Goethes Briefe: GB 2, Nr. 48
An Johann Christian Kestner

〈Frankfurt a. M. , Mitte Juli 1773〉 → 〈Hannover〉


Ihr sollt immer hören wie mirs geht lieber Kestner. Denn zum Laufe meines Lebens hoff ich immer auf euch und euer Weib ​ 1 die Gott seegne und ihr solche Freuden gebe als sie gut ist. Euch kanns an Beförderung nicht fehlen. Ihr seyd von der Art Menschen die auf der Erde gedeyen und wachsen, von den gerechten Leuten und die den Herren fürchten ​ 2 , darob er dir auch hat ein tugendsam Weib gegeben Des lebest du noch eins so lange.

Ich binn recht fleissig und wenns glück gut ist kriegt ihr bald wieder was, auf eine andre Manier. Ich wollt Lotte wäre nicht gleichgültig gegen mein Drama. Ich hab schon vielerley Beyfalls Kränzlein von allerley Laub und Blumen, Italienischen / Blumen sogar, die ich wechselsweise aufprobiret, und mich vorm Spiegel ausgelacht habe. Die Götter haben mir einen Bildhauer hergesendet, und wenn er hier Arbeit findet wie wir hoffen so will ich viel vergessen. Heilige Musen reicht mir das Aurum potabile , Elixir Vitae aus euern Schaalen, ich verschmachte. Was das kostet in Wüsten Brunnen zu graben und eine Hütte zu Zimmern. Und meine Papogeyen die ich erzogen habe, die schwätzen mit mir, wie ich, werden kranck lassen die Flügel hängen. Heut vorm Jahr wars doch anders, ich wollt schwören in dieser Stunde vorm Jahr sass ich bey Lotten. Ich bearbeite meine Situation zum Schauspiel zum Trutz Gottes und der Menschen. Ich weis was / Lotte sagen wird wenn Sies zu sehn kriegt und ich weis was ich ihr antworten werde. Hört wenn ihr mir wolltet Exemplare vom ​Götz verkauffen ihr thätet mir einen Gefallen und vielleicht allerley Leuten. Boje hat ihrer, schreibt ihm wieviel ​ 3 ihr wollt, ich habs ihm geschrieben euch abfolgen zu lassen soviel ihr wollt. Verkauft sie alsdenn für zwölf gute groschen und Notirt das porto das sie euch kosten. Der Verlag hört Mercken, der ist aber in Petersburg, ich schicke mich nicht zum Buchhändler, ich fürchte es bleibt hocken. denn vielleicht kommt sonst in einem halben Jahr noch kein Exemplar zu euch. Schreibt mir doch wo ich die zweyten Stücke des Merkurs hinschaffen und wo ich s Geld herkriegen soll. / Wenn verschiedne Sachen ​ 4 nach meinem Kopfe gehn kriegt Lotte bald eine Schachtel von mir wo keine Confi turen drinne sind, auch kein Putzwerck, auch keine Bücher, also –

Lassts euch wohl seyn, mich ergötzt eure Genüglichkeit und eure Aussichten. Und wenn euch was dran liegt von mir zu hören, so lasst von euch offt hören. Adieu.

  1. l ​Weib​ ↑
  2. fürchtet ​n ​ ↑
  3. s ​wieviel​ ↑
  4. sch ​Sachen​ ↑

Die Datierung folgt Kestners Empfangsvermerk unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der Brief als Beischluss zu Nr 49 über Wetzlar gesandt wurde.

H: GSA Weimar, Sign.: 29/264,I,2, Bl. 43–44. – Doppelblatt 11,3 × 18,5 cm, 3 ½ S. beschr., egh., Tinte; S. 1 oben links Empfangsvermerk, Tinte: „Acc. H. 21/7 73.“ – Beischluss zu Nr 49 (vgl. die erste Erläuterung zu 37,22 ).

E: Goethe und Werther​1 (1854), 173–175, Nr 78.

WA IV 2 (1887), 96–98, Nr 162.

