Goethes Briefe: GB 2, Nr. 207
An Augusta Louise Gräfin zu Stolberg-Stolberg

〈Offenbach , 7. März – Frankfurt a. M. 〉, 10. März 〈1775. Dienstag–Freitag〉 → 〈Uetersen〉


Warum soll ich Ihnen nicht schreiben, warum wieder die Feder liegen lassen, nach der ich bisher so offt reichte. Wie immer immer hab ich an Sie gedacht. Und iezzo! – Auf dem Land bey sehr lieben Menschen in Erwartung – liebe Augste – Gott weis ich bin ein armer Junge – dℓ. 28 Febr haben wir getanzt die Fassnacht beschlossen – ich war mit von den ersten im Saale, ging auf und ab, dachte an Sie – und dann – viel freud und Lieb umgab mich – Morgends da ich nach Hause kam, wollt ich Ihnen schreiben, liess es aber und redete viel mit Ihnen – Was soll ich Ihnen sagen, da ich Ihnen meinen gegenwärtigen Zustand nicht ganz sagen kann, da Sie mich nicht kennen. Liebe! Liebe! bleiben Sie mir hold – Ich wollt ich könnt auf Ihrer Hand ruhen, in Ihrem Aug rasten. Groser Gott was ist das Herz des Menschen! – Gute Nacht. Ich dachte mir sollts unterm Schreiben besser werden – Umsonst mein Kopf ist überspannt. Ade. heut ist der 6. März denck ich. Schreiben Sie doch auch immer die daten in solcher Entfernung ist das viel Freud.

═══ Guten Morgen liebe. Die Zimmerleute, die dadrüben einen Bau aufschlagen, haben mich aufgewegt, und ich habe keine Rast im Bette. Ich will an meine Schwester schreiben, und dann mit Ihnen noch ein Wort. /


Es ist Nacht, ich wollte noch in Garten, musste aber unter der Thüre stehen bleiben, es regnet sehr. Viel hab ich an Sie gedacht! Gedacht dass ich für Ihre Silhouette noch nicht gedanckt habe! Wie offt hab ich schon dafür gedanckt, wie ist mein und meines Bruder Lavaters Phisiognomischer Glaube wieder bestätigt. diese rein sinnende Stirn diese süsse Festigkeit der Nase, diese liebe Lippe dieses gewisse Kinn, der Adel des ganzen!! dancke meine Liebe dancke. – Heut war der Tag wunderbaar. habe gezeichnet – eine Scene geschrieben. O wenn ich iezt nicht dramas schriebe ich ging zu Grund. Bald schick ich Ihnen eins geschrieben – Könnt ich gegen Ihnen über sizzen, und es selbst in Ihr Herz ​ 1 wurcken, – Liebe nur dass es Ihnen nicht aus Händen kommt. Ich mag das nicht drucken lassen denn ich will, wenn Gott will künftig meine Freu- und Kinder, in ein Eckelgen begraben oder etabliren; ohne ​ 2 es dem Publiko auf die Nase zu hängen. Ich bin das ausgraben, und seziren meines armen Werthers so satt. Wo ich in eine Stube trete find ich das Berliner ppp hundezeug, der eine schilt drauf, der andre lobts, der dritte sagt es geht doch an, und so hezt mich einer wie der andere. – Nun denn Sie nehmen mir auch das nicht übel – Nimmt mirs doch nichts an meinem innern Ganzen, rührt und rückts mich doch nicht in meinen Arbeiten, die immer nur die aufbewahrten Freuden und Leiden meines ​ 3 Lebens sind – denn ob ich gleich finde dass es viel raisonnabler sey Hünerblut zu vergiessen als sein eig'nes – die Kinder tollen über mir, es ist mir bessr ich geh hinauf als zu tief in Text zu gerathen. /

Ich hab das ältste Mädgen lassen anderthalb Seiten ​ 4 im Paradiesgärtlein 5 herab buchstabiren, mir ​ 6 ist ganz wohl, und so gesegnete Mahlzeit. Ade! – Warum sag ich dir nicht alles – Beste – Geduld Geduld hab mit mir!

═══ den 10ten, wieder in der Stadt auf meiner Bergere, aufm Knie schreib ich Ihnen. Liebe der Brief soll heute fort, und nur sag ich Ihnen noch dass mein Kopf ziemlich heiter mein Herz leidlich frey ist – Was sag ich – ! o beste wie wollen wir Ausdrücke ​ 7 finden für das was wir fühlen! Beste wie können wir einander was von unserm Zustande melden, da der von Stund zu Stund wechselt.

Ich hoffe auf einen Brief von Ihnen, und die hoffnung lässt nicht zu schanden werden.


/


Geseegnet der gute Trieb der mir eingab statt allen weitern Schreibens, Ihnen meine Stube, wie sie da vor mir steht, zu zeichnen. Adieu. halten Sie einen armen iungen am Herzen. Geb Ihnen der gute Vater im Himmel viel muthige frohe Stunden wie ich deren offt hab, und dann lass die dämmrung kommen, tränenvoll und seelig – Amen

Ade liebe Ade!

Goethe

  1. h ​Herz​ ↑
  2. ich bin ohne​ ↑
  3. w meines​ ↑
  4. s ​Seiten​ ↑
  5. Paradie s ​sgärtlein (langes s zu Schluss-s) ​ ↑
  6. buchstabiren lassen, mir ​ ↑
  7. a ​Ausdrücke​ ↑

Das Jahr lässt sich aus dem Inhalt erschließen: Der Briefwechsel mit Augusta zu Stolberg setzte im Januar 1775 ein; da Goethe im März 1776 schon in Weimar war, kann der vorliegende Brief nur 1775 geschrieben worden sein. – Goethe brach erst am Dienstag, dem 7. März 1775, nach Offenbach auf (vgl. Datierung zu Nr 205 ). Da der Brief in Offenbach begonnen wurde (vgl. zu 170,3 ), muss die Datierung des Anfangsteils, heut ist der 6. März denck ich. ( 170,14 ), zu ‚7. März‘ korrigiert werden.

H: FDH/FGM Frankfurt a. M., Sign.: 25744, ehemals Slg Brockhaus. – Doppelblatt 18,7 × 23,2(–23,5) cm, 2 S. vollständig beschr. (S. 1–2), 2 S. je zur Hälfte beschr. (S. 3–4), egh., Tinte; S. 3 untere Hälfte Federzeichnung 18,7(–19) × 11,5 cm, Tinte: Goethes Frankfurter Mansardenzimmer; Bl. 2 untere Hälfte (Zeichnung) ausgeschnitten, wieder eingefügt, Schnittstellen restauriert; S. 4 zwischen Gruß und Unterschrift angedeuteter Devotionshaken. – Faksimiles: Abb. 12–15 (S. 171–174); Zum 28. August 1899. Privatdruck: Brockhaus. Leipzig 1899, S. 16a–d; Corpus VIb (1971), Nr 174 (Zeichnung; Beschreibung nach einer Kopie, S. 62 f.); Teilfaksimile: Patrimonia 67 (1993), 18 ( 175,15–26 Ich hab das ältste Mädgen 〈…〉 zu schanden werden.; Zeichnung).

E: Goethe-Stolberg​1 (1839), 83–86, Nr 3.

WA IV 2 (1887), 240–243, Nr 301 (wahrscheinlich nach Goethe-Stolberg​2 [1881], 10–14, Nr 3; Hinweis auf H und Textkorrekturen in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 212).

Der Brief beantwortet einen nicht überlieferten Brief Augusta zu Stolbergs von Ende Februar/Anfang März 1775 (vgl. zu 170,22 ). – Der Antwortbrief aus der zweiten Märzhälfte 1775 (vgl. 178,15 ) ist nicht überliefert.

Auf dem Land] Das im Vergleich zu Frankfurt ländlichere Offenbach. In einem Paralipomenon zum 17. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ vom Dezember 1816 notierte Goethe unter dem Stichwort ​Offenbach : Befreyung aus dem Zwang durch Landleben. (AA DuW 2, 600, Paralipomenon 134.1.)

bey sehr lieben Menschen] In Offenbach wohnte Goethe im Haus eines Freundes, des Komponisten und Musikverlegers Johann André, in der Herrenstraße am Main. Zu seinen Offenbacher Freunden gehörten außerdem der Pfarrer Johann Ludwig Ewald und Verwandte Anna Elisabeth Schönemanns, darunter ihr Cousin, der Kaufmann Jean George d'Orville, und dessen Frau Jeanne Rahel (vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 223 ) sowie Nicolaus Bernard, Begründer der Offenbacher Schnupftabakfabrik, die zu den ersten industriellen Unternehmen am Ort zählte. Er war der Onkel Jeanne Rahel d'Orvilles und Senior der Familie. – Vgl. dazu Goethes späte Beschreibung im 17. Buch von „Dichtung und Wahrheit“: Ofenbach am Mayn zeigte schon damals bedeutende Anfänge einer Stadt die sich in der Folge zu bilden versprach. Schöne für die damalige Zeit prächtige Gebäude hatten sich schon hervorgethan; Onkel Bernhard wie ich ihn gleich mit seinem Familientitel nennen will bewohnte das größte; weitläufige Fabrikgebäude schlossen sich an; D'Orville ein jüngerer lebhafter Mann von liebenswürdigen Eigenheiten, wohnte gegenüber. Anstoßende Gärten, Terrassen bis an den Mayn reichend überall freyen Ausgang nach der holden Umgegend erlaubend, setzten den Eintretenden und Verweilenden in ein stattliches Behagen. (AA DuW 1, 572.)

in Erwartung –] Zu ergänzen ist: ‚Lilis‘, d. h. Anna Elisabeth Schönemanns, die Goethe bei ihren Verwandten in Offenbach treffen wollte (vgl. Datierung zu Nr 206 ).

Augste] Frankfurterisch für ‚Augusta‘. – Inzwischen hatte offenbar auch die Adressatin selbst ihre Identität zu erkennen gegeben, da Goethe sie hier erstmals in seinen Briefen namentlich anspricht (vgl. zu 164,35 ).

Zustand nicht ganz sagen kann] In seinen ersten Briefen an Augusta spricht Goethe nur mittelbar von seiner Beziehung zu Anna Elisabeth Schönemann, deren Namen er erst im Brief vom 3. August 1775 erwähnt (vgl. 205,18 ).

der 6. März denck ich] Es war der 7. März (vgl. Datierung).

einen Bau] Gemeint sein könnte die Bernardsche Tabakfabrik oder das neue Wohnhaus der d'Orvilles. Beide Baustellen lagen in der Nähe des Andréschen Hauses, von wo aus Goethe den Lärm der Zimmerleute hätte hören können (vgl. W. Heraeus: Nicolaus Bernard und sein Verwandtenkreis. In: Blätter des Offenbacher Geschichtsvereins. 9 [1933], S. 19–21).

aufschlagen] Hier: zurüsten, bauen, „wobei man balken auf balken in die höhe schlägt“ (Grimm 1, 723).

aufgewegt] Mundartlich für ‚aufgeweckt‘.

an meine Schwester schreiben] Ein Brief Goethes an seine Schwester von März 1775 ist nicht bekannt; nach seinem „Ausgabebüchlein“ ging erst am 7. April 1775 eine Briefsendung an die Schwester ab (vgl. EB 83 ). Cornelia, die seit November 1773 mit Goethes Frankfurter Freund Johann Georg Schlosser verheiratet war, lebte damals bereits in Emmendingen (vgl. zu 129,19 ). Wie Äußerungen Schlossers und auch die wenigen überlieferten Briefe Cornelia Schlossers aus dieser Zeit belegen, war sie seit ihrer ersten Schwangerschaft und der Geburt ihrer Tochter Louise im Oktober 1774 leidend (vgl. Witkowski, Cornelia, 93–100).

