Goethes Briefe: GB 2, Nr. 226
An Friedrich Heinrich Jacobi

〈Frankfurt a. M. , vermutlich 1. , 12. oder 13. April 1775〉 → 〈Köln〉

〈Abschrift〉


〈…〉 Friederice Fritzel wie ist Dir! O Du Menschenkind – steht nicht geschrieben: so ihr glaubtet, hättet ihr das ewige Leben! und Du wähntest manchmahl, der Sinn dieser Worte sey in Deiner Seele aufgegangen. Sey's nun – geringer kann ich's nicht thun – Deine Liebe wag ich dran – sonst wär ich der heiligen Thränen nicht werth, die Du in Cölln an mein Herz weintest. – Lieber Fritz besinne Dich – es ist nicht Stella, nicht Prometheus – besinne Dich, und noch einmal: gieb mir Stella zurück! – Wenn Du wüßtest wie ich sie liebe, und um Deinetwillen liebe! – – – – und das muß ich Dir all so ruhig schreiben um Deines Unglaubens willen, der ich lieber mein Herz ergöße – 〈…〉

In seinem Brief an Goethe vom 15. September 1779 (vgl. Überlieferung) erinnert Jacobi daran, Goethe habe den Brief, aus dem das vorliegende Bruchstück stammt, „im April 1775“ geschrieben (JB I 2, 105). Aus dem Text des Fragments geht hervor, dass Goethe mit seinem Brief offensichtlich auf einen nicht überlieferten Brief Jacobis antwortet, in dem dieser in heftiger Weise an „Stella“ Anstoß genommen hatte, nachdem er das Schauspiel vollständig gelesen hatte. (Zuvor kannte er nur Teile davon; vgl. die zweite Erläuterung zu 177,11 und die erste Erläuterung zu 177,12 .) Seine Meinung über „Stella“ wird Jacobi unmittelbar nach der Lektüre des Manuskripts geschrieben haben, das er für den Abend des 25. März erwartete (vgl. seinen Brief an Goethe vom 25. März?, abgedruckt im Anschluss an die Erläuterungen zu Nr 210 ). Eine erste Fassung seiner Antwort hatte Goethe an Johanna Fahlmer geschickt, die davon abgeraten hatte, den Brief in dieser Form Jacobi mitzuteilen; vgl. Goethes Brief an Johanna Fahlmer vermutlich aus der Zeit zwischen 31. März und 12. April ( Nr 225 ) und die Erläuterung zu 183,16 . Den Einträgen des „Ausgabebüchleins“ ist zu entnehmen, dass Goethe im April mehrere Briefe an Jacobi schrieb, am 1., 12., 13. und am 20. April; unter dem 5. April ist ein Paket verzeichnet (vgl. AB, 3–6); einer der vermerkten Briefe dürfte der vorliegende gewesen sein; die übrigen sind nicht überliefert. Da Goethe des brisanten Inhalts wegen vermutlich eher früher als später geschrieben hat, ist eines der ersten drei Daten wahrscheinlicher als das letzte.

H: Verbleib unbekannt.

h: GSA Weimar, Sign.: 51/II,2. – Zitat in einer von Jacobi veranlassten Abschrift seines Briefes an Goethe vom 15. September 1779 (Johann Heinrich Schenks Hd), dessen Original Goethe vermutlich verbrannt hat; vgl. dessen Tagebücher unter dem 2. und 9. Juli 1797 (GT II 1, 119 und 120) sowie die „Tag- und Jahres-Hefte“ für 1797 (WA I 35, 73).

E: Goethe-Jacobi (1846), 54, Nr 13 (nach h).

WA IV 3, 326 f. (im „Nachtrag zum zweiten Bande der Briefe Goethes“, Einschub zwischen Nr 327 und 328; nach h).

Textgrundlage: h.

Der Brief, zu dem vorliegendes Fragment gehört, beantwortet einen nicht überlieferten Brief Jacobis. – Ein Antwortbrief ist nicht bekannt. Jacobis nächster überlieferter Brief stammt vom 14. Juni 1775 (vgl. RA 1, 61 f., Nr 49 ; JB I 2, 14) und antwortet vermutlich auf Goethes nicht überlieferten Brief, der im „Ausgabebüchlein“ (AB, 9) unter dem 11. Mai 1775 verzeichnet ist (vgl. EB 131 ).

Postsendungen: 1., 12. oder 13. April 1775 (AB, 3–5).

Der Kontext von Jacobis Brief an Goethe vom 15. September 1779, in dem er das vorliegende Brieffragment zitiert, ist folgender: „Du schriebst mir im April 1775, ‚Friederice 〈…〉 ergöße –‘ Dein Vorwurf damahls war ungegründet, den Glauben an Dich hatt' ich nicht verletzt; ich allein nicht, so viel ich weiß, unter allen Deinen Freunden. Hätte mir zu jener Zeit ein solches Gerücht wie das jetzige zu Ohren kommen können; angespieen hätte ich den, der es geglaubt hätte. Aber seit jenen sind viel andre Tage gekommen.“ (h; vgl. auch JB I 2, 105 f.) Das Gerücht, von dem Jacobi im September 1779 spricht, bezieht sich auf Goethes öffentliche Verspottung von Jacobis Roman „Woldemar“; Jacobi schildert den Vorgang am Anfang seines Briefes (vgl. JB I 2, 105).

