Goethes Briefe: GB 2, Nr. 54
An Johann Christian und Charlotte Kestner

〈Frankfurt a. M. 〉, 15. September 〈1773. Mittwoch〉 → Hannover 〈über Wetzlar〉


Heut, Abend des 15. Sept. erhalt ich euern Brief, und habe mir eine Feder geschnitten um recht ​ 1 viel zu schreiben. Dass meine Geister biss zu Lotten reichen hoff ich. Wenn sie auch die Taschengelder ihrer Empfindung, daran der Mann keine Prätension hat, nicht an mich wenden wollte, der ich sie so liebe. Neulich hatte ich viel Angst in einem Traum über sie. Die Gefahr war so dringend, meine Anschläge all keine Aussicht. Wir waren bewacht, und ich hoffte alles, wenn ich den Fürsten sprechen könnte. Ich stand am Fenster, und überlegte hinunter zu springen, es war zwey Stock hoch, ein Bein brichst du, dacht ich, da kannst du dich wieder gefangen geben. Ja dacht ich, wenn nur ein guter Freund vorbey ging, so spräng ich hinunter und bräch ich ein Bein, so müsst mich der auf den Schultern zum Fürsten tragen. Siehst du alles erinnr ​ 2 ich mich noch, biss auf den bunten Teppich des Tisches an dem sie sas und Filet machte, und ihr strohern ​ 3 Kistgen bey sich stehn hatte. Ihre Hand hab ich tausendmal geküsst. Ihre Hand wars selbst! die Hand! so lebhafft ist mirs noch, und sieh wie ich mich noch immer mit Träumen schleppe. /

Meine Schwester ist mit Schlossern vor wie nach. Er sitzt noch in Carlsr. wo man ihn herumzieht, Gott weis wie. Ich verstehs nicht. Meine Sch. ist ietzt in Darmst. bey ihren Freunden. Ich verliere viel an ihr, sie versteht und trägt meine Grillen.

Ich lieber Mann, lasse meinen Vater ietzt ganz gewähren, der mich täglich mehr in Stadt Civil Verhältnisse einzuspinnen sucht, und ich lass es geschehn. Solang meine Krafft noch in mir ist! Ein Riss! und all die Siebenfache Bastseile sind entzwey. Ich binn auch viel gelassner und sehe dass man überall den Menschen, überall groses und kleines schönes und hässliches finden kann. Auch arbeit ich sonst brav fort. und dencke den Winter allerley zu fördern. Dem alten Amtmann hab ich einen Göz geschickt der viel Freude dran ​ 4 gehabt hat, es ist auch gleich (wahrscheinlich durch Brandts) weiter kommen und der Kam-Richt und v. Folz habens begehrt; das schreibt mir hans mit dem ich viel Correspondenz pflege. Uber alles das lieber K. vergess ich dir zu sagen, dass drunten im Visitenzimmer, diesen Augenblick sitzt – die liebe Fr. Grostante ​Lange von Wetzlar mit der so teuern ältsten Jfr Nichte. Die haben nun schon in / ihrem Leben mehr, um Lottens Willen, gesessen wo ich sie nicht hohlte, mögen sie auch diesmal sich behelfen. Hanngen ist nicht mit da. Sie haben viel Liebs und Guts von meiner Lotte geredt ​ 5 ! Dancks ihnen der Teufel.​Meiner Lotte! das schrieb ich so recht in Gedancken. Und doch ist sie gewissermassen mein. Hierinn Geht mirs wie andern ehrlichen Leuten, ich bin gescheut —— ​ 6 biss auf diesen Punckt. Also nichts ​ 7 mehr davon.

Und zum Merkur um uns abzukühlen. Ich weis nicht ob Wiel. Grossprecherey dem Zeug mehr Schaden tuht, oder das Zeug der Grossprecherey. das ist ein Wind und Gewäsch dass eine Schand ist. Man ist durchgängig unzufrieden gewesen, der zweyte Teil ist was besser.