Ihre Silhouette] Offenbar mit dem Bezugsbrief von Ende Februar/Anfang März 1775 übersandt und wie dieser nicht überliefert. Im Nachlass Charlotte von Einems hat sich aus der Zeit um 1775 eine Silhouette Augusta zu Stolbergs erhalten, der das an Goethe gesandte Exemplar entsprochen haben könnte (Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Abteilung für Handschriften und seltene Drucke; Cod. Ms. v. Einem 7, Nr 9; Faksimile in: Elsa Plath-Langheinrich: Als Goethe nach Uetersen schrieb. Das Leben der Conventualin Augusta Louise Gräfin zu Stolberg-Stolberg. Neumünster 1993, S. 131).

mein und meines Bruder Lavaters Phisiognomischer Glaube] Lavater nahm seine physiognomischen Deutungen vor allem anhand von Silhouetten vor, die er über künstlerische Porträts stellte und in großer Zahl in den „Physiognomischen Fragmenten“ publizierte: „Das Schattenbild von einem Menschen, oder einem menschlichen Gesichte, ist das schwächste, das leereste, aber zugleich, wenn das Licht in gehöriger Entfernung gestanden; wenn das Gesicht auf eine reine Fläche gefallen – mit dieser Fläche parallel genug gewesen – das wahreste und getreueste Bild, das man von einem Menschen geben kann; das ​schwächste; denn es ist nichts Positifes; es ist nur was Negatifes, – nur die Gränzlinie des halben Gesichtes; – das ​getreueste, weil es ein unmittelbarer Abdruck der Natur ist, wie keiner, auch der geschickteste Zeichner, einen nach der Natur von freyer Hand zu machen im Stande ist.“ (Physiognomische Fragmente 2, 90 [11. Fragment].)

diese rein sinnende Stirn 〈…〉 des ganzen!!] Vgl. dazu Lavaters Unterteilung einer Silhouette in „9. horizontale Hauptabschnitte 〈…〉 / 1.) Den ​Bogen des ​Scheitels bis zum Ansatz des Haars. 2.) Den ​Umriß der Stirne bis ​zur Augenbraune. 3.) Den ​Raum von der Augenbraune bis zur ​Nasenwurzel, dem Ansatz der Nase. 4.) Die ​Nase bis zur Oberlippe. 5.) Die ​Oberlippe. 6.) Die ​eigentlichen Lippen. 7.) Das ​Oberkinn. 8.) Das ​Unterkinn. 9.) Den ​Hals. Sodann noch das ​Hinterhaupt, und den ​Nacken. / Jeder einzelne Theil dieser Abschnitte ist an sich ein Buchstabe, oft eine Sylbe, oft ein Wort, oft eine ganze Rede – der Wahrheit redenden Natur.“ (Physiognomische Fragmente 2, 96 f. [12. Fragment].)

habe gezeichnet – eine Scene geschrieben.] Goethes gesteigerte Produktivität erstreckte sich in dieser Zeit nicht nur auf die Literatur, parallel entstanden zahlreiche Kreide-, Feder- und Bleistiftzeichnungen (vgl. Corpus I, Nr 85–105). Anfang 1775 nahm er bei Georg Melchior Kraus Zeichenunterricht (vgl. zu 164,3–6 ). An Herder hatte er schon im Dezember 1772 geschrieben: Ich binn ietzt ganz Zeichner 〈…〉. (GB 1 I, 248,5 .) Mit Merck in Darmstadt versuchte er sich auch im Kupferstechen (vgl. GB 1 II, zu 244,11 ). Über die enge Verbindung, die zu dieser Zeit zwischen seinem literarischen und seinem zeichnerischen Schaffen bestand, urteilte Goethe rückblickend in seiner Autobiographie: Zu jener Zeit aber ging bey mir das Dichten und Bilden unaufhaltsam miteinander. Ich zeichnete die Portraite meiner Freunde im Profil auf grau Papier mit weißer und schwarzer Kreide. Wenn ich dictirte oder mir vorlesen ließ, entwarf ich die Stellungen der Schreibenden und Lesenden, mit ihrer Umgebung; die Aehnlichkeit war nicht zu verkennen und die Blätter wurden gut aufgenommen. Diesen Vortheil haben Dilettanten immer, weil sie ihre Arbeit umsonst geben. Das Unzulängliche dieses Abbildens jedoch fühlend, griff ich wieder zu Sprache und Rhythmus, die mir besser zu Gebote standen. (AA DuW 1, 528 [15. Buch].) Vgl. auch die Art der Darstellung seines Frankfurter Zimmers als Künstleratelier im vorliegenden Brief (Abb. 14, S. 173). – Goethe könnte in Offenbach an einer Szene der „Stella“ geschrieben haben.