Auch wenn Jacobi Goethes Vorwurf des Unglaubens ( 184,15 ) zurückweist, war es im April 1775 dennoch zu einem tief greifenden Zerwürfnis zwischen den Freunden gekommen. Ursache war offenbar Jacobis Ablehnung von Goethes „Stella“. Über das Motiv gibt es unterschiedliche Vermutungen. Seit Ludwig Urlichs (vgl. Zu Goethe's Stella. In: Deutsche Rundschau. Bd 4. Juli 1875, S. 78-83; ebenso: Goethe-Fahlmer, 72) und Wilhelm Scherer (vgl. Bemerkungen über Stella. In: Ders.: Aufsätze über Goethe. Berlin 1886, S. 122–160) wird darauf hingewiesen, dass sich Jacobi empört habe, weil er in der Dreiecksgeschichte der „Stella“ und in der Figur des schwankenden Fernando Anspielungen auf seine eigenen Lebensverhältnisse entdeckt habe: Jacobi zwischen seiner Frau Elisabeth und seiner Freundin Johanna Fahlmer. Welcher Art die Beziehung zwischen Jacobi und Johanna Fahlmer war, ist nicht geklärt; es gibt lediglich Vermutungen, die sich u. a. auf Elisabeth Jacobis Brief an Goethe vom 6. November 1773 stützen, in dem es andeutungsvoll heißt: „Dass die Tante u ich, unsern ebenen u graden Weg neben einander ohne stumpen u stolpern gehen, ist wahr, obgleich noch wohl immer ein Räthsel für dHℓ Dr Goethe Lobesan.“ (Zeilen 43–45; Brief abgedruckt im Anschluss an die Erläuterungen zu Nr 65 .) In jedem Fall verband Jacobi und Johanna Fahlmer ein sehr enges Verhältnis, da sie gemeinsam aufgewachsen waren: „Er 〈Jacobi〉 hatte von Kindheit an, mehr als jeden andern, den Umgang einer Person gleichen Alters 〈Johanna Fahlmer〉, die eine Halbschwester seiner früh verstorbenen Mutter war, geliebt 〈…〉.“ (Friedrich Heinrich Jacobi's auserlesener Briefwechsel. 〈Hrsg. von Friedrich Roth.〉 Bd 1. Leipzig 1825, S. IX.) Nach Auffassung anderer Kommentatoren liegt der Grund für Jacobis Kritik an „Stella“ in seiner Empörung über den Schluss des Dramas (vgl. Heinz Nicolai: Goethe und Jacobi. Studien zur Geschichte ihrer Freundschaft. Stuttgart 1965, S. 79–82; ferner JB II 2, 9): Jacobi habe an der Lösung des Konflikts in einer Ménage à trois nach dem Vorbild der Sage vom Grafen von Gleichen moralischen Anstoß genommen. Für diese Annahme könnte sprechen, dass Jacobi das Stück zunächst offenbar durchaus positiv aufgenommen hatte (vgl. 177,1–2 ) und erst nach der vollständigen Lektüre ablehnend ragierte (vgl. Datierung).

Friederice] Lateinischer Vokativ von ‚Fridericus‘.

Menschenkind] Biblischer Name von Jesus Christus (vgl. Hiob 25,6; Psalm 8,5, 36,8, 90,3 u. ö.).

so ihr glaubtet, hättet ihr das ewige Leben] Aus Jesus' Rede über das Himmelsbrot in der Synagoge von Kafarnaum (Johannes 6,47).

in Cölln] Goethe hatte Köln in Begleitung der Brüder Jacobi und Wilhelm Heinses am 24. Juli 1774 besucht. Am Abend dieses Tages war es zu Expektorationen Jacobis gekommen, als er mir 〈Goethe〉, mit unbedingtem Vertrauen, die tiefsten Seelenforderungen nicht verhehlte. 〈…〉 Nachts, als wir uns schon getrennt und in die Schlafzimmer zurückgezogen hatten, suchte ich ihn nochmals auf. Der Mondschein zitterte über dem breiten Rheine, und wir, am Fenster stehend, schwelgten in der Fülle des Hin- und Wiedergebens, das in jener herrlichen Zeit der Entfaltung so reichlich aufquillt. (AA DuW 1, 514 und 515 f. [14. Buch].)

Prometheus] Vermutlich ist Heinrich Leopold Wagners Satire „Prometheus, Deukalion und seine Recensenten“ (vgl. zu 180,1 ) gemeint. Vielleicht hatte Jacobi auch in Bezug auf diese Schrift den Vorwurf der Indiskretion erhoben.

gieb mir Stella zurück!] Jacobi sandte die Abschrift nicht zurück; sie gelangte aus seinem Nachlass in die Staatsbibliothek München (vgl. die erste Erläuterung zu 177,12 ).

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 226 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR226_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 184, Nr 226 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 465–467, Nr 226 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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