Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 46
Von Friedrich Heinrich Jacobi

25. März 1775, Düsseldorf

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Ich bin eine Zeit her durch leidige Geschäfte sehr zerstreuet worden; den-
noch brachte ich manche Stunde allein und still zu mit dir, und dies letzte
ist Ursache, daß du so lange keine Briefe von mir erhalten hast. Ich ge-
nieße mehr von dir aus mir selber, als du mir eigentlich darreichst. –
Lieber, du warst hier bey mir, ich war zu Frankfurt bei dir, und wir
werden wieder zu einander kommen. O mein Herz weißagt mir soviel
woran ich vest glaube! Da hab ich dann im Vergangenen und in der
Zukunft, was beßer ist als das Gegenwärtige, und so leb' ich im
Geist und gewiß auch in der Wahrheit. Oft nehm' ich wohl Papier
und Feder, und mein, ich werde dir etwas schreiben; aber hernach
findt sich immer, daß das was ich dir nicht schreiben kann, so
sehr viel mehr so sehr viel beßer ist, als was ich schreiben
könnte, daß ich's verschmäh, und lieber harre. Aber das Drängen
zu dir hin läßt sich doch nicht stillen; und die volle Seele, die das all
in sich verschließen soll, all die Liebe, die sie hat, all –––
ach! weiß sich nicht zu laßen, meint oft zu vergehen.

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   Lenzens herzige Briefe über Werthers Moralität haben mir manche
schöne Stunde gemacht. Ich habe sie zu verschiedenen mahlen ganz durchge-
lesen, und mehrentheils mit Entzücken, und doch kann ich nicht für gut
halten, daß sie gedruckt werden. Ich bitte dich, Bruder; nimm die Brie-
fe noch einmahl zur Hand, und bilde dir ein, du läsest sie einem
sichern ausgesuchten Publiko laut vor: deiner selbst und der deinigen
mußt du mittlerweile vergeßen, um nur mit deinen Zuhörern zu
symphathiesieren: wenn du alsdann nicht öfter stockst, bald in die-
se, bald in jene Verlegenheit geräthst, und zwanzigmahl die Idee
diese Vorlesung anzustellen zum Teufel wünschest; so will ich Un-
recht haben. – Denn sieh! was Lenzens Briefe uns so lieb macht,
daß wir auch das Stammeln und die blaße Farbe der Schönen
reizend finden, das fühlen, das faßen nur die, welche jener Briefe
eigentlich nicht bedürfen; die andern hingegen wird des Mädchens blaße
Farbe, ihr Stammeln und Schnappen so sehr beleidigen, daß sie es
kaum eines flüchtigen Blicks würdig achten, daß sie seiner und unsrer
spotten werden.


   Die Zugabe zu den Briefen ist vortreflich, durchaus vortreflich. | 3 |
Mit nächstem Postwagen schick ich dir alles nach Frankfurt zurück. Willst
du es doch gedruckt haben; so sprich nur ein Wort, und ich schaff dirs,
wie ein Blitz, durch ganz Deutschland herum. Aber dann müßtest du
nothwendig in den Briefen dies und jenes wenigstens etwas ver-
beßern, das zu flach, zu überhudelt, zu unbedacht ist; auch, wo
möglich, den sausenden Ton ein bischen tüschen, der durchherrscht
und nur Wirrwarr aufbraust. Besieh gleich den ersten Brief
ein Bißchen genauer, so wird dir hernach vieles von selbst auf-
stoßen. Einige der herrlichsten Sachen stehen unterst der öberst,
und nicht am rechten Fleck: so ist, z. B, die schöne Stelle im
VIten Briefe: "die scheinbare Großmuth, mit der ein Liebhaber
seinem Freunde seine Geliebte abtritt, ist mir von jeher wie ein
Schlag ins Gesicht gewesen" u. s. w – nicht treffend, denn der
Berliner Albert tritt Lotte nicht aus Freundschaft, sondern darum
ab, weil er merkt, daß sie Werthern mehr liebt als ihn; es ist
ehender Klugheit als Großmuth, was ihn bewegt, und das gesteht
er gerade zu; er fand, Lotte dien ihm nicht zum Weibe: wohl-
weise hatte er sie gewählt, wohlweise dimittiert er sie wieder.

