Goethes Briefe: GB 2, Nr. 230
An Friedrich Gottlieb Klopstock

〈Frankfurt a. M. 〉, 15.? April 1775. Samstag? → 〈Hamburg〉


Hier lieber Vater ein Wörtgen an's Publikum, ich ging ungern dran, doch mussts seyn.

Ich bin noch ziemlich in dem Zustande in dem Sie mich verlassen haben, nur dass es manchmal schlimmer wird, und dann von oben herab wieder ein Tau Tropfe des Universaal Balsams fällt, der alles wieder gut macht. Ich beschäfftige mich so viel ich kann, und das thut denn was. Indess muss ieder seinen Kelch austrincken spür ich wohl, u. so fiat voluntas . Gedencken Sie mein unter Ihren lieben. Ein Brief von Frau v. Winthem wird wieder zurück gelangt seyn. Schreiben Sie mir ein Paar Worte von Ihrer Reise. Nota Bene der ​Wagner von dem das Blätgen sagt, ist eben die Personage die Sie einen Augenblick auf meiner Stube des Morgens sahen, er ist lang hager. Sie standen am Ofen. Adieu

dℓ. 15. Apr. 1775.Goethe.

In AB, 5 ist unter dem 14. April ein Brief an Klopstock nach Hamburg verzeichnet (vgl. EB 98 ). Ein so datierter Brief ist nicht überliefert. Da aber aus dem vorliegenden Brief hervorgeht, dass Goethe zum ersten Mal nach Klopstocks Besuch in Frankfurt Ende März an diesen schreibt, ist anzunehmen, dass der im „Ausgabebüchlein“ vermerkte Brief mit dem vorliegenden identisch ist. In diesem Fall beruht entweder die Eintragung im „Ausgabebüchlein“ oder die Datierung des vorliegenden Briefs durch Goethe selbst auf einem Irrtum.

H: The Pierpont Morgan Library, New York, Misc International, Acc Nr MA 5047. – 1 Bl. 10,8 × 17 cm, Bordüre aus gereihten Krönchen (vgl. Mick, Nr 1), 1 S. beschr., egh., Tinte. – Faksimile: Auktions-Katalog von Karl Ernst Henrici. Versteigerung Nr LXXVII, 19.–21. Juni 1922, S. 135 (ohne Bordüre).

E: Briefe von und an Klopstock. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte seiner Zeit. Mit erläuternden Anmerkungen hrsg. von J〈ohann〉 M〈artin〉 Lappenberg. Braunschweig 1867, S. 259, Nr 142.

WA IV 2 (1887), 256, Nr 321 (nach E; Hinweis auf H und Textkorrekturen in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 212).

1 Druckblatt mit Goethes Erklärung zu Wagners Farce „Prometheus, Deukalion und seine Recensenten“ (vgl. die zweite Erläuterung zu 186,15 ); Verbleib des für Klopstock bestimmten Exemplars unbekannt.

Ein Bezugs- und ein Antwortbrief sind nicht bekannt.

Postsendungen: 14. April 1775 (AB, 5); vgl. Datierung.

lieber Vater] Eine solche Anrede des 25 Jahre älteren Klopstock war auch unter den Dichtern des Göttinger Hains üblich (vgl. z. B. Johann Friedrich Hahns Brief vom 30. Juli bis 4. August 1774; Klopstock, Briefe HKA 6 I, 175).

ein Wörtgen an's Publikum] Goethes öffentliche Erklärung zu der Wieland verunglimpfenden Farce „Prometheus, Deukalion und seine Recensenten“ vom 9. April 1775 (abgedruckt im Textband als Beilage zu Nr 229 ; vgl. ferner zu 180,1 und zu 183,11 ), dass nicht er, sondern Heinrich Leopold Wagner Verfasser derselben sei.

in dem Zustande] Im Brief an Carl Ludwig von Knebel vom Tag zuvor ( Nr 229 ) spricht Goethe davon, Klopstock habe ihn in einer sonderbaaren Bewegung ( 185,14 ) angetroffen, welche wohl durch sein problematisches Verhältnis zu Anna Elisabeth (Lili) Schönemann ausgelöst wurde.

mich verlassen] Laut Nr 221 hatte Klopstocks Besuch bei Goethe am 30. März stattgefunden. Klopstock befand sich auf der Rückreise von Karlsruhe (vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 113 ).

Tau Tropfe] Tau wurde „im Volksglauben als eine Art Lebenswasser empfunden, das mit bestimmten magischen Kräften auf das Irdische wirkt“ (Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hrsg. 〈…〉 von Hanns Bächtold-Stäubli. Bd 8. Berlin und Leipzig 1936/1937, Sp. 683), „sowohl in heilender wie prophylaktischer Hinsicht“ (ebd., Sp. 687).

Universaal Balsams] In Augsburg nach geheimem Rezept hergestellter Balsam „aus viel auserlesenen, balsamischen, bezoardischen, aromatischen, Hertz- Haupt- und Magenstärckenden Gummien, Säfften, Gewürtzen, Wurtzeln und Samen“, welcher, „in der Woche etlichemahl 15 bis 17 Tropffen in Weine, Brannteweine oder Fleischbrühe“ eingenommen, „den Menschen vor allerhand gefährlichen Zufällen“ bewahrte (Zedler 49, 1736); er half gegen Blähungen ebenso wie gegen Hüftweh und Schlaganfall (vgl. ebd., 1736–1738). – Gemeint ist hier wohl, wie der im Brief folgende Satz andeuten könnte, die Poesie und Goethes poetische Produktion, vielleicht auch Anna Elisabeth (Lili) Schönemanns Liebe.

seinen Kelch austrincken] Biblisch; vgl. Matthäus 26,39 und 42, Johannes 18,11.

fiat voluntas] Lat.: Der Wille 〈Gottes, des Schicksals〉 geschehe! – Im lateinischen Vaterunser (vgl. Matthäus 6,10) heißt es: Fiat voluntas tua (Dein Wille geschehe). Die Wendung begegnet mehrfach in Goethes frühen Briefen (vgl. 10,13 ; 190,30 ; GB 1 I, 247,1 ).

Ein Brief von Frau v. Winthem] Nicht überliefert (vgl. Klopstock, Briefe HKA 6 II, 658); Johanna Elisabeth von Winthem war Klopstocks Nichte und seit 1791 seine zweite Frau.

Schreiben Sie mir ein Paar Worte von Ihrer Reise.] Ein entsprechender Brief ist nicht überliefert.

​Wagner] Vgl. zu 186,1 .

das Blätgen] Goethes Wörtgen an's Publikum ( 186,15 ).

die Personage] Franz. personnage: Person, im 18. Jahrhundert auch „mit einem verächtlichen Nebenbegriffe“ (Schweizer 2, 611).

des Morgens] Am 30. März (vgl. 182,13 ); tags darauf brach Klopstock, der sich auf der Heimreise von Karlsruhe nach Hamburg befand, von Frankfurt nach Friedberg auf (vgl. Klopstock, Briefe HKA 6 II, 654).

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 230 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR230_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 186, Nr 230 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 472–474, Nr 230 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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