Der Brief beantwortet einen nicht überlieferten Brief Kestners (vgl. zu 36,10–11 ). – Der Antwortbrief (vgl. zu 38,22 ) ist nicht überliefert.

an Beförderung nicht fehlen] Wahrscheinlich bezieht sich Goethe hier auf einen nicht überlieferten Brief Kestners, in dem dieser seine Hoffnung auf Beförderung geäußert hatte. – Die Stellung als Archivregistrator brachte nur 350 Taler ein, weshalb das junge Paar zunächst auf einen eigenen Hausstand verzichten und Quartier bei Kestners Mutter nehmen musste. Die mit dem Amt verbundenen Verpflichtungen hielten sich in der Anfangszeit in Grenzen, so dass es Kestner erlaubt war, nebenbei als Rechtsanwalt zu arbeiten. Allerdings fehlte es ihm dafür nach der langen Abwesenheit von Hannover an den nötigen Verbindungen. – Obgleich Kestner sein Amt viele Jahre gewissenhaft versah und dafür auch befördert und in gewisser Weise belohnt wurde, z. B. durch ein so genanntes bürgerliches Lehen, das ihm zusätzliche Pachteinnahmen von etwa 150 Taler jährlich einbrachte, blieb ihm die Stelle des Archivars doch zeitlebens versagt. Dieser weit einträglichere Posten wurde einem Mitglied der Regierung als Nebenamt übertragen (vgl. Ulrich, Charlotte Kestner, 78 und 121).

hat ein tugendsam Weib 〈…〉 so lange] Vgl. Sirach 26,1: „Wohl dem, der ein tugendsam Weib hat, deß lebet er noch eins so lange.“ (Luther-Bibel 1768 Apokryphen, 73.) Das Zitat findet sich wörtlich im „Götz von Berlichingen“ (vgl. DjG​3 3, 183; ebenso in dessen erster Fassung, vgl. DjG​3 2, 96).

andre Manier] Gemeint sein könnte die dramatische Prometheusdichtung. Teile des „Prometheus“, der nur als Fragment überliefert ist, müssen spätestens Anfang Oktober vorgelegen haben, wie aus dem Brief Gottlob Friedrich Ernst Schönborns aus Frankfurt an Heinrich Wilhelm von Gerstenberg vom 12. Oktober 1773 hervorgeht: „Er 〈Goethe〉 scheint mit ausnehmender Leichtigkeit zu arbeiten. jezo arbeitet er an einem Drama Prometheus genannt, wovon er mir zwey Acte vorgelesen hat, worin gantz vortrefliche aus der tieffen Nathur gehobne Stellen sind (ich urtheile wie es mir beym ersten Vorlesen vorkam).“ (H: FDH/FGM; zur Entstehung vgl. DjG​3 3, 466–470.) Für die Annahme, dass der „Prometheus“ gemeint ist, spricht auch, dass Goethe im Folgenden mehrfach zumindest indirekt darauf Bezug nimmt (vgl. zu 36,19–20 ).

mein Drama] Dem Kontext nach ist dies „Götz von Berlichingen“, dessen Erstdruck Goethe kurz zuvor an Kestner übersandt hatte (vgl. Beilage zu Nr 42 ).

Italienischen Blumen] Bezeichnung für künstliche Blumen („Putzblumen“) aus Seide, Leinen, Federn und anderem Material, die bis ins 18. Jahrhundert fast ausschließlich in Italien und Frankreich hergestellt wurden (vgl. Waaren-Lexikon 1, 125). – Eine Erklärung gibt Goethe selbst in „Dichtung und Wahrheit“: Meine Schwester, die sich zu einem Balle vorbereitete, bat mich ihr bey einer Galanterie-Händlerinn sogenannte italiänische Blumen zu holen. Sie wurden in Klöstern gemacht, waren klein und niedlich. Myrten besonders, Zwergröslein und dergleichen fielen gar schön und natürlich aus. (AA DuW 1, 149 [5. Buch].)

Die Götter 〈…〉 Bildhauer hergesendet] Dem Kontext nach ist dies als Anspielung auf den ,Menschenbildner‘ Prometheus zu verstehen (so auch bei Fischer-Lamberg; vgl. DjG​3 3, 422, Nr 173, zu 41,19); vgl. auch die folgende Erläuterung. – In einer zeitgenössischen Quelle, „Benjamin Hederichs gründlichem mythologischen Lexicon“, findet sich die folgende Beschreibung, die vermutlich auch die Gestaltung des 1. Aktes des „Prometheus“-Dramas beeinflusst hat: „Man sieht seine Bildung der Menschen, nebst verschiedenen andern Vorstellungen, noch auf einem alten Denkmaale. Er sitzt daselbst mit einem um den Leib geschlagenen Gewande, das ihm sonderlich den untern Theil bedecket. Neben sich hat er einen Korb mit Thone, und vor sich ein schon verfertigtes Menschenbild stehen. Ein anderes dergleichen hält er mit der linken Hand auf dem Schooße vor sich, und scheint solches mit dem in der rechten Hand habenden Meissel auspoliret zu haben. Minerva steht hinter diesem Bilde und setzet ihm einen Schmetterling auf den Kopf, dessen Beseelung anzudeuten.“ (Beschreibung eines Reliefs nach einer Abbildung bei Bernard de Montfaucon; Hederich, 2092.) – Im 15. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ beschreibt Goethe seine Annäherung an den Prometheus-Mythos im Zusammenhang (vgl. AA DuW 1, 526 f.).

Heilige Musen 〈…〉 euern Schaalen] Im 18. Jahrhundert wurde das Elixir vitae noch mit der alchemistischen Goldmacherei und dem dabei verwendeten Aurum potabile in Verbindung gebracht (vgl. die folgenden Erläuterungen). Die aus der alchemistischen Tradition stammenden Begriffe wurden im übertragenen Sinne auch von den Pietisten gebraucht. – Hier gemeint als Bitte an die Musen um die Leben spendende Kraft der künstlerischen Produktivität. – Das ‚Wasser des Lebens‘ begegnet auch im „Prometheus“-Fragment. Am Schluss des 1. Aktes führt Minerva Prometheus zum Quell des Lebens all (DjG​3 3, 329, Vers 200), mit dessen Hilfe er seine Geschöpfe zum Leben erweckt.

Aurum potabile] Lat. ‚Trinkgold‘, ‚flüssiges Gold‘, ein alchemistisches Allheilmittel (Panacea). – Mit einem alchemistischen Wundermedikament war Goethe selbst 1769 von dem Frankfurter Arzt Johann Friedrich Metz behandelt worden (vgl. GB 1 II, zu 130,15–16 ).

Elixir Vitae] Lat. ‚Lebens-Elixier‘; Wasser mit Leben verlängernder, Leben spendender Wirkung; in dieser Form sonst nicht mehr bei Goethe belegt (vgl. auch GWb 1, 1092 und 4, 44).

in Wüsten 〈…〉 Zimmern] Erinnert in der Diktion an die Sprache des Alten Testaments; möglicherweise in Anlehnung an 2 Chronik 26,10 geschrieben: „Er bauete auch Schlösser in der Wüsten, und grub viel Brunnen 〈…〉.“ (Luther-Bibel 1768 AT, 869.) – Das Motiv des Hüttenbaus begegnet im 2. Akt des „Prometheus“ (vgl. DjG​3 3, 331, Verse 250–266).

Und meine Papogeyen 〈…〉 hängen.] Wahrscheinlich sind die Gestalten der künstlerischen Phantasie oder überhaupt die eigenen literarischen Schöpfungen gemeint; möglicherweise in Anspielung auf Wielands „Beyträge zur Geheimen Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens“, zuerst 1770 in Leipzig erschienen. Im 1. Buch des 1. Teils wird die Geschichte des jungen Mexikaners Koxkox erzählt, der, auf einer Insel lebend, mit der Gesellschaft von Papageien vorliebnehmen muss, von denen er einen zu seinem Gesellschafter macht und ihm das Sprechen beibringt: „Koxkox und sein Papagey waren nunmehr im Stande, Gespräche mit einander zu führen, die zum wenigsten so witzig und interessant waren, als es die Conversation in gewissen modernen Gesellschaften ist, wo derjenige sehr wenig Lebensart verrathen würde, welcher mehr Zusammenhang und Sinn darein bringen wollte, als in der Unterhaltung mit einem Papagey ordentlicher Weise zu seyn pflegt.“ (Christoph Martin Wieland: Beyträge zur Geheimen Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens. Aus den Archiven der Natur gezogen. Reutlingen 1776, S. 25 f. [1. Teil, 1. Buch, 4. Kapitel].)

