Goethes Briefe: GB 2, Nr. 46
An Heinrich Christian Boie

〈Frankfurt a. M. 〉, 10. Juli 1773. Samstag → 〈Göttingen〉


Der Anteil den Sie an meinem Schauspiel nehmen ist mir sehr wehrt. Ich arbeite ietzt so in mich und für mich, dass mich's überrascht wenn andre mit mir so starck übereinfühlen.

Einige Freunde die näher bey Ihnen sind werden Sie um Exemplare bitten. Schicken Sie sie doch ihnen und notiren mir die Zahl. Ich will Ihnen noch eine Partie schicken. Ich hab die Unannehmlichkeit dass ich das Ding vertreiben muss, unterdessen 1 dass​ 2 Merck weg ist, was will ich machen. Ich fürchte wenn ich nicht dazu thue stirbt mir der ganze Verlag am Schlag, und ich möchte doch seinen Schaden nicht. Hier schick ich etwas in's Portefeuille. Rücken Sie etwas von mir in M. Alm; so bitt ich setzen Sie einen unbedeutenden Buchstaben drunter.

dℓ. 10. Juli 1773.      Goethe.

  1. b ​unterdessen​ ↑
  2. das ​ss ​ ↑

H: GSA Weimar, Sign.: 29/105,I. – 1 Bl. 11,2(–11,4) × 18,6 cm, 1 S. beschr., egh., Tinte, sorgfältig geschrieben.

E: Max Hecker: Neue Goethebriefe. Aus den Handschriften des Goethe- und Schiller-Archivs. In: GJb N. F. 1 (1936), 129, Nr 1.

WAN 1 (WA IV 51; 1990), 45 f., Nr 159a.

Der Brief beantwortet einen nicht überlieferten Brief Boies (vgl. die erste Erläuterung zu 35,6 ). – Ein Antwortbrief ist nicht bekannt.

Heinrich Christian Boie (1744–1806), geboren als Sohn eines Predigers in Meldorf (Dithmarschen), ging in Flensburg zur Schule und studierte 1764–1767 in Jena die Rechte. Von 1769 an lebte er als Sprachlehrer und Hofmeister junger Adliger, darunter vor allem Engländer, in Göttingen. 1776 wurde er Stabssekretär in Hannover, 1781 Landvogt von Süderdithmarschen in Meldorf. Boie gehört zu den Mitbegründern des Göttinger Hains. Im zeitgenössischen Literaturbetrieb kommt ihm aber weniger durch eigene Schriften Bedeutung zu als vielmehr durch seine Herausgebertätigkeit. Dies gilt vor allem für seinen – zusammen mit Friedrich Wilhelm Gotter – herausgegebenen Göttinger „Musenalmanach“ (auch: „Musen Almanach“), der seit 1769 erschien, und für die – zusammen mit Christian Konrad Wilhelm von Dohm – herausgegebene, von 1776 an erscheinende Monatsschrift „Deutsches Museum“, die sich in bewusster Konkurrenz zu Wielands „Teutschem Merkur“ unter den bedeutenden literarischen Zeitschriften der Aufklärung etablierte.

Der Kontakt Goethes zu Boie war 1772 über Gotter zustande gekommen, der um Gedichte für den Almanach gebeten hatte; so erinnert sich Goethe jedenfalls im 12. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ (vgl. AA DuW 1, 441). Persönlich lernten sich Goethe und Boie erst bei dessen Besuch Mitte Oktober 1774 in Frankfurt kennen; in Boies Reisetagebuch heißt es unter dem 15. Oktober: „Einen ganzen Tag allein, ungestört mit Göthen zugebracht, mit Göthen, dessen Herz so groß und edel wie sein Geist ist!“ (BG 1, 298.) Unter dem 17. Oktober ist vermerkt: „Den 17. um 2 Uhr waren wir wieder in Frankfurt, wo mich Göthe in unserm Wirtshause mit offenen Armen empfing. Wir blieben bis Mitternacht bey einander, und mußten endlich die Thür abschließen, um nur allein zu seyn. Er las mir etwas; wir ließen aber bald das Lesen seyn, und die Unterredung fiel auf die wichtigsten Gegenstände des Denkens und Empfindens, wo wir uns sehr oft in unsern Gesinnungen begegneten. Göthes Herz ist so groß als sein Geist.“ (Ebd.) An diesen Abend erinnert Goethe in Nr 173 ( 151,7 ). Abgesehen von einem Brief aus dem Jahr 1797 (vgl. WA IV 12, 139 f., Nr 3562) sind nur sieben Briefe Goethes an Boie, und zwar aus den Jahren 1773 und 1774, überliefert. In dieser Zeit war die Beziehung zwischen beiden am engsten. Es ging vor allem um den Vertrieb des „Götz von Berlichingen“ und um Gedichte Goethes für den „Musenalmanach“ (vgl. zu 35,16 ).

Zu einem vertrauteren Verhältnis ist es nicht gekommen. Rückblickend schrieb Boie – im Widerspruch zu seinen früheren Tagebucheintragungen – am 12. Dezember 1796 an Schiller: „Wenn ich ihn 〈Goethe〉 jