Goethes Briefe: GB 2, Nr. 21
An Johann Gottfried Roederer

〈Frankfurt a. M. , Ende März 1773?〉 → 〈Straßburg〉

〈Druck〉


So gut ich weis, lieber Freund, daß schweigen besser ist als viel reden, so gesteh ich Ihnen doch gerne, daß ich mir Ihr allerseitiges Stillschweigen nicht ganz vorteilhafft ausgelegt habe. Hr. ​Wunschold kann Ihnen sagen, daß Ihr Brief mich überrascht hat, ich danke Ihnen für die Bekanntschafft dieses lieben Mannes. Daß Sie in Ihren eiffrigen Bemühungen fortfahren würden, hatte ich keinen Zweifel, und daß Sie in ecclesia pressa die Griechen fortstudiren, das traut ich Ihrem Herzen zu; doch hab ich immer gewünscht zu hören wie und was. Es würde mich aufmuntern, ich würde aufhören so ganz allein zu seyn wie ich hier binn. Wenn ich Ihrer viere hier hätte, nur drey, auch wollt ich noch tiefer herunter zu kapituliren, es sollte viel anders seyn. Denn so wie Deukalion über den fruchtbaaren Boden der unendlichen Erden hinzusehen, und doch eines Geschlechts zu ermangeln – Wenn einem da der Genius nicht aus Steinen und Bäumen Kinder erweckte, man möchte das Leben nicht.

In der Nachbarschafft hab ich einen werthen Freund und das απαμειβειν unsrer tähtigkeit erhält uns beyde.

Die bildenden Künste haben mich nun fast ganz. Was ich lese und treibe tuh ich um ihrentwillen, und lerne täglich mehr, wie viel mehr wehrt es in allem ist, am kleinsten die Hand anlegen und sich bearbeiten, als von der vollkommensten Meisterschafft eines andern kritische Rechenschafft zu geben. Ich habe das in meiner Bauk. und anders wo von Herzen gesagt, und ich weiß daß das Wort, an jungen warmen Seelen, die im Schlamme der Theorien und Literaturen noch nicht verlohren sind fassen wird. Mich freut von Herzen, daß Sie Anteil dran nehmen, wie offt hab ich im Schreiben an Sie alle gedacht denn ich war ganz wieder um den Münster in meiner Wonne. Hier schick ich Ihnen der biblischen Fragen vier Ex. sie sind hier nicht zu haben und auch 1. Bauk. Und binn nun weitläuffig genug gewesen über mich, um Sie zu locken und Ihre Freunde deßgleichen zu tuhn. Grüßen Sie mir sie alle.

Der ihrige
​Goethe.

Seit dem Druck in der WA wird der Brief auf Herbst 1773 datiert, indem die Erwähnung des Deukalion ( 17,23 ) auf die Arbeit an Goethes Fragment gebliebenem Prometheus-Drama bezogen wird, von dem im Oktober 1773 zwei Akte vorlagen (vgl. Gottlob Friedrich Ernst Schönborns Brief an Heinrich Wilhelm von Gerstenberg vom 12. Oktober 1773; BG 1, 239). Der Prometheus-Stoff war Goethe aber längst vertraut; der Mythos wird in den Schriften „Zum Schäkespears Tag“ und „Von Deutscher Baukunst“ aus dem Jahr 1772 erwähnt. Daher wäre auch eine frühere Datierung in Erwägung zu ziehen. Die Übersendung der Schriften „Von Deutscher Baukunst“ (erschienen im November 1772 [vgl. QuZ 4, 736, Nr 2644 und Anm. 1]) und „Zwo wichtige bisher unerörterte Biblische Fragen“ (erschienen im Frühjahr 1773 [vgl. QuZ 4, 739, Anm. 4]) mit dem vorliegenden Brief (vgl. 18,14–16 ) lassen an Frühjahr 1773 denken. Zudem erwähnt Goethe „Von Deutscher Baukunst“ sonst nur in Briefen des Jahres 1772. Auch die Mitteilung, er sei ganz mit den bildenden Künsten beschäftigt (vgl. 18,5 ), korrespondiert mit anderen gleichartigen, die alle von der Jahreswende 1772/73 stammen. Vor allem aber verweist die Erwähnung der Zusammenarbeit mit Johann Heinrich Merck (vgl. 18,3–4 ) auf die Zeit bis Anfang Mai 1773, weil sich Merck danach bis Dezember 1773 in Russland aufhielt. Hätte Goethe den vorliegenden Brief im Herbst 1773 geschrieben, wäre außerdem zu erwarten, dass von dem im Juni 1773 erschienenen „Götz von Berlichingen“ in irgendeiner Weise die Rede ist, da er in Goethes Briefen nach Erscheinen des Dramas sonst eine dominierende Rolle spielt. Der vorliegende Brief wird daher auf das Frühjahr, möglicherweise auf Ende März 1773 datiert (ebenso bei Böhm [1970], 317 f.; vgl. auch Julius Richter: Zur Deutung der Goetheschen Prometheusdichtung. In: JbFDH 1928, 102, Anm. 59).

H: Verbleib unbekannt; 1873 im Roederer-Nachlass, der sich 1914 im Besitz von Paul Roederer in Paris befand (vgl. Lenz, Briefe 1, IV und X).

E: August Stöber: Johann Gottfried Röderer, von Straßburg, und seine Freunde. Biographische Mittheilungen nebst Briefen an ihn 〈…〉. In: Alsatia. Beiträge zur elsässischen Geschichte, Sage, Sitte, Sprache und Literatur 1873, S. 31–33.