Ich bearbeite meine Situation 〈…〉 Menschen.] Damit könnte wiederum die Arbeit am „Prometheus“-Drama gemeint sein. Aufgrund des unmittelbaren Kontextes ist aber auch nicht völlig auszuschließen, dass Goethe den „Werther“-Stoff in dieser Zeit dramatisch behandeln wollte (vgl. zu 24,30 ).

Exemplare vom ​Götz verkauffen] Gemeint ist der Erstdruck des „Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand“, der soeben anonym im Selbstverlag Mercks unter Goethes Beteiligung erschienen war (vgl. Hagen, 102, Nr 46).

ihr thätet mir einen Gefallen] Das Erscheinen des „Götz von Berlichingen“ im Selbstverlag brachte es mit sich, dass Goethe, der nach Mercks Abreise (vgl. 37,6 ) allein für den Vertrieb zuständig war, Versand und Verkauf selbst organisieren musste.

ich habs ihm geschrieben] Vgl. 35,9–10 .

porto] Ital.: Fracht; im 18. Jahrhundert ist damit die Gebühr gemeint, die beim Empfang eines Briefes beglichen werden musste; im Unterschied zu ‚franco‘, der Gebühr, die bei der Absendung bezahlt wurde.

hört] Hören; hier: gehören. Noch bis ins späte 18. Jahrhundert war ‚hören‘ als Nebenform zu ‚angehören‘, ‚zugehören‘ gebräuchlich (vgl. Grimm 4 II, 1811).

in Petersburg] Merck war am 6. Mai 1773 im Gefolge der Landgräfin Karoline von Hessen-Darmstadt als deren Rechnungsführer nach St. Petersburg aufgebrochen (vgl. zu 25,19 ).

ich schicke mich nicht zum Buchhändler 〈…〉 hocken] Wenngleich sich Goethes Befürchtung, das Buch könnte liegen bleiben, als unbegründet erweisen sollte, wurde es verlegerisch für Merck und Goethe kein Erfolg. Dies belegt auch Goethes Bericht über die Drucklegung des „Götz“ im 13. Buch von „Dichtung und Wahrheit“: Wir vollendeten das Werk, und es ward in vielen Packeten versendet. Nun dauerte es nicht lange, so entstand überall eine große Bewegung; das Aufsehn das es machte, ward allgemein. Weil wir aber, bey unsern beschränkten Verhältnissen, die Exemplare nicht schnell genug nach allen Orten zu vertheilen vermochten, so erschien plötzlich ein Nachdruck; und da überdieß gegen unsere Aussendungen freylich sobald keine Erstattung, am allerwenigsten eine baare, zurückerfolgen konnte: so war ich, als Haussohn, dessen Casse nicht in reichlichen Umständen seyn konnte, zu einer Zeit, wo man mir von allen Seiten her viel Aufmerksamkeit, ja sogar vielen Beyfall erwies, höchst verlegen, wie ich nur das Papier bezahlen sollte, auf welchem ich die Welt mit meinem Talent bekannt gemacht hatte. Merck, der sich schon eher zu helfen wußte, hegte dagegen die besten Hoffnungen, daß sich nächstens alles wieder in's Gleiche stellen würde; ich bin aber nichts davon gewahr worden. (AA DuW 1, 472 f.) – Zur Druckgeschichte des „Götz von Berlichingen“ vgl. Hagen, 102–104, Nr 46–56.

die zweyten Stücke des Merkurs] Gemeint sind Exemplare des 2. Bandes (1.–3. Stück. April–Juni 1773) von Wielands „Teutschem Merkur“, der 1773 und 1774 quartalsweise erschien (vgl. zu 6,4–5 ).

Wenn verschiedne Sachen 〈…〉 also — ] Als Anspielung auf Lottes Schwangerschaft zu verstehen, weshalb ihr Goethe ein Negligee zum Geschenk machen wollte (vgl. 49,1–4 ).

Genüglichkeit] Vergnügtheit, Heiterkeit; von oberdt. genüglich: angenehm, Vergnügen erweckend.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 48 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR048_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 36–37, Nr 48 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 95–99, Nr 48 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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