Goethes Briefe: GB 2, Nr. 221
An Johann Gottfried Herder

〈Frankfurt a. M. 〉, 1. April 1775. Samstag → Bückeburg


Lieber Bruder schreib mir doch manchmal, grimm oder gut, uber alles und nichts! – Sieh da die Welt so voll Scheiskerle ist, sollten ​ 1 wir doch miteinander, tissiren und scheisen. Warum ich das ​ 2 alleweil schreibe? ​ 3 da krieg ich nach Tisch ein Büchlein zur Hand Hℓ. Prof Meiners Versuch —— Egyptier – He! – sagt ich, und blättre, wo kommt da Bruder Herder vor? – denn ich denck das ist auf ​Anlas! mehr oder weniger – finde dich nun freylich nit , weder im guten noch bösen, – das verfluchteste Sauzeug vom See Möris, und travestirten Leichenzeremonien der Egipter ​ 4 pppp ​ 5 und so ​ 6 ​Orpheus !!! pppppppppp ​ 7 —— Und hinten, nach ​ 8 ss. ß. Z. zz i–y. auch deinen Nahmen ​ 9 , und im seidnen Mantel und Kräglein flinck, dir eine schnäppische 10 Verbeugung ​dass ​er doch auch pp. – Ade Bruder. die Hess hat mir den Brief des Schweizer Bauern geschickt. – Klopstock war ehgestern bey mir, geht nach Hamburg – hab auch vor drey tagen Merck in Langen gesehn – Grüs dein Weib.

  dℓ. 1 April. 75.G.

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H: Biblioteka Jagiellońska Kraków (Krakau), Autographensammlung Goethe, bis 1945 Preußische Staatsbibliothek Berlin. – Doppelblatt 19 × 22,9 cm, 1 S. beschr., egh., Tinte; S. 3 Adresse: Herrn / Konsistorial Rath ​Herder / nach / ​Bückeburg / fr ​anko Paterborn (Schluss von fremder Hd hinzugefügt); unter der Adresse rotes Initialsiegel: „G“; Bl. 2 am äußeren Rand durch Öffnen des Siegels ausgerissen.

E: Aus Herders Nachlaß 1 (1856), 51 f., Nr 11.

WA IV 2 (1887), 252, Nr 315 (nach E; Hinweis auf H und Textkorrekturen in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 206 [zu Nr 88] und 212).

Ein Bezugs- und ein Antwortbrief sind nicht bekannt. Goethes nächster Brief an Herder aus der Zeit zwischen dem 10. und 13. Mai 1775 ( Nr 238 ) antwortet auf die Zusendung von Büchern und einer Silhouette; ein Begleitschreiben zu der Sendung ist nicht überliefert.

Postsendungen: 1. April 1775 (AB, 3).

Der burschikose Ton des Briefes diente möglicherweise dem Verbergen einer Verlegenheit, die Goethe angesichts des gestörten Verhältnisses zu Herder empfand (so auch DjG​3 5, 418 f.); vgl. GB 1 II, einleitende Erläuterung zu Nr 80 .

tissiren] Franz. tisser: weben, wirken.

Prof Meiners Versuch] Versuch über die Religionsgeschichte der ältesten Völker besonders der Egyptier von Christoph Meiners. Göttingen 1775. – Meiners war Professor der Philosophie in Göttingen.

auf ​Anlas] Gemeint ist: aus Anlass von Herders Abhandlung „Aelteste Urkunde des Menschengeschlechts“, deren 1. Band 1774 erschienen und von Meiners rezensiert worden war (vgl. Philologische Bibliothek. 3. Bd. 1. Stück, S. 60–83; 2. Stück, S. 95–127).

finde dich nun freylich nit] Meiners schreibt in einer „Nacherinnerung“: „Noch muß ich ein Paar Worte für diejenigen anhängen, denen es einfallen könnte, meine Hypothesen über verschiedene Puncte der egyptischen Religion und Philosophie mit Hr. Herders Gedanken zu vergleichen, die er in der vortrefflichen Schrift über die älteste Urkunde des Menschengeschlechts geäußert hat.“ (S. 327.) Diese Abhandlung, so erklärt er, habe er erst nach Fertigstellung des Manuskripts bei Drucklegung seines Buches kennen gelernt (vgl. ebd.).

nit] Oberdt. für ‚nicht‘ (vgl. Adelung 3, 485).

See Möris] See am linken Oberlauf des Nils südlich des Deltas. Unter dem ägyptischen König Amenemhet III. (1842–1797 v. Chr.) wurde durch die Anlage des Moeris-Sees die Oase Faiyûm erschlossen und die Landschaft kultiviert; am Ufer des Sees wurde bei Hawara (‚Labyrinth‘) der Totentempel des Königs errichtet.

travestirten Leichenzeremonien] Das Thema des 3. Kapitels von Meiners' „Versuch über die Religionsgeschichte der ältesten Völker“ lautet: „Die Egyptier waren eine Originalnation, und stammten weder von den Ethiopiern noch irgend einer andern Nation ab.“ (S. 41.) Die bei anderen Nationen in ähnlichen Formen (‚travestiert‘) auftretenden „Trauerceremonien“ und die Sitte der „Einbalsamierung“ (S. 45) seien so zu erklären, dass sie – so Meiners – durch diese Völker von den Ägyptern übernommen wurden (vgl. S. 53).

​Orpheus] Mythischer griechischer Sänger, auf den (nur fragmentarisch überlieferte) theogonisch-kosmogonische Dichtungen zurückgeführt werden, die man als ‚Orphik‘ bezeichnet. Bei Meiners heißt es: „Pythagoras und Plato, Orpheus und Thales reiseten nach Egypten, um sich in aller dieses Landes Weißheit unterrichten zu lassen.“ (S. 259.)

nach ss. 〈…〉 i–y.] Anspielung auf die „Unbeständigkeit der Rechtschreibung“ in Meiners' Buch, für die sich dieser in der „Nacherinnerung“ entschuldigt: „Dasselbe Wort wird bald mit C bald mit K, bald mit E, dann mit Ae, mit ß, ss, mit i, und y geschrieben vorkommen.“ (S. 326.)

im seidnen Mantel und Kräglein flinck] Selbstzitat Goethes aus dem 1774 erschienenen „Prolog zu den neusten Offenbarungen Gottes“ (Vers 41; DjG​3 4, 341).

schnäppische] Schnippisch: „schnell und keck im Reden“ (Adelung 3, 1587).

die Hess] Friederike Katharina von Hesse geb. Flachsland, Herders Schwägerin in Darmstadt.

Brief des Schweizer Bauern] Ein Brief des Schweizer Bauern Heinrich Boßhard über Herders „Aelteste Urkunde“; vgl. zu 180,10 .

Klopstock war ehgestern bey mir] Vgl. zu 181,6 .

ehgestern] Vorgestern; im 18. Jahrhundert noch gebräuchliche Form (vgl. Adelung 1, 1644).

Langen] Marktflecken am Handelsweg zwischen Frankfurt und Darmstadt, Stadtrecht seit Ende des 19. Jahrhunderts; dort trafen sich Goethe und Merck mehrfach (vgl. 118,30 ).

dein Weib] Caroline Herder geb. Flachsland.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 221 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR221_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 182, Nr 221 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 457–458, Nr 221 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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