Goethes Briefe: GB 2, Nr. 36
An Sophie La Roche

Frankfurt a. M. , 12. Mai 1773. Mittwoch → 〈Ehrenbreitstein bei Koblenz〉


Ich schreibe Ihnen diesmal nur in Handlungs Speditions Sachen, Merck und Compℓ. Hier sind zwölf Exempl. Ossian. Das eine der geheffteten bittet er Sie anzunehmen.

Leysering wird Ihnen wunderbaare Geschichten erzälen, und auch ich habe ​ 1 Ihnen viel zu sagen; so bald s ruhig um mich ist, wird mirs aller Trost seyn Ihnen schreiben zu können, wie ich mich auch mit der Hoffnung nähre Sie noch diesen Sommer zu sehn. Denn ich binn allein ​ 2 , allein, und werd es täglich mehr. Und doch wollt ich s tragen, Dass Seelen die für einan/der geschaffen sind, sich so selten finden, und meist getrennt werden. Aber dass sie in den Augenblicken der glücklichsten Vereinigung sich eben am meisten verkennen! das ist ein trauriges Rätzel. Erneuen Sie mein Andencken unter den Ihrigen, mit denen Sie so glücklich leben, und in dem Herzen Ihres teuern Abwesenden. Geschr. Frfurt. am 12 May. 1773.

Goethe.

  1. habe n ​ ↑
  2. binn an ​llein​ ↑

H: GSA Weimar, Sign.: 29/294,I, Bl. 5–6. – Doppelblatt 11,4 × 16 cm, 1 ¾ S. beschr., egh., Tinte, sorgfältig geschrieben.

E​1: Katalog der Goethe-Ausstellung 1861. Berlin 1861, S. 26, Nr 93 (Teildruck: 28,14–19 ich binn allein 〈…〉 Rätzel.).

E​2: Frese (1877), 141 f., Nr 3.

WA IV 2 (1887), 87 f., Nr 152 (nach Goethe-La Roche, 13 f.; Textkorrektur nach H in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 207).

12 Exemplare des 1. Bandes der „Works of Ossian“ (vgl. 28,9 ).

Ein Bezugs- und ein Antwortbrief sind nicht bekannt.

Merck und Compℓ.] Merck und Goethe gaben im Selbstverlag die Werke Ossians (James Macphersons) heraus: Works of Ossian. 4 Bde. Frankfurt a. M. und Leipzig 1773–1777 (Bd 3–4 erschienen bei Johann Georg Fleischer). Band 1 enthält eine von Goethe radierte Titelvignette (vgl. Corpus VIb, 95, Nr 272).

Hier sind zwölf Exempl.] Sophie La Roche sollte ihre weitverzeigten Beziehungen nutzen, um die Ausgabe zu verbreiten.

Leysering] Franz Michael Leuchsenring (vgl. die folgende Erläuterung sowie zu 28,16–19 ).

wunderbaare Geschichten] Was gemeint ist, lässt sich im Einzelnen nicht sagen. Doch geht es wohl um Geschichten und Kolportagen, die Goethe zu seinem „Fastnachtsspiel 〈…〉 vom Pater Brey“ veranlassten, das im Frühjahr 1773 (vor Herders Hochzeit am 2. Mai) entstanden war, nachdem er während seiner Aufenthalte in Darmstadt 1772/73 Leuchsenrings intrigantes und indiskretes Wesen kennen gelernt hatte.

ich binn allein, allein] Über Einsamkeit hatte Goethe auch in Brief Nr 30 geklagt (vgl. 25,18–21 ).

Dass Seelen 〈…〉 Rätzel] Vermutlich spielt Goethe auf Spannungen in seinem Freundeskreis während seines Aufenthalts in Darmstadt vom 15. April bis zum 3. Mai an. Vor allem mit Herder und seiner Frau kam es zu einem vorübergehenden Bruch und zur Unterbrechung des Briefwechsels bis 1775. Veranlasst wurde dies nicht nur durch Indiskretionen Leuchsenrings, sondern auch durch die Verärgerung Herders über Goethes Farce „Pater Brey“, in der er sich und seine Frau (in den Figuren des Hauptmanns Balandrino und der Leonora) karikiert sah. Die Farce war vermutlich am 1. Mai, zum Polterabend vor Herders Hochzeit, aufgeführt worden. Auch in Nr 34 deutet Goethe etwas von Spannungen an (vgl. zu 27,17 ).

Ihrigen] Über Sophie La Roches Kinder vgl. GB 1 II, zu 244,21 .

Ihres teuern Abwesenden] Sophie La Roches Mann Georg Michael Anton hielt sich im Frühjahr und Sommer 1773 als kurtrierischer Gesandter in Wien auf (vgl. Rudolf Asmus: G. M. de La Roche. Ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung. Karlsruhe 1899, S. 115).

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 36 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR036_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 28, Nr 36 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 64–65, Nr 36 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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