geschickt. Ein Begleitbrief ist nicht überliefert (vgl. EB 12 ). Mitte Dezember 1773 schrieb Claudius an Herder: „Herr Goethe in Frankfurth hat sie 〈drei elsässische Balladen〉 mir, auf Ersuchen meines Bekannten und Freundes Schönborn, der auf seiner Reise nach Algier durch Frankfurth gieng und Hℓ Goethe kennen gelernt hat geschickt.“ (H: GSA, Sign.: 44/50; vgl. auch Matthias Claudius: Briefe an Freunde. Hrsg. von Hans Jessen. Bd 1. Berlin 1938, S. 94.) Im „Wandsbecker Bothen“ erschienen 1773/74 drei der von Goethe gesammelten elsässischen Volkslieder: „Das Lied vom Herrn von Falckenstein“ (Nr 192 vom 1. Dezember), „Das Lied vom verkleideten Grafen“ (Nr 198 vom 11. Dezember) und „Das Lied vom braun Annel“ (Nr 5 vom 8. Januar); die komplette Sammlung ist gedruckt in: DjG​3 2, 34–53. Außerdem wurden 1773/74 noch folgende Gedichte Goethes veröffentlicht: „Catechetische Induction“ (Nr 171 vom 26. Oktober; später unter dem Titel „Katechisation“ [vgl. WA I 2, 262]), „Ein Gleichniß“ (Es hatt' ein Knab 〈…〉) (Nr 173 vom 29. Oktober [DjG​3 3,70 f.]; später unter dem Titel „Dilettant und Kritiker“ [vgl. WA I 2, 205]), „Der Welt Lohn“ (Nr 202 vom 18. Dezember; die Verfasserschaft Goethes ist zweifelhaft [vgl. WA I 5.2, 238]), „Ein Gleichniß“ (Ueber die Wiese 〈…〉) (Nr 37 vom 5. März [DjG​3 3, 71 f.]; später unter dem Titel „Autoren“ [vgl. WA I 2, 203]), „Da hatt ich einen Kerl zu Gast 〈…〉“ (Nr 39 vom 9. März [DjG​3 3, 72]; später unter dem Titel „Recensent“ [vgl. WA I 2, 205]). Die beiden letzten Gedichte erschienen auch im Göttinger „Musen Almanach“ auf das Jahr 1775 (S. 39 und 59).

meiner Schwester Hochzeit mit dem Hofrath Schlosser] Cornelia Goethes Hochzeit mit Johann Georg Schlosser fand am 1. November 1773 statt.

Ihrem Freunde] Schönborn.

mein Stück] „Götz von Berlichingen“; Schönborn hatte mit Goethe über das Drama gesprochen. An Heinrich Wilhelm von Gerstenberg berichtet er in seinem Brief vom 12. Oktober 1773: „Er 〈Goethe〉 freute sich ungemein da ich ihm sagte daß Sie sehr mit seinem Stük zufrieden gewesen. Ihr u Klopstoks Urtheil habe er längst gerne vernehmen mögen u es solle ihn anfeuren es noch beßer zu machen; denn er wiße sehr wohl wie weit er unter seinem Ideal geblieben.“ (H: FDH/FGM; vgl. auch BG 1, 239.)

Klopst. ​Weissagung] Goethe fand als letzten Beitrag des Göttinger „Musen Almanachs“ auf das Jahr 1774 Klopstocks Ode „Weissagung. An die Grafen Christian und Friedrich Leopold zu Stolberg“ (S. 231–233), deren Schlussverse lauten:

〈…〉 Frey, o Deutschland, Wirst du dereinst! Ein Jahrhundert noch; So ist es geschehen, so herrscht Der Vernunft Recht vor dem Schwertrecht!

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 57 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR057_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 44–45, Nr 57 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 116–118, Nr 57 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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