Goethes Briefe: GB 2, Nr. 229
An Carl Ludwig von Knebel

〈Frankfurt a. M. 〉, 14. April 1775. Freitag → 〈Paris〉


Lieber Knebel. Ich weis nicht wohin ich ein Wörtgen an Sie senden soll. Item es mag laufen. Lieben Sie mich noch? u. dencken Sie an mich? – Ich! – falle aus einer Verworrenheit in die andre, und stecke würcklich mit meinem armen Herzen wieder unvermuthet in allem Anteil des Menschen Geschicks, aus dem ich mich erst kaum gerettet hatte. Klopstock fand mich in sonderbaarer Bewegung. Ich habe von dem Theuren nur geschlurpft 1 . Ich habe allerley gethan, und doch wenig. Hab ein Schauspiel bald fertig, treibe die bürgerlichen Geschäffte so heimlich leise, als trieb ich Schleichhandel ​ 2 , bin sonst immer der den Sie kennen. Und nun schreiben sie mir viel von Ihnen. Vom theuern Herzog. erinnern Sie ihn meiner in Liebe. Adieu. Adieu

dℓ. 14 April 1775. G.


〈Beilage〉


Nicht ich, sondern ​Heinrich Leopold Wagner hat den ​Pro ​metheus gemacht und drucken lassen, ohne mein Zuthun, ohne mein Wissen. Mir wars, wie meinen Freunden, und dem Publiko, ein Räzel, wer meine Manier in der ich manchmal Scherz zu treiben pfle ge, so nachahmen, und von gewissen Anekdoten unterrichtet seyn konnte, ehe sich mir der Verfasser vor wenig Tagen entdeckte. Ich glaube diese Erklärung denen schuldig zu seyn, die mich lieben und mir auf's Wort trauen. Uebrigens war mir's ganz recht, bey dieser Ge legenheit verschiedne Personen, aus ihrem Betragen gegen mich, in der Stille näher kennen zu lernen.   Frankfurt, am 9. April 1775.

​Goethe.


Ich vermuthe dass Sie was von der Sache wissen drum schick ich das mit. Weiter mag ich drüber nichts sagen.

G.

  1. geschl× ​urpft​ ↑
  2. s ​Schleichhandel​ ↑

H: 1) Brief: Biblioteka Jagiellońska Kraków (Krakau), Autographensammlung Goethe, bis 1945 Preußische Staatsbibliothek Berlin, Sign.: Ms. Germ. 4​o. 521, Bl. 4. – 1 Bl. 10,2(–10,9) × 16,2(–17) cm, Bordüre aus gereihten Krönchen (vgl. Mick, Nr 1–3), 1 S. beschr., egh., Tinte; am oberen Rand beschnitten, am seitlichen Rand ausgerissen. – In einem Konvolut mit schwarzem Ledereinband (weiter vgl. Überlieferung zu Nr 169 ); 2) Beilage: GSA Weimar, Sign.: 29/272,I. – 1 Bl. 16,5 × 9,8 cm, ¾ S. bedruckt mit Goethes Erklärung über die Verfasserschaft der Satire „Prometheus, Deukalion und seine Recensenten“ von Heinrich Leopold Wagner; unter dem gedruckten Text die egh. Nachschrift.

E​1: Goethe-Knebel (1851) 1, 7, Nr 4 (ohne den Text der Erklärung und der Nachschrift); ebenso in: DjG​1 3 (1875), 79 f.

E​2: WA IV 2 (1887), 254 f., Nr 320 (mit dem Text der Erklärung und der Nachschrift) (Erich Schmidt).

Ein Bezugsbrief ist nicht bekannt. – Knebel antwortete möglicherweise in dem nicht überlieferten Brief, den Goethe in seinem Brief an Henriette von Knebel vom 3. Mai 1775 ( Nr 235 ) erwähnt.

Postsendungen: 14. April 1775 (AB, 5).

wohin] Laut AB, 5 war der Brief bis Rheinhausen frankiert. Knebel hielt sich seit dem 28. Februar in Paris auf; die Stadt war das Ziel der Bildungsreise der weimarischen Prinzen Carl August und Constantin, die Knebel begleitete.

Item] Lat.: ebenso, ferner, kurzum.

Verworrenheit] Ursache derselben war das schwierige Verhältnis zu Anna Elisabeth (Lili) Schönemann. Wenig später, um Ostern, verlobte sich Goethe mit ihr (vgl. die einleitende Erläuterung zu Z 1 ).

kaum gerettet] Nicht ermittelt.

Klopstock] Er hatte Goethe am 30. März auf der Rückreise von Karlsruhe nach Hamburg besucht; vgl. 182,13–14 und die einleitende Erläuterung zu Nr 113 .

geschlurpft] Die Form kommt von ‚schlurfen‘, was für ‚schlürfen‘ gebraucht wurde und in übertragenem Sinn ‚kosten‘ meint im Gegensatz zu ‚in vollen Zügen genießen‘ (vgl. Grimm 9, 850 und 852).

Schauspiel] Es handelt sich wohl um das Schauspiel mit Gesang „Claudine von Villa Bella“; vgl. Datierung zu Nr 228 .

bürgerlichen Geschäffte] Goethes rechtsanwaltliche Tätigkeiten (vgl. zu 178,17–18 ).

theuern Herzog] Carl August von Sachsen-Weimar und Eisenach, der erst am 3. September 1775 Herzog wurde, als er zu seinem 18. Geburtstag die Regentschaft übernahm.

Nicht ich 〈…〉 ​Goethe.] Über Wagners Satire „Prometheus, Deukalion und seine Recensenten“ vgl. zu 180,1 . Da in dieser Schrift erneut – wie zuvor schon in Goethes Farce „Götter Helden und Wieland“ – Wieland angegriffen und auf die Begegnung zwischen Carl August und Goethe Mitte Dezember 1774 in Mainz direkt angespielt wird, war Goethe an der Aufklärung der Verfasserschaft gegenüber Knebel sehr gelegen. Wie wichtig Goethe das Wohlwollen der Weimarer war, geht aus Nr 242 hervor. Er legte die Erklärung auch dem Brief an Klopstock vom 15. April? ( Nr 230 ) bei und ließ sie in Zeitungen veröffentlichen, u. a. in den FGA (Nr 32 vom 21. April 1775, S. 274).

​Heinrich Leopold Wagner] Heinrich Leopold Wagner hatte wie Goethe in Straßburg die Rechte studiert, wo beide sich kennen gelernt hatten. Ende 1774/Anfang 1775 kam Wagner nach Frankfurt und arbeitete als Privatlehrer, Übersetzer und Schriftsteller, seit 1776 als Rechtsanwalt. Er ist Verfasser des Dramas „Die Kindermörderinn“ (1776), eines exemplarischen Werks der Sturm-und-Drang-Dramatik.

drucken lassen] Die Satire war im März 1775 anonym und unter verschiedenen Verlagsorten erschienen.

gewissen Anekdoten] Vgl. zu 180,1 .

sich mir der Verfasser vor wenig Tagen entdeckte] Vielleicht bei einem Besuch Wagners in Goethes Haus am 30. März. Im Brief an Klopstock ( Nr 230 ) erwähnt Goethe diesen Besuch (vgl. 186,24–26 ).

dass Sie was von der Sache wissen] Knebel kannte die Satire tatsächlich und glaubte, Goethe sei der Verfasser; vgl. zu 180,1 .

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 229 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR229_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 185–186, Nr 229 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 471–472, Nr 229 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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