Goethes Briefe: GB 2, Nr. 223
An Jeanne Rahel d'Orville

〈Frankfurt a. M. , 7. April? 1775. Freitag?〉 → 〈Offenbach〉


Ich bitte Sie liebe Frau schicken Sie mir die Iris, geben Sie beyliegend Zettelgen dem ​Raam aller Ehmänner, grüssen Sie die Leute die mich mögen. und so fort. Gestern führte mich ein böser Geist zu Lili in einer Stunde da sie mich so ​ganz entbehren konnte, da es denn meinem Herzen ward als wenn's ​gemangt würde, und ich mich eilig fortmachte. dem Pfaffen u. den Kindern einen guten Tag. Behalten sie mich lieb.

G.

Die Jahreszahl ergibt sich aus der Erwähnung Lili (Elisabeth) Schönemanns ( 183,5 ). Der Kontext passt in das Frühjahr 1775, noch vor der inoffiziellen Verlobung in der Osterzeit, als Goethe von innerer Unruhe und Eifersucht geplagt wurde (vgl. zu Nr 207 und 213 ). Aus dem Inhalt geht weiter hervor, dass Goethe schon im regen Verkehr mit den d'Orvilles gestanden haben muss. Seinem ersten nachweislichen Besuch in Offenbach vom 7. bis 8. März (vgl. 170,3 ) folgten weitere Aufenthalte, wahrscheinlich am 12. März („Offenbacher Spazierfahrt – – 2 〈Gulden〉 24 〈Xr〉“; Liber domesticus​1, Eintrag vom 12. März 1775) und vom 15. bis 17. März. Die Bitte um die Iris ( 183,3 ) könnte auf die Zeit nach dem Erscheinen des 2. Bandes am Ende des ersten Quartals 1775 verweisen, der den umfangreichsten Beitrag Goethes enthielt (vgl. zu 187,19–20 ). Im „Ausgabebüchlein“ ist unter dem 7. April eine Briefsendung vermerkt, bei der es sich um das vorliegende Billett gehandelt haben könnte: B. Frau ​D'Orville f. Offenbach (AB, 4). – Eine spätere Datierung, etwa Anfang September 1775, ist nicht ganz auszuschließen.

H: GMD Düsseldorf, Sign.: NW 539/1962. – 1 Bl. 16,9 × 10,5(–10,8) cm, Bordüre aus gereihten Krönchen (vgl. Mick, Nr 1), 1 S. beschr., egh., Tinte; unten rechts Ergänzung von späterer Hd: „Handbillett von Goethe“ (wie bei Nr 260 ). – Beischluss: nicht überlieferter Brief an Jean George d'Orville (vgl. EB 80 ). – Faksimile: Jörn Görres: Goethes Billett an Rahel d'Orville. In: Düsseldorfer Hefte. Jahrgang 7 (1962), Nr 13, S. 583.

E: Pirazzi (1879), 231.

WA IV 2 (1887), 285, Nr 352 (nach E).

Zettelgen ( 183,4 ) für Jean George d'Orville (vgl. zu 183,3–4 ).

Ein Bezugs- und ein Antwortbrief sind nicht bekannt.

Postsendungen: 7. April 1775 (AB, 4; vgl. Datierung).

Goethe lernte Jeanne Rahel d'Orville (1751–1822) und ihren Ehemann Jean George (1747–1799) während seiner Besuche in Offenbach im Frühjahr 1775 kennen (vgl. Datierung). Das Ehepaar d'Orville gehörte zum Offenbacher Kreis von sehr lieben Menschen ( 170,3 ), mit denen Goethe im Frühjahr und nach der Unterbrechung durch die Schweizer Reise im Sommer und Frühherbst 1775 verkehrte. Jean George d'Orville, der Cousin Anna Elisabeth Schönemanns, stammte ebenfalls aus Frankfurt. 1769 hatte er Jeanne Rahel Bernard geheiratet, eine Tochter Heinrich Bernards, des früh verstorbenen jüngeren Bruders des Offenbacher Schnupftabakfabrikanten Nicolaus Bernard (vgl. die zweite Erläuterung zu 170,3 ). Durch die Heirat war d'Orville Teilhaber der Bernardschen Firma geworden. Als Nachfahren von französischen Einwanderern gehörten die d'Orvilles ebenso wie die Bernards der französisch-reformierten Gemeinde an. Goethe beschreibt Jean George d'Orville als einen jüngeren lebhaften Mann von liebenswürdigen Eigenheiten (AA DuW 1, 572 [17. Buch]). Ebenso wie Nicolaus Bernard führten auch die d'Orvilles ein offenes Haus. In ihrem am Mainufer gelegenen Terrassengarten versammelten sich Freunde und Familie zu geselligen Zusammenkünften und Festlichkeiten, an denen Goethe 1775 mehrfach teilgenommen hat. Die von ihm im 17. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ erwähnte, nicht überlieferte dramatische Gelegenheitsdichtung ​Sie kommt nicht! (ebd., 576) war offenbar durch ein solches Fest veranlasst worden (vgl. zu 199,22–24 ). – Nach Goethes Übersiedlung nach Weimar Anfang November 1775 riss der direkte Kontakt zu den Offenbacher Freunden ab, zumindest sind für die kommenden beiden Jahrzehnte weder Briefe Goethes an die d'Orvilles noch Gegenbriefe überliefert. Dass Goethe ihnen aber auch in späteren Jahren freundschaftlich verbunden blieb, belegt sein Brief vom 13. September 1799, mit dem er auf d'Orvilles Bitte um ein Empfehlungsschreiben für einen Hauslehrer (vgl. RA 3, 113, Nr 327) antwortete: Ihre Hand und Ihren Nahmen wieder zu sehen hat mir, in einem stillen Gartenaufenthalt, wo ich mich jetzo befinde, eine außerordentliche Freude gemacht. Glauben Sie mir daß ich, in Erinnerung früherer Zeiten und Anhänglichkeit an alte Freunde, Ihnen nicht nachstehe. So wenig man sich wieder Brüder und Schwestern schaffen kann, wenn Vater und Mutter todt sind, so wenig kann man sich Freunde erwerben wie die sind, die ein früheres, völlig verschwundnes Jugendverhältniß uns verschaffte. Wir haben im Alter noch Überzeugung und Wahl, aber die süße Nothwendigkeit der Jugend erscheint uns nicht wieder. (WA IV 14, 175.)

Iris] Johann Georg Jacobis Zeitschrift „Iris“, in der Goethe 1775 insgesamt 12 Gedichte und das Singspiel „Erwin und Elmire“ veröffentlichte (vgl. Hagen 255 f., Nr 535). Möglicherweise bittet er hier um Rückgabe eines den Offenbacher Freunden leihweise überlassenen Exemplars des März-Heftes mit „Erwin und Elmire“ und den Gedichten „An Belinden“, „Neue Liebe, Neues Leben“ und „Mir schlug das Herz; geschwind zu Pferde 〈…〉“ (später unter dem Titel „Willkommen und Abschied“; vgl. zu 187,19–20 ).

beyliegend Zettelgen] Nicht überliefert (vgl. EB 80 ).

​Raam] Gemeint ist Jean George d'Orville; nach dem indischen König Râma, der Verkörperung des Gottes Vishnu, der seine geraubte Gemahlin mit Hilfe des Affenkönigs Hanumân zurückgewann. – Goethe las die indische Fabel zuerst in der Reisebeschreibung des holländischen Arztes Olfert Dapper „Asia oder Ausführliche Beschreibung des Reichs des Grossen Mogols und e. grossen Theils von Indien“, und zwar in der Übersetzung von Johann Christoph Beer (Nürnberg 1681; vgl. Ruppert, 586, Nr 4082). Wie die vorliegende Erwähnung nahelegt, muss Goethe die Fabel von König Râma (Ram) und dem Affenkönig Hanumân (Hannemann) u. a. im Hause der Offenbacher Freunde erzählt haben (vgl. AA DuW 1, 444 [12. Buch]); vgl. auch den Eintrag ins Stammbuch Johann Peter de Reyniers (DjG​3 4, 271–273, bes. Vers 52, und zu 135,2 ).

die Leute die mich mögen] Gemeint sein könnten die Offenbacher Freunde Johann André und dessen Frau Katharina sowie Nicolaus Bernard und Familie.

Lili] Anna Elisabeth Schönemann, die Cousine Jean George d'Orvilles.

​gemangt] Mangen: durch die Mangel ziehen, glätten, pressen (vgl. Adelung 3, 51).

Pfaffen] Wahrscheinlich ist der Pfarrer der evangelisch-reformierten Kirche Johann Ludwig Ewald gemeint, der zum Offenbacher Freundeskreis der Bernards und d'Orvilles gehörte. Die sonst abwertende Bezeichnung ‚Pfaffe‘ ist hier scherzhaft gebraucht.

Kindern] Die d'Orvilles hatten damals drei Töchter und einen Sohn (vgl. zu 200,11–17 ).

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 223 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR223_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 183, Nr 223 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 460–462, Nr 223 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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