dramas] Die Pluralbildung ‚Dramas‘ begegnet in Goethes Briefen nur etwa bis zu Beginn der 1780er Jahre; zu Sache vgl. zu 164,15 .

schick ich Ihnen eins] Möglicherweise „Stella“, die Ende März fertig gewesen sein muss, wie aus Goethes Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 1., 12. oder 13. April 1775 hervorgeht (vgl. 184,13 ). Wahrscheinlich hat Goethe dieses Versprechen nicht erfüllt.

〈Zeichnung, Abb. 14〉] Die Federzeichnung zeigt Goethes Frankfurter Mansardenzimmer im Elternhaus am Großen Hirschgraben (vgl. auch GB 1 II, zu 4,25–26 ). Durch die im linken Bildteil dargestellte Staffelei und die die Wände bedeckenden Zeichnungen im Hintergrund erhält das Zimmer das Aussehen einer Künstlerwerkstatt (AA DuW 1, 528 [15. Buch]). August von Binzer, der erste Herausgeber der Briefe an Augusta zu Stolberg, ließ die Zeichnung lithographieren, vermutlich in der Absicht, sie seiner Ausgabe als Abbildung beizugeben. Sie erschien allerdings weder 1839 bei Binzer (Goethe-Stolberg​1) noch 1881 bei Arndt (Goethe-Stolberg​2), sondern wurde erst 1891 von Karl Heinemann nach einem Foto veröffentlicht (vgl. Goethes Mutter. Leipzig, S. 30). Eine Reproduktion nach der Lithographie Binzers erschien 1895 (vgl. C. v. Lützow: Das Frankfurter Dachstübchen. In: Chronik des Wiener Goethe-Vereins. Bd 9, zwischen S. 25 und 26). Danach wurde die Zeichnung mehrfach faksimiliert. Wahrscheinlich im Zusammenhang mit der Anfertigung der Lithographie wurde der Teil des Blattes, auf dem sich die Zeichnung befindet, ausgeschnitten, inzwischen aber wieder eingefügt (vgl. Überlieferung).

wurcken] Würgen; hier im übertragenen Sinn: hineinzwängen, (etwas) mit äußerster Anstrengung vollbringen (vgl. Adelung 4, 1629).

nicht drucken lassen] Ähnlich wie z. B. beim „Götz von Berlichingen“ hatte Goethe offenbar zunächst nicht vor, sein Drama „Stella“ zum Druck zu geben (zur Drucklegung des „Götz“ vgl. zu 32,22 ; zu 37,6–7 ). Erst im Herbst 1775, als er schon mit seinem Weggang aus Frankfurt rechnete, ließ er das Stück durch Merck dem Berliner Buchhändler Mylius anbieten, bei dem es dann Anfang 1776 erschien.

Freu-] Abbruch des Wortes am Zeilenende mit einem Trennungszeichen, auf der neuen Zeile nicht fortgeführt; wohl zu ‚Freuden‘ zu ergänzen.

das ausgraben, und seziren 〈…〉 Werthers] Die fast unmittelbar nach Erscheinen des Romans einsetzende ungewöhnlich starke Rezeption hatte Goethe zwar schlagartig berühmt gemacht, doch waren die Urteile nicht nur zustimmend. Neben polemischen Rezensionen erschienen Parodien, Imitationen, Fortsetzungen und Gegenstücke des „Werther“ sowie Versuche, die historischen Personen und Orte des Romans zu entschlüsseln (vgl. zu 138,6 und die folgende Erläuterung; zeitgenössische Rezensionen zum „Werther“ bei Blumenthal, 41-128). Außerdem wurde der Autor selbst zum Gegenstand von Zudringlichkeiten und öffentlicher Neugier.

das Berliner ppp hundezeug] Anspielung auf die damals wohl bekannteste „Wertheriade“, Friedrich Nicolais Satire „Freuden des jungen Werthers. Leiden und Freuden Werthers des Mannes. Voran und zuletzt ein Gespräch“, die im Januar 1775 in Berlin erschienen war. Goethe reagierte darauf u. a. mit einer dramatischen „Anekdote zu den Freuden des iungen Werthers“, die allerdings zu seinen Lebzeiten ungedruckt blieb (vgl. DjG​3 5, 33–35 und 425 f.).

raisonnabler] Von franz. raisonnable: vernünftig.

Hünerblut zu vergiessen] In seiner Satire hatte Nicolai u. a. den Schluss der Vorlage parodierend abgewandelt: Die von Albert geliehenen Pistolen waren mit Hühnerblut gefüllt. Als Werther sich nach dem Schuss schwer verletzt glaubt, erscheint Albert und gibt ihm nach einer erbaulichen Ansprache Lotte zur Frau: „A. ‚Guter Werther, bist 'n Tor! Wenn doch kalte Abstraktion nicht klüger wäre als versengte Einbildung! – Da, laß dir's Blut abwischen! Sah ich nicht, daß du 'n Querkopf warst und würd'st deinen bösen Willen haben wollen! Da lud ich dir die Pistolen mit 'ner Blase voll Blut, 's von 'em Huhn, das heute abend mit Lotten verzehren sollt'.' / Werther sprang auf: ,Seligkeit – Wonne! usw. –' Er umarmte Alberten. Er wollte es noch kaum glauben, daß sein Freund so großmütig gegen ihn handeln könne.“ (Blumenthal, 65.)

die Kinder] Gemeint sein könnten die Kinder der d'Orvilles: Jeanne Renée Susanne, geboren 1769, Jeanne Madeleine, geboren 1771, Susanne Elisabeth, geboren 1772, und Jacob Philippe, geboren 1773. Die Kinder der Familie Johann Andrés, zu dieser Zeit nur eine Tochter (Marie Julienne Philippine, geboren 1769) und zwei jüngere Söhne, kommen vermutlich nicht in Frage, da im Folgenden von dem ältsten Mädgen die Rede ist. – Vgl. Heraeus, 42 f. und 45.

das ältste Mädgen] Möglicherweise ist die älteste Tochter der d'Orvilles gemeint, die damals sechs Jahre alt war.

Paradiesgärtlein] Johann Arndts Gebetbuch „Paradiß Gärtlein voller christlicher Tugenden“, seit dem ersten Druck von 1612 in zahlreichen Nachauflagen verbreitet.

nicht alles] Wiederum eine Anspielung auf die Beziehung zu Anna Elisabeth Schönemann (vgl. zu 170,9–10 ).

in der Stadt] In Frankfurt.

Bergere] Von franz. bergère: gepolsterter Lehnstuhl, Sessel. Möglicherweise hat sich Goethe in diesem Stuhl sitzend auf einer aquarellierten Bleistiftzeichnung dargestellt (vgl. Corpus I, 181, Nr 93); vgl. auch die Darstellung auf der Federzeichnung des Zimmers im vorliegenden Brief (Abb. 14, S. 173).

die hoffnung lässt nicht zu schanden werden] Römer 5,5: „Hofnung aber lässet nicht zu schanden werden: Denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unser Herz durch den heiligen Geist, welcher uns gegeben ist.“ (Luther-Bibel 1768 NT, 312.)

lass die dämmrung 〈…〉 seelig] Zu Goethes Faszination von der ,Dämmerung‘ in dieser Zeit vgl. GB 1 II, zu 190,21 .

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 207 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR207_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 170–176, Nr 207 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 431–436, Nr 207 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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