Goethes Briefe: GB 2, Nr. 206
An Johanna Fahlmer

〈Frankfurt a. M. oder Offenbach , 7. März 1775. Dienstag〉 → 〈Frankfurt a. M.〉


Liebe Tante, ich wusste was Stella ihrem Herzen seyn würde. Ich bin müde über das Schicksaal ​unsres Geschlechts von Menschen zu klagen, aber ich will sie darstellen, sie sollen sich erkennen, wo möglich wie ich sie erkannt habe, und sollen wo nicht beruhigter, doch stärcker in der Unruhe seyn.

In mir ist viel wunderbaares neues, in drey stunden hoff ich Lili zu sehn. Liebe Tante auf den Sontag!!! – Nehmen Sie das Mädgen an ihr Herz, es wird euch beyden wohlthun. Haben Sie das Verlangen zum fünften Ackt uberwunden ​ 1 . Ich wollt sie hätten einen dazugemacht. Adieü. Stella ist schon ihre, wird durch das Schreiben immer Ihrer, was wird Friz eine Freude haben!

  1. × uberwunden​ ↑

Am 6. März las Goethe bei Johanna Fahlmer aus seinem in Arbeit befindlichen Schauspiel „Stella“ vor (vgl. Nr 204 ). Am 7. März begab er sich nach Offenbach, um Anna Elisabeth Schönemann zu sehen (vgl. 169,9 ). Der vorliegende Brief knüpft unmittelbar an die „Stella“-Lesung an und kündigt die Begegnung mit Lili in drey stunden ( 169,18 ) an. Er wurde also entweder wie Nr 205 am frühen Morgen des 7. März in Frankfurt oder am selben Tag nach der Ankunft in Offenbach geschrieben.

H: Privatbesitz, Deutschland. – 1 Bl. 23,4 × 18,8 cm, ½ S. beschr., egh., Tinte; Rs. Adresse: Msll Fahlmer; oben links Siegel: löwenähnliches, auf den Hinterpfoten stehendes Tier, vielleicht ein Greif (Gryllos?, vgl. Femmel/Heres, 80 f., Nr 31); oben links und rechts unten Papierverlust durch Herausschneiden des Siegels.

E: Goethe-Fahlmer (1875), 71 f., Nr 22.

WA IV 2 (1887), 244, Nr 302 (nach E).

Ein Bezugs- und ein Antwortbrief sind nicht bekannt.

was Stella ihrem Herzen seyn würde] In der Dreieckskonstellation des Schauspiels „Stella“ – ein Mann steht zwischen zwei Frauen – könnte Johanna Fahlmer ihre eigene Situation im Verhältnis zu Friedrich Heinrich Jacobi und dessen Frau Elisabeth wiedererkannt haben; darauf hatte Goethe schon in Nr 204 angespielt (vgl. zu 168,19–20 ). Jacobi fühlte sich durch das Stück verletzt; vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 226 . Elisabeth Jacobi hatte am 6. November 1773 an Goethe geschrieben: „Dass die Tante u ich, unsern ebenen u graden Weg neben einander ohne stumpen u stolpern gehen, ist wahr, obgleich noch wohl immer ein Räthsel für dHℓ Dr Goethe Lobesan.“ (Zeilen 43–45; Brief abgedruckt im Anschluss an die Erläuterungen zu Nr 65 .)

​unsres Geschlechts] Gemeint ist: unsere Generation.

auf den Sontag] Goethe kündigt einen Besuch für den 12. März an.

das Mädgen] Anna Elisabeth Schönemann.

Verlangen zum fünften Ackt] Der 5. Akt der „Stella“ lag offenbar noch nicht vor. Johanna Fahlmers Verlangen danach hatte gewiss persönliche Gründe: ihre Neugier auf die Beantwortung der Frage, ob und wie sich die Problematik des Dreiecksverhältnisses zwischen Fernando, Stella und Cezilie lösen würde.

Friz] Friedrich Heinrich Jacobi.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 206 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR206_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 169, Nr 206 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 430–431, Nr 206 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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