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   Was im IXten Briefe von Rousseau's St. Preux gesagt wird, ist
grundfalsch; denn dieser gute Schweitzer wäre ehender ich weiß
nicht was für ein Landsmann und alles in der Welt, als ein faseln-
der Franzose.


   Das Ende des letzten Briefes ließ sich leicht ins heroisch co-
mische verzerren.


   Lieber, wie stehts um die Schattenriße für Iris – willst du
uns die ô besorgen?


   Daß ich so wenig von dir höre! Wenn ich doch Mittel auch blos v deinem
äußerlichen Leben mehr zu erfahren.


   Was das für mich ist, daß du hier warest! du weißt es ô. –
und wenn ich einmal werde herum gehen u verkündigen können: er
ist wieder da.


   Hier eine Ode u. s. w.


Diesen Abend erwart' ich Stella. – – Lieber ich bebe
vor dem Drängen zu dir hin wenn's mich so ganz faßt.


S:  GSA 51/II,2 St. 10  D:  JacobiI 2, Nr. 402  B : 1775 März 21 (WA IV 2, Nr. 306)  B? : 1775 März (WA IV 7, Nr. 306a)  A : 1775 April (WA IV 7, Nr. 327a; 3, 326f.); 1775 April 1, 5, 13 und 20 (vgl. 3, 312); 1775 April 27, Mai 3 und 11 (vgl. 3, 313)  V:  Konzept 

Entschuldigung wegen ausgebliebener Briefe, verursacht durch leidige Geschäfte; dennoch habe J. im Geiste manche Stunde allein und still mit G. zugebracht. Von seiner starken inneren Verbundenheit mit G. - J. M. R. Lenz' "Briefe über die Moralität der Leiden des jungen Werthers" hätten ihm manche schöne Stunde gemacht, doch rate er ab, sie drucken zu lassen. [...] was Lenzens Briefe uns so lieb macht, daß wir auch das Stammeln und die blaße Farbe der Schönen reizend finden, das fühlen, das faßen nur die, welche jener Briefe eigentlich nicht bedürfen [...]. Die Zugabe zu den Briefen sei vortrefflich, mit dem nächsten Postwagen gehe alles nach Frankfurt zurück. Sollten die Briefe doch gedruckt werden, wäre er bereit, diese wie ein Blitz durch ganz Deutschland zu schaffen; doch sollte G. den sausenden Ton ein bischen tüschen, der durchherrscht und nur Wirrwarr aufbraust. J. nimmt weiterhin Anstand an Stellen im 6. Brief, im 9. Brief, wo etwas Grundfalsches von Rousseau's St. Preux (aus: "Julie ou la Nouvelle Héloïse") gesagt werde, und am Schluß des letzten Briefes, der sich, leicht ins heroisch komische verzerren lasse. - Ob G. Schattenrisse für die Zeitschrift "Iris" besorgen wolle? - G.s "Stella" (Manuskript) werde erwartet.

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 Ich bin eine Zeit her durch leidige Geschäfte sehr zerstreuet worden; dennoch brachte ich manche Stunde allein und still zu mit dir, und dies letzte ist Ursache, daß du so lange keine Briefe von mir erhalten hast. Ich genieße mehr von dir aus mir selber, als du mir eigentlich darreichst. – Lieber, du warst hier bey mir, ich war zu Frankfurt bei dir, und wir werden wieder zu einander kommen. O mein Herz weißagt mir soviel woran ich vest glaube! Da hab ich dann im Vergangenen und in der Zukunft, was beßer ist als das Gegenwärtige, und so leb' ich im Geist und gewiß auch in der Wahrheit. Oft nehm' ich wohl Papier und Feder, und mein, ich werde dir etwas schreiben; aber hernach findt sich immer, daß das was ich dir nicht schreiben kann, so sehr viel mehr so sehr viel beßer ist, als was ich schreiben könnte, daß ich's verschmäh, und lieber harre. Aber das Drängen zu dir hin läßt sich doch nicht stillen; und die volle Seele, die das all in sich verschließen soll, all die Liebe, die sie hat, all ––– ach! weiß sich nicht zu laßen, meint oft zu vergehen.

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  Lenzens herzige Briefe über Werthers Moralität haben mir manche schöne Stunde gemacht. Ich habe sie zu verschiedenen mahlen ganz durchgelesen, und mehrentheils mit Entzücken, und doch kann ich nicht für gut halten, daß sie gedruckt werden. Ich bitte dich, Bruder; nimm die Briefe noch einmahl zur Hand, und bilde dir ein, du läsest sie einem sichern ausgesuchten Publiko laut vor: deiner selbst und der deinigen mußt du mittlerweile vergeßen, um nur mit deinen Zuhörern zu symphathiesieren: wenn du alsdann nicht öfter stockst, bald in diese, bald in jene Verlegenheit geräthst, und zwanzigmahl die Idee diese Vorlesung anzustellen zum Teufel wünschest; so will ich Unrecht haben. – Denn sieh! was Lenzens Briefe uns so lieb macht, daß wir auch das Stammeln und die blaße Farbe der Schönen reizend finden, das fühlen, das faßen nur die, welche jener Briefe eigentlich nicht bedürfen; die andern hingegen wird des Mädchens blaße Farbe, ihr Stammeln und Schnappen so sehr beleidigen, daß sie es kaum eines flüchtigen Blicks würdig achten, daß sie seiner und unsrer spotten werden.

  Die Zugabe zu den Briefen ist vortreflich, durchaus vortreflich.| 3 | Mit nächstem Postwagen schick ich dir alles nach Frankfurt zurück. Willst du es doch gedruckt haben; so sprich nur ein Wort, und ich schaff dirs, wie ein Blitz, durch ganz Deutschland herum. Aber dann müßtest du nothwendig in den Briefen dies und jenes wenigstens etwas verbeßern, das zu flach, zu überhudelt, zu unbedacht ist; auch, wo möglich, den sausenden Ton ein bischen tüschen, der durchherrscht und nur Wirrwarr aufbraust. Besieh gleich den ersten Brief ein Bißchen genauer, so wird dir hernach vieles von selbst aufstoßen. Einige der herrlichsten Sachen stehen unterst der öberst, und nicht am rechten Fleck: so ist, z. B, die schöne Stelle im VIten Briefe: "die scheinbare Großmuth, mit der ein Liebhaber seinem Freunde seine Geliebte abtritt, ist mir von jeher wie ein Schlag ins Gesicht gewesen" u. s. w – nicht treffend, denn der Berliner Albert tritt Lotte nicht aus Freundschaft, sondern darum ab, weil er merkt, daß sie Werthern mehr liebt als ihn; es ist ehender Klugheit als Großmuth, was ihn bewegt, und das gesteht er gerade zu; er fand, Lotte dien ihm nicht zum Weibe: wohlweise hatte er sie gewählt, wohlweise dimittiert er sie wieder.

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  Was im IXten Briefe von Rousseau's St. Preux gesagt wird, ist grundfalsch; denn dieser gute Schweitzer wäre ehender ich weiß nicht was für ein Landsmann und alles in der Welt, als ein faselnder Franzose.

  Das Ende des letzten Briefes ließ sich leicht ins heroisch comische verzerren.

  Lieber, wie stehts um die Schattenriße für Iris – willst du uns die ô besorgen?

  Daß ich so wenig von dir höre! Wenn ich doch Mittel auch blos v deinem äußerlichen Leben mehr zu erfahren.

  Was das für mich ist, daß du hier warest! du weißt es ô. – und wenn ich einmal werde herum gehen u verkündigen können: er ist wieder da.

  Hier eine Ode u. s. w.

 Diesen Abend erwart' ich Stella. – – Lieber ich bebe vor dem Drängen zu dir hin wenn's mich so ganz faßt.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
RA 1, Nr. 46, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0046_00049.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 46.

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