BuG: BuG I, A 386
Frankfurt 11. 2./11. 3. 1775

Dichtung und Wahrheit XVI (WA I 29, 24)

Frankfurt 11. 2./11. 3. 1775

Im Anfang des Jahres 1775 meldete Jung, nachher Stilling genannt, vom Niederrhein, daß er nach Frankfurt komme, berufen eine bedeutende Augencur daselbst vorzunehmen; er war mir und meinen Eltern willkommen und wir boten ihm das Quartier an.

Herr von Lersner, ein würdiger Mann in Jahren, durch Erziehung und Führung fürstlicher Kinder, verständiges Betragen bei Hof und auf Reisen, überall geschätzt, erduldete schon lange das Unglück einer völligen Blindheit; doch konnte seine Sehnsucht nach Hülfe nicht ganz erlöschen ...

Herr von Lersner und die Seinigen, berathen von einem einsichtigen Arzte, entschlossen sich den glücklichen Augenarzt kommen zu lassen, wenn schon ein Frankfurter Kaufmann, an dem die Cur mißglückt war, ernstlich abrieth ... Er kam, seinen Ruf zu vermehren, getrost und freudig, und wir wünschten uns Glück zu einem so wackern und heitern Tischgenossen.

Nach mehreren ärztlichen Vorbereitungen ward nun endlich der Staar auf beiden Augen gestochen; wir waren höchst gespannt, es hieß: der Patient habe nach der Operation sogleich gesehen, bis der Verband das Tageslicht wieder abgehalten. Allein es ließ sich bemerken, daß Jung nicht heiter war und daß ihm etwas auf dem Herzen lag; wie er mir denn auch auf weiteres Nachforschen bekannte, daß er wegen Ausgang der Cur in Sorgen sei ...

Jung bekannte, daß es dießmal so leicht und glücklich nicht hergegangen: die Linse sei nicht herausgesprungen, er habe sie holen und zwar, weil sie angewachsen, ablösen müssen: dieß sei nun nicht ohne einige Gewalt geschehen. Nun machte er sich Vorwürfe, daß er auch das andere Auge operirt habe. Allein man hatte sich fest vorgesetzt beide zugleich vorzunehmen, an eine solche Zufälligkeit hatte man nicht gedacht, und da sie eingetreten, sich nicht sogleich erholt und besonnen. Genug die zweite Linse kam nicht von selbst, sie mußte auch mit Unstatten abgelös’t und herausgeholt werden ...

Zutrauen und Liebe verband mich auf’s herzlichste mit Stilling; ich hatte doch auch gut und glücklich auf seinen Lebensgang eingewirkt, und es war ganz seiner Natur gemäß, alles was für ihn geschah in einem dankbaren feinen Herzen zu behalten; aber sein Umgang war mir in meinem damaligen Lebensgange weder erfreulich noch förderlich. Zwar überließ ich gern einem jeden, wie er sich das Räthsel seiner Tage zurechtlegen und ausbilden wollte; aber die Art, auf einem abenteuerlichen Lebensgange alles, was uns vernünftiger Weise Gutes begegnet, einer unmittelbaren göttlichen Einwirkung zuzuschreiben, schien mir doch zu anmaßlich, und die Vorstellungsart, daß alles, was aus unserm Leichtsinn und Dünkel, übereilt oder vernachlässigt, schlimme, schwer zu ertragende Folgen hat, gleichfalls für eine göttliche Pädagogik zu halten, wollte mir auch nicht in den Sinn. Ich konnte also den guten Freund nur anhören, ihm aber nichts Erfreuliches erwidern; doch ließ ich ihn, wie so viele andere, gern gewähren und schützte ihn später wie früher, wenn man, gar zu weltlich gesinnt, sein zartes Wesen zu verletzen sich nicht scheute. Daher ich ihm auch den Einfall eines schalkischen Mannes nicht zu Ohren kommen ließ, der einmal ganz ernsthaft ausrief: „Nein! fürwahr, wenn ich mit Gott so gut stünde wie Jung, so würde ich das höchste Wesen nicht um Geld bitten, sondern um Weisheit und guten Rath, damit ich nicht so viel dumme Streiche machte, die Geld kosten und elende Schulden-Jahre nach sich ziehen.“

Denn freilich war zu solchem Scherz und Frevel jetzt nicht die Zeit. Zwischen Furcht und Hoffnung gingen mehrere Tage hin; jene wuchs, diese schwand und verlor sich gänzlich: die Augen des braven geduldigen Mannes entzündeten sich und es blieb kein Zweifel, daß die Cur mißlungen sei.

Der Zustand in den unser Freund dadurch gerieth, läßt keine Schilderung zu; er wehrte sich gegen die innerste tiefste Verzweiflung von der schlimmsten Art. Denn was war nicht in diesem Falle verloren! zuvörderst der größte Dank des zum Lichte wieder Genesenen, das Herrlichste dessen sich der Arzt nur erfreuen kann; das Zutrauen so vieler andern Hülfsbedürftigen; der Credit, indem die gestörte Ausübung dieser Kunst eine Familie im hülflosen Zustande zurückließ. Genug, wir spielten das unerfreuliche Drama Hiobs von Anfang bis zu Ende durch, da denn der treue Mann die Rolle der scheltenden Freunde selbst übernahm. Er wollte diesen Vorfall als Strafe bisheriger Fehler ansehen; es schien ihm, als habe er die ihm zufällig überkommenen Augenmittel frevelhaft als göttlichen Beruf zu diesem Geschäft betrachtet; er warf sich vor, dieses höchst wichtige Fach nicht durch und durch studirt, sondern seine Curen nur so obenhin auf gut Glück behandelt zu haben; ihm kam augenblicklich vor die Seele, was Mißwollende ihm nachgeredet; er gerieth in Zweifel, ob dieß auch nicht Wahrheit sei? und dergleichen schmerzte um so tiefer, als er sich den für fromme Menschen so gefährlichen Leichtsinn, leider auch wohl Dünkel und Eitelkeit, in seinem Lebensgange mußte zu Schulden kommen lassen. In solchen Augenblicken verlor er sich selbst, und wie wir uns auch verständigen mochten, wir gelangten doch nur zuletzt auf das vernünftig nothwendige Resultat: daß Gottes Rathschlüsse unerforschlich seien.

In meinem vorstrebend heitern Sinne wäre ich noch mehr verletzt gewesen, hätte ich nicht, nach herkömmlicher Weise, diese Seelenzustände ernster freundlicher Betrachtung unterworfen und sie mir nach meiner Weise zurecht gelegt; nur betrübte es mich, meine gute Mutter für ihre Sorgfalt und häusliche Bemühung so übel belohnt zu sehen; sie empfand es jedoch nicht bei ihrem unablässig thätigen Gleichmuth. Der Vater dauerte mich am meisten. Um meinetwillen hatte er einen streng geschlossenen Haushalt mit Anstand erweitert und genoß besonders bei Tisch, wo die Gegenwart von Fremden auch einheimische Freunde und immer wieder sonstige Durchreisende heranzog, sehr gern eines muntern, ja paradoxen Gespräches, da ich ihm denn, durch allerlei dialektisches Klopffechten großes Behagen und ein freundliches Lächeln bereitete: denn ich hatte die gottlose Art alles zu bestreiten, aber nur insofern hartnäckig, daß derjenige, der Recht behielt, auf alle Fälle lächerlich wurde. Hieran war nun in den letzten Wochen gar nicht zu denken; denn die glücklichsten heitersten Ereignisse, veranlaßt durch wohlgelungene Nebencuren des durch die Hauptcur so unglücklichen Freundes, konnten nicht greifen, viel weniger der traurigen Stimmung eine andere Wendung geben.