WA IV 2 (1887), 119 f., Nr 180 (nach E; Textkorrekturen in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 208).

Textgrundlage: E. – Die Sperrung der Eigennamen geht vermutlich auf die zeitgenössische Druckkonvention zurück.

1) 4 Exemplare von Goethes Schrift „Zwo wichtige bisher unerörterte Biblische Fragen“ (vgl. 18,15 ).

2) 1 Exemplar von Goethes Schrift „Von Deutscher Baukunst“ (vgl. 18,16 ).

Der Brief beantwortet einen nicht überlieferten Brief Roederers (vgl. 17,15 ). – Ein Antwortbrief ist nicht bekannt.

Über das Verhältnis Goethes zu Johann Gottfried Roederer vgl. die einleitende Erläuterung zum Brief vom 21. September 1771 (GB 1 II, Nr 88 ).

daß schweigen besser ist als viel reden] Sprichwörtlich nach Psalm 12,7 und Sprichwörter 10,20 sowie aus dem Arabischen (überliefert in lateinischer Form): „Narratio argentea, silentium vero aureum est.“ (Reden ist Silber, Schweigen aber ist Gold; G. W. Freytag: Arabum Proverbia. Bd 3 I. Bonn 1843, S. 92.)

Hr. ​Wunschold] Vermutlich handelt es sich um Heinrich Wilhelm Wunschold, seit 1751 Kaufmann in Straßburg, oder seinen Sohn gleichen Namens, mit dem er 1778 das Unternehmen „Wunschold et Compagnie“ in Straßburg gründete (nach freundlicher Mitteilung von Laurence Perry, Archives de la Ville Strasbourg). Einer der beiden hatte Goethe wohl einen Besuch abgestattet.

Ihr Brief] Wahrscheinlich handelte es sich um einen Empfehlungsbrief für Wunschold; er ist nicht überliefert.

in ecclesia pressa] Lat.: in zusammengedrängter Gemeinde, hier: in Verbindung mit wenigen gleichgesinnten Genossen.

auch wollt ich 〈…〉 kapituliren] Das Verb ‚kapitulieren‘ ist hier wohl im juristischen Sinn zu verstehen (nach mlat. capitulare: über einen Vertrag verhandeln). Demnach wäre etwa gemeint: ‚Auch wollte ich über eine noch geringere Zahl (von Genossen) verhandeln.‘

wie Deukalion] Deukalion und seine Frau Pyrrha überleben die von Zeus über das Menschengeschlecht verhängte Sintflut in einem Kasten aus Holz. Nach ihrer Rettung bringen sie dem Gott ein Dankopfer dar und erhalten die Erfüllung eines Wunsches freigestellt. Deukalion wünscht sich, neue Menschen schaffen zu können. Auf Zeus' Weisung werfen er und seine Frau Steine hinter sich, aus denen neue Menschen entstehen.

hinzusehen] Nach Eduard von der Hellen (vgl. Goethes Briefe. Bd 1. Stuttgart und Berlin 1901, S. 149) wird in DjG​2 3, 63 „hinzusäen“ konjiziert und in DjG​3 3, 51 kommentarlos übernommen.

Genius] Nach Vorstellung der Römer war ein Genius eine Art persönlicher Schutzgeist, der den Menschen von dessen Geburt an begleitete.

werthen Freund] Johann Heinrich Merck.

απαμειβειν] ,Austausch(en)‘, griechischer Neologismus Goethes, zusammengesetzt aus ​ἀμείβειν (eintauschen, abwechseln) und ​ἀπαμείβεσθαι (im Reden ablösen, erwidern).

unsrer tähtigkeit] Vermutlich ist vor allem an die gemeinsame Verlagstätigkeit gedacht (vgl. die erste Erläuterung zu 28,9 , die zweite Erläuterung zu 35,6 , zu 35,13–14 ).

Die bildenden Künste] Vgl. Datierung.

Bauk.] Goethes von Merck verlegte Schrift „Von Deutscher Baukunst“ (vgl. Datierung).

anders wo] Etwa in Goethes Rezension von Johann Georg Sulzers „Die Schönen Künste, in ihrem Ursprung, ihrer wahren Natur und besten Anwendung betrachtet“ (Leipzig 1772) in den FGA (Nr 101 vom 18. Dezember 1772, S. 801–807); darin kritisiert er die Dominanz der Theorie über die Praxis und schreibt, an den produzierenden Künstler gewandt: Gott erhalt unsre Sinnen, und bewahr uns vor der Theorie der Sinnlichkeit, und gebe jedem Anfänger einen rechten Meister! (S. 807.) Und mit Blick auf den Rezipienten heißt es: Wer von den Künsten nicht sinnliche Erfahrung hat, der lasse sie lieber. 〈…〉 Er bedenke, daß er sich durch alle Theorie den Weg zum wahren Genusse versperrt 〈…〉. (S. 802.)

Sie alle] Goethes Bekannte und Freunde in Straßburg (vgl. GB 1 II, zweite Erläuterung zu 203,16 und GB 1 II, einleitende Erläuterung zu Nr 81 ).

den Münster] Straßburger Münster; das Genus wechselte zwischen Maskulinum und Neutrum (vgl. Grimm 6, 2698).

biblischen Fragen] Goethes ebenfalls von Merck verlegte Schrift „Zwo wichtige bisher unerörterte Biblische Fragen“ (vgl. Datierung).

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 21 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR021_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 17–18, Nr 21 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 39–41, Nr 21 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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