Der Hans und die Hänsgen. Wiel. und die Jakerls haben sich eben prostituirt! Glück zu! Für mich haben sie ohnedem nicht geschrieben. Fahr hin. Des Cammerrath Jakobis Frau war hier, eine recht liebe brave Frau, ich habe recht wohl mit ihr leben können, binn allen Erklärungen ausgewichen, und habe getahn als hätte sie weder Mann noch Schwager. Sie würde gesucht haben uns zu vergleichen, und ich mag ihre Freundschafft nicht. Sie sollen mich zwingen sie zu achten wie ​ 8 ich sie iezt verachte und dann will und muss ich sie

lieben. /

Heut früh hab ich von Falcken einen Brief kriegt, mit dem ersten Bogen des Musen Alman. Du wirst auf der 15. S. den ​Wandrer antreffen ​ 9 den ich Lotten ans Herz binde. Er ist in meinem Garten an einem der besten Tage gemacht. Lotten ganz im Herzen und in einer ruhigen ​ 10 Genügligkeit all eure künftige Glückseeligkeit vor meiner Seele. Du wirst wenn ​ 11 du s recht ansiehst mehr Individualität in dem Dinge finden als es scheinen sollte ​ 12 , du wirst unter der Allegorie ​Lot ​ten und ​mich und was ich so hunderttausendmal bey ihr gefühlt erkennen. Aber verraths keinem Menschen. Darob solls euch aber heilig seyn, und ich hab euch auch immer bey mir wenn ich was schreibe. Jetzt arbeit ich einen Roman, es geht aber langsam. Und ein Drama fürs Aufführen damit die Kerls sehn dass nur an mir liegt Regeln zu beobachten und Sittlichkeit ​ 13 Empfindsamkeit darzustellen. Adieu. Noch ein Wort im Vertrauen als Schrifftsteller, meine Ideale wachsen täglich aus an Schönheit und Grösse, und wenn mich meine Lebhafftigkeit nicht verlässt und meine Liebe, so solls noch viel geben für meine Lieben, und das Publikum nimmt auch sein Teil.

Und so gute Nacht liebe Lotte. Im Couvert sind Verse die wollt ich zu einem Portrait von mir an Lotten legen, da es aber nicht gerathen ist so hat sie inzwischen das. Biss auf weiters. /


〈Beilage〉


Wenn einen seeligen Biedermann Pastorn oder Rathsherrn lobesan Die Wittib lässt in Kupfer stechen Und​ 14 drunter ein Verslein radebrechen. Da heissts:
 Seht hier von Kopf und Ohren, Den Herrn ehrwürdig, wohlgebohren, Seht seine Mienen und seine Stirn Aber sein verständig Gehirn, So manch Verdienst ums gemeine Wesen Konnt ihr ihm nicht an der Nase lesen.
So liebe Lotte heissts auch hier: Ich schicke da mein Bildniss dir! Magst wohl die lange Nase sehn, Der Augen Blick, der Locken Wehn, 〈‘〉s ist ohngefähr das ​garstge Gsicht . Aber meine Liebe siehst du nicht.
G.
  1. r ​viel​ ↑
  2. erinnre ​ ↑
  3. × ​strohern​ ↑
  4. g ​dran​ ↑
  5. gr ​eredt​ ↑
  6. b ​—— ​ ( b ​ korrigiert zu Gedankenstrich) ​ ↑
  7. ni h ​chts​ ↑
  8. nich ​wie ​ ↑
  9. at ​ntreffen​ ↑
  10. G ​ruhigen​ ↑
  11. d ​wenn​ ↑
  12. solltest ​ ↑
  13. × ​drunter​ ↑

Die Jahreszahl ergibt sich aus dem Hinweis auf Schlossers Aufenthalt in Karlsruhe vor der Eheschließung mit Cornelia Goethe am 1. November 1773 (vgl. 41,9–10 ).