Denn so machte uns im Einzelnen ein alter blinder Betteljude aus dem Isenburgischen zu lachen, der, in dem höchsten Elend nach Frankfurt geführt, kaum ein Obdach, kaum eine kümmerliche Nahrung und Wartung finden konnte, dem aber die zähe orientalische Natur so gut nachhalf, daß er, vollkommen und ohne die mindeste Beschwerde, sich mit Entzücken geheilt sah. Als man ihn fragte, ob die Operation geschmerzt habe? so sagte er nach der hyperbolischen Weise: Wenn ich eine Million Augen hätte, so wollte ich sie jedesmal für ein halb Kopfstück sämmtlich nach und nach operiren lassen. Bei seinem Abwandern betrug er sich in der Fahrgasse eben so excentrisch; er dankte Gott auf gut alttestamentlich, pries den Herrn und den Wundermann, seinen Gesandten. So schritt er in dieser langen gewerbreichen Straße langsam der Brücke zu. Verkäufer und Käufer traten aus den Läden heraus, überrascht durch einen so seltenen frommen, leidenschaftlich vor aller Welt ausgesprochenen Enthusiasmus; alle waren angeregt zur Theilnahme, dergestalt, daß er, ohne irgend zu fordern oder zu heischen, mit reichlichen Gaben zur Wegezehrung beglückt wurde.

Eines solchen heitern Vorfalls durfte man in unserm Kreise aber kaum erwähnen; denn wenn der Ärmste, in seiner sandigen Heimath über Main, in häuslichem Elend höchst glücklich gedacht werden konnte, so vermißte dagegen ein Wohlhabender, Würdiger dießseits das unschätzbare, zunächst gehoffte Behagen.

Kränkend war daher für unsern guten Jung der Empfang der tausend Gulden, die, auf jeden Fall bedungen, von großmüthigen Menschen edel bezahlt wurden. Diese Baarschafl sollte bei seiner Rückkehr einen Theil der Schulden auslöschen, die auf traurigen, ja unseligen Zuständen lasteten.

Und so schied er trostlos von uns, denn er sah zurückkehrend den Empfang einer sorglichen Frau, das veränderte Begegnen von wohldenkenden Schwiegereltern, die sich, als Bürgen für so manche Schulden des allzu zuversichtlichen Mannes, in der Wahl eines Lebensgefährten für ihre Tochter vergriffen zu haben glauben konnten. Hohn und Spott der ohnehin im Glücke schon Mißwollenden konnte er in diesem und jenem Hause, aus diesem und jenem Fenster schon voraussehen; eine durch seine Abwesenheit schon verkümmerte, durch diesen Unfall in ihren Wurzeln bedrohte Praxis mußte ihn äußerst ängstigen.

So entließen wir ihn, von unserer Seite jedoch nicht ganz ohne Hoffnung, denn seine tüchtige Natur, gestützt auf den Glauben an übernatürliche Hülfe, mußte seinen Freunden eine stillbescheidne Zuversicht einflößen.

J. H. Jung-Stilling, Lebensgeschichte (Grollmann S. 338)

Frankfurt 11. 2./11. 3. 1775

Der Herr von Leesner wurde, aller Mühe ungeachtet, nicht sehend ... Jetzt glaubte Stilling, er müßte vergehen, er rang mit Gott um Hülfe, aber Alles vergebens, alle freundlichen Gesichter verschwanden, alles zog sich zurück und Stilling blieb in seinem Jammer allein: Freund Göthe und seine Eltern suchten ihn aufzurichten; allein das half nicht, er sah nun weiter nichts als eine schreckliche Zukunft.

J. H. Jung-Stilling an M. Dann 9. 6. 1802 (Lager-Kat. Meyer & Ernst 6, 42)

Frankfurt 11. 2./11. 3. 1775

Er [der Prediger Ewald] war in seiner Jugend ein gros Genie, Bel-esprit und verliebter bon vivant, so wurde er Prediger in Offenbach bey Frankfurth, und so traf ich ihn Ao. 1775 in Frankreich [Frankfurt] bey Göthe an.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0386 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0386.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 320 ff. (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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