H: GSA Weimar, Sign.: 29/264,I,2 Bl. 47–49. – 1) Brief: Doppelblatt, 11,5 × 18,9 cm, 4 S. beschr., egh., Tinte, gleichmäßig geschrieben; S. 1 oben rechts von fremder Hd, Bleistift: „1773“. – 2) Beilage (Gedicht): 1 Bl. 18,5 × 22,9 cm, ¾ S. (Vs.) beschr., egh., Tinte, gleichmäßig geschrieben; Rs. Adresse, Tinte, quer geschrieben: An Herrn / Herrn Kestner / Archiv-Sekretarius / in / Hannover.; Verschlussoblate, unterhalb der Adresse Ausriss, geringfügiger Buchstabenverlust (vgl. 43,16 ); Vs. oben rechts von fremder Hd, Bleistift: „1773. Sept. 15.“ – Beischluss zu Nr 55 (vgl. zu 43,20–21 ). – Faksimile: Heinrich Düntzer: Goethes Leben. Leipzig 1880, S. 188.

E: Goethe und Werther​1 (1854), 179–183 f., Nr 81 und 82.

WA IV 2 (1887), 103–107, Nr 167 und 168.

Der Bezugsbrief (vgl. 40,13 ) ist nicht überliefert. – Ein Antwortbrief ist nicht bekannt.

euern Brief] Der Bezugsbrief Kestners ist nicht überliefert.

Taschengelder ihrer Empfindung] Hier im übertragenen Sinne zu verstehen: Empfindungen, die Charlotte Kestner als kleine ‚Belohnungen‘ verschenkte. Mit ‚Taschengeld‘ oder ‚Nadelgeld‘ wurde ursprünglich eine kleine Summe Geldes bezeichnet, die Frauen – eigentlich zum Kauf von Nadeln – zur Bestreitung kleinerer Bedürfnisse erhielten (vgl. Adelung 3, 408).

Prätension] Prätention: hier: Anspruch.

Filet] Franz.: dünner Faden, auch netzförmiges Geflecht; hier: Filetarbeit.

strohern Kistgen] Ein aus Stroh verfertigtes Kistchen; hier: Nähkästchen.

Meine Schwester ist mit Schlossern vor wie nach. 〈…〉 Ich verstehs nicht.] Sehr viel direkter als im vorliegenden Brief brachte Goethe im 18. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ seine Vermutungen über die Gründe der in seinen Augen ungewöhnlich langen Karlsruher Aspirantur Schlossers zum Ausdruck, die für Cornelia zu einer quälend langen Verlobungszeit geführt habe: Sie selbst hatte an einem langwierigen Brautstande viel gelitten; Schlosser, nach seiner Redlichkeit, verlobte sich nicht eher mit ihr als bis er seiner Anstellung im Großherzogthum Baden gewiß, ja, wenn man es so nehmen wollte, schon angestellt war. Die eigentliche Bestimmung aber verzögerte sich auf eine undenkliche Weise. Soll ich meine Vermuthung hierüber eröffnen so war der wackere Schlosser, wie tüchtig er zum Geschäft seyn mochte, doch wegen seiner schroffen Rechtlichkeit dem Fürsten als unmittelbar berührender Diener, noch weniger den Ministern als naher Mitarbeiter wünschenswerth. Seine gehoffte und dringend gewünschte Anstellung in Karlsruhe kam nicht zu Stande. (AA DuW 1, 603 f.) Tatsächlich war Cornelia Goethe erst seit Oktober 1772 mit Johann Georg Schlosser verlobt, zunächst ohne dass die Verlobung offiziell bekannt gegeben worden wäre (vgl. GB 1 II, zu 238,21 ; zu 238,23–24 ). Zu dieser Zeit stand Schlosser schon in Verbindung mit dem badischen Hof in Karlsruhe, wo er sich Hoffnung auf eine gesicherte, seinen Ansprüchen genügende Stellung machen durfte. Offenbar hing Schlossers Orientierung nach Baden mit seiner Beteiligung an der Kontroverse zwischen den FGA und der Frankfurter Geistlichkeit zusammen, die seinem Ansehen als Anwalt geschadet haben dürfte (vgl. GB 1 II, zu 237,19–20 ). Im Januar 1773 wandte er sich an den Markgrafen Karl Friedrich von Baden mit dem Wunsch, für einige Monate die Arbeit der badischen Verwaltungs- und Justizbehörden kennen zu lernen. Noch im selben Monat reiste er nach Karlsruhe und bereits im März 1773 erfolgte seine feste Anstellung. Kurz bevor der vorliegende Brief geschrieben wurde, am 13. September 1773, war Schlosser als Hof- und Kirchenrat zum ordentlichen Mitglied des badischen Hofratskollegiums berufen worden. Im Oktober konnte er nach Frankfurt zurückkehren. Die Hochzeit, der nun nichts mehr im Wege stand, fand am 1. November 1773 statt. Cornelias Brautstand dauerte folglich etwa ein Jahr, für die damalige Zeit keineswegs besonders lange. Im Vergleich dazu waren Kestner und Charlotte Buff mehr als fünf Jahre verlobt. Auf die Oberamtmannsstelle in Emmendingen, die Schlosser im Juni 1774 antrat, wurde Schlosser auf seinen eigenen Wunsch hin versetzt, für Goethes anderslautende Vermutung gibt es keine Belege (vgl. Witkowski, Cornelia, 78).

in Darmst. bey ihren Freunden] Gemeint ist wohl der Darmstädter Kreis der ‚Empfindsamen‘, der sich allerdings infolge der Heirat Caroline Flachslands, der Abwesenheit Mercks und seiner Familie sowie des Todes Henriette von Roussillons stark verkleinert hatte.

in Stadt Civil Verhältnisse] Wie die überlieferten Rechtsanwaltseingaben belegen, war Goethe in der Zeit von etwa September bis Dezember 1773 mit etwa einem Dutzend verschiedener Zivilprozesse befasst (vgl. DjG​3 3, 365–404).

Ein Riss! 〈…〉 Siebenfache Bastseile sind entzwey.] In Anlehnung an die biblische Geschichte von Simson und Delila (Richter 16,7–9): „Simson sprach zu ihr: Wenn man mich bände mit sieben Seilen vom frischem Bast, die noch nicht verdorret sind, so würde ich schwach, und wäre wie ein ander Mensch. / Da brachten der Philister Fürsten zu ihr hinauf sieben Seile von frischem Bast, die noch nicht verdorret waren, und sie band ihn damit. / (Man hielt aber ihn bei ihr in der Kammer.) Und sie sprach zu ihm: Die Philister über dir Simson! Er aber zerriß die Seile, wie eine flächsene Schnur zerreißt, wenn sie ans Feuer reucht, und ward nicht kund, wo seine Kraft wäre.“ (Luther-Bibel 1768 AT, 548.)

Dem alten Amtmann] Henrich Adam Buff, Charlotte Kestners Vater, seit 1740 Castnerey-Verwalter, d. h. Rentmeister, und von 1755 bis 1795 Amtmann des Deutschen Ordens in Wetzlar (vgl. auch GB 1 II, zweite Erläuterung zu 236,16 ).

einen Göz] Gemeint ist ein Exemplar des Erstdrucks des „Götz von Berlichingen“ (vgl. zu 32,22 ; zu 37,6–7 ).

Kam-Richt und v. Folz] Gemeint sind der Kammerrichter Franz Joseph Graf von Spaur und Simon Volz, der Gesandte von Baden-Durlach, die beide zum Bekanntenkreis der Familien Buff und Brandt in Wetzlar gehörten.

hans] Hans Buff, dessen Briefe an Goethe nicht überliefert sind.

Fr. Grostante ​Lange] Susanne Maria Cornelia Lange, eine geborene Lindheimer und verwitwete Dietz, war seit 1754 Ehefrau des Wetzlarer Prokurators und Hofrats Johann Friedrich Lange. Sie war die jüngste Schwester von Goethes Großmutter Anna Margaretha Textor (vgl. GB 1 II, einleitende Erläuterung zu Nr 79 ). – Die Hofrätin Lange und ihre Familie gehörten zur Wetzlarer Gesellschaft, ihre Töchter waren Freundinnen Charlotte Buffs. Ihr Sohn aus erster Ehe, Johann Jakob Christian Dietz, heiratete 1776 Charlotte Kestners ältere Schwester Caroline.

Jfr Nichte] Jungfer Nichte. – Isabella Charlotte Dietz, die älteste unverheiratete Tochter der Hofrätin Lange aus erster Ehe. Sie war die Nichte von Goethes Großmutter Textor.

Die haben 〈…〉 sich behelfen.] Wohl als Anspielung auf gemeinsam besuchte Wetzlarer Gesellschaften und Bälle zu verstehen. – Durch Kestners Tagebuchaufzeichnungen ist u. a. belegt, dass auf dem Ball in Volpertshausen am 9. Juni 1772, an dem Goethe Charlotte Buff kennen gelernt hatte, die Hofrätin Lange und fast deren gesamte Familie anwesend waren (vgl. GB 1 II, zweite Erläuterung zu 235,18 ). Gloël vermutet sogar, die Hofrätin Lange hätte das Fest ihrem Großneffen Goethe zu Ehren veranstaltet (vgl. Gloël, 173).

Hanngen] Die damals 18-jährige Johannette Elisabeth Christine Lange, eine Tochter Susanne Maria Cornelia Langes aus zweiter Ehe.

Dancks ihnen der Teufel.] Diese wie weitere Teufelsanspielungen, die in den Briefen Goethes seit Januar 1772 verstärkt begegnen (vgl. zu 6,15–22 ; zu 11,3–5 ), könnten im Zusammenhang mit der Aufnahme oder der Wiederaufnahme der Arbeit an der frühen Fassung des „Faust“ stehen (vgl. Fischer-Lamberg, Urfaust, 392 f.).

Merkur] Bisher waren zwei Bände des „Teutschen Merkur“ erschienen. Der 3. Band mit einer ausführlichen Rezension des „Götz von Berlichingen“ von Christian Heinrich Schmid (3. Stück. September 1773, S. 267–287) lag noch nicht vor.

Wiel. Grossprecherey] Damit könnte Goethe auf die „Vorrede des Herausgebers“ (Der Deutsche Merkur. 1. Bd. 1. Stück, S. III–XXII) und die Nachbemerkung (1. Bd. 3. Stück, S. 283–286) anspielen, in denen Wieland ein anspruchsvolles und umfassendes Programm versprach. Als Vorbild der Zeitschrift wurde der „Mercure de France“ genannt, wobei für die Auswahl der Beiträge höhere Maßstäbe als für das französische Vorbild gelten sollten. Im 1. Band waren auch Wielands „Briefe an einen Freund über das deutsche Singspiel, Alceste“ erschienen (1. Bd. 1. Stück, S. 34–72; 3. Stück, S. 223–243), die Goethe Anfang Oktober 1773 zu seiner Farce „Götter Helden und Wieland“ veranlassten. Im 15. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ geht er ausführlich auf diesen Zusammenhang ein: Die Verehrung Shakespears ging bey uns bis zur Anbetung. Wieland hatte hingegen, bey der entschiedenen Eigenheit sich und seinen Lesern das Interesse zu verderben und den Enthusiasmus zu verkümmern, in den Noten zu seiner Uebersetzung gar manches an dem großen Autor getadelt, und zwar auf eine Weise, die uns äußerst verdroß 〈…〉 . Hiezu kam noch, daß er sich auch gegen unsere Abgötter, die Griechen, erklärte und dadurch unsern bösen Willen gegen ihn noch schärfte. 〈…〉 Nun hatte Wieland in der ​Alceste Helden und Halbgötter nach moderner Art gebildet; wogegen denn auch nichts wäre zu sagen gewesen, weil ja einem Jeden freysteht, die poetischen Traditionen nach seinen Zwecken und seiner Denkweise umzuformen. Allein in den Briefen, die er über gedachte Oper in den Merkur einrückte, schien er uns diese Behandlungsart allzu parteyisch hervorzuheben und sich an den trefflichen Alten und ihrem höhern Stil unverantwortlich zu versündigen, indem er die derbe gesunde Natur, die jenen Productionen zum Grunde liegt, keinesweges anerkennen wollte. (AA DuW 1, 534 f.)

Man ist durchgängig unzufrieden 〈…〉 was besser.] Der 1. Band des „Merkur“ löste den Anspruch der „Vorrede“ in den Augen seiner Kritiker nicht ein. Nach dessen Erscheinen war eine im Ganzen moderate Rezension in den FGA erschienen, an deren Ende allerdings ein kritischer Kommentar zu Wielands „Vorrede“ stand, die zuvor in Auszügen mitgeteilt worden war:
Mein Herr College da, hat freylich die Backen ein wenig zu voll genommen. Daher ich Anfangs Willens war, ihm zu widersprechen: den Präceptorton im Vortrage ganz gemeiner Dinge (S. 33. des Merkurs) zu rügen, das offenbar seichte und fade in zwey gewissen Aufsätzen anzuzeigen; das Unreife und Leere in gewissen Recensionen aufzudecken; den politischen Kannegieserton in den politischen Nachrichten des Merkurs gerade heraus zu untersagen; aber – mundus vult decipi – dachte ich; und da ließ ich's bleiben. –
(FGA vom 25. Juni 1773, Nr 51, S. 425; insgesamt vgl. S. 421–425.)

Der Hans und die Hänsgen.] Hans, die Kurzform von Johannes, war bis ins 18. Jahrhundert der verbreitetste deutsche Männername, der sich in vielen sprichwörtlichen Redensarten findet, so z. B. ‚jemanden zum Hänschen machen‘: jemanden veralbern, zum Narren halten; hier offenbar auf Wieland und die Brüder Johann Georg und Friedrich Heinrich Jacobi zu beziehen, etwa im Sinne: der große Dichter und die kleinen Dichter.

die Jakerls] Die Jacobis. – Als Anspielung auf die Beiträge des 1. Bandes (1.–3. Stück. Januar–März 1773) des „Merkur“ zu verstehen, die fast ausschließlich von Wieland und den Jacobis stammen. Neben Wielands „Briefen an einen Freund über das deutsche Singspiel, Alceste“ waren dies u. a. Johann Georg Jacobis Erzählung „Charmides und Theone oder die Sittliche Grazie“ (1. Stück, S. 72–84; 2. Stück, S. 122–144; 3. Stück, S. 203–222; fortgeführt im 2. Bd. 1. Stück. April 1773, S. 3–20) und Friedrich Heinrich Jacobis „Betrachtung über die von Herrn Herder in seiner Abhandlung vom Ursprung der Sprache vorgelegte Genetische Erklärung der Thierischen Kunstfertigkeiten und Kunsttriebe“ (1. Bd. 2. Stück, S. 99–121).

haben sich eben prostituirt] Hier: haben sich durch unbesonnene Reden Schande und Spott zugezogen (vgl. Zedler 29, 947).

Des Cammerrath Jakobis Frau war hier] Elisabeth (Betty) Jacobi, die Frau Friedrich Heinrich Jacobis, hielt sich vom 19. August bis zum 13. September 1773 in Frankfurt bei Johanna Fahlmer zu Besuch auf (vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 53 ). Jacobi war seit 1772 als Hofkammerrat zuständig für die Neuordnung des Zoll- und Handelswesens der Herzogtümer Jülich und Berg.

weder Mann noch Schwager 〈…〉 iezt verachte] Wie diese Äußerungen belegen, stand Goethe zu dieser Zeit den Jacobis noch ablehnend gegenüber; das Verhältnis wandelte sich grundlegend erst nach der persönlichen Bekanntschaft im Juli 1774 (vgl. auch die einleitende Erläuterung zu 134 ).

von Falcken einen Brief] Der Brief Ernst Friedrich Hektor Falckes, des Sohns von Kestners Wetzlarer Vorgesetztem, ist nicht überliefert (vgl. zu 28,3–4 ).

ersten Bogen des Musen Alman.] Der von Gotter und Boie herausgegebene Göttinger „Musen Almanach A MDCCLXXIV“ enthielt auf den Seiten 15–24 Goethes Gedicht „Der Wandrer“ (vgl. zu 28,5 ).

Er ist in meinem Garten 〈…〉 gemacht.] Wie die Erwähnung im Brief Caroline Flachslands an Herder vom 13. April 1772 belegt, muss das Gedicht „Der Wandrer“ vor Goethes Wetzlarer Aufenthalt entstanden sein (vgl. Herder-Flachsland 2, 91 f. und zu 29,16–17 ). Mit dem Garten könnte demnach der elterliche Garten und Weinberg vor dem Friedberger Tor in Frankfurt gemeint sein (vgl. AA DuW 1, 86 [3. Buch]; 132 f. [4. Buch]; vgl. auch Stadt Goethes, 392 f.).

Allegorie] Hier: (literarisches) Gleichnis; zur Verwendung des Begriffs bei Goethe vgl. GWb 1, 350–352.

Darob] Hier: darum, deswegen; nach Adelung im ausgehenden 18. Jahrhundert auf das Oberdeutsche beschränkt und „Hochdeutschen Ohren ein Ärgerniß“ (Adelung 1, 1401).

einen Roman] Nicht ermittelt. – Nicht völlig auszuschließen ist, dass Goethe damit bereits den „Werther“ gemeint haben könnte, scheint er in der Zeit nach der Heirat Charlotte Buffs und Kestners doch den Gedanken einer literarischen Bearbeitung des Erlebten gefasst zu haben. Nur Kestner gegenüber erwähnte er zweimal die Arbeit an einem nicht näher bestimmten Roman (zum ersten Mal: 32,17). Allerdings gibt es außer diesen beiden Hinweisen keinerlei Belege, dass Goethe sich tatsächlich bereits im Sommer und Herbst 1773 mit der literarischen Bearbeitung des Stoffes befasste. Als erster Hinweis auf die Arbeit am „Werther“ gilt in der Forschung die Erwähnung im Brief an Sophie La Roche von Mitte Februar 1774 (vgl. 74,16–19 ). Gleichfalls nicht zu belegen ist, dass Goethe die Arbeit an dem Fragment „Arianne an Wetty“, das in der Straßburger Zeit entstand, wieder aufgenommen hätte, wie Fischer-Lamberg vermutet (vgl. Die Datierung des Goetheschen Romanfragments „Arianne an Wetty“. In: GJb N. F. 17 [1955], 246–253; zur Datierung von „Arianne an Wetty“ vgl. GB 1 II, einleitende Erläuterung zu Z 1 ).

ein Drama fürs Aufführen] Anspielung auf Vorwürfe gegen den „Götz“, der angeblich nicht ‚theatralisch‘ genug sei (vgl. zu 47,6 ). – Von der Entstehungszeit her könnte mit dem Drama die dramatische „Prometheus“-Dichtung gemeint sein, deren erste zwei Akte damals bereits vorgelegen haben (vgl. zu 36,16 ). – Für die Annahme, dass es sich um „Claudine von Villa Bella“ gehandelt haben könnte, wie Fischer-Lamberg vermutet (vgl. DjG​3 3, 424, zu Nr 177), gibt es keinen Anhaltspunkt, fallen doch die frühesten direkten Erwähnungen des Stückes erst in den April 1775 (vgl. Datierung zu Nr 228 ).

Im Couvert sind Verse] Das Gedicht „Wenn einen seeligen Biedermann“ stand auf der Innenseite des zum Kuvert gefalteten zweiten Blattes (vgl. Überlieferung).

Wenn einen seeligen 〈…〉 siehst du nicht.] Eine zweite Fassung des Gedichts übersandte Goethe in seinem Brief vom 26. bis 31. August 1774 an Charlotte Kestner (vgl. 123,12–28 und WA I 2, 265 und 352 f.).

lobesan] Löblich, lobenswürdig; im ausgehenden 18. Jahrhundert bereits veraltet, hier in altertümelnder Manier verwendet (vgl. die Anrede in Elisabeth Jacobis Brief an Goethe vom 6. November 1773; abgedruckt nach den Erläuterungen zu Nr 65 ).

Wittib] Veraltet für ‚Witwe‘; in altertümelnder Manier verwendet.

〈‘〉s] Apostroph unter dem Siegelausriss.

das ​garstge Gsicht] Garstig: hier in der Bedeutung ‚hässlich‘, ‚missgestaltet‘, nach Adelung im ausgehenden 18. Jahrhundert „nur in der vertraulichen Sprechart üblich“ (Adelung 2, 419). – Unter dem Titel „Das garstige Gesicht“ erschien das Gedicht im Erstdruck von 1815 (vgl. Goethe's Werke. Zweyter Band. Stuttgart und Tübingen 1815, S. 263; vgl. auch WA I 2, 265).

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 54 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR054_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 40–43, Nr 54 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 108–114, Nr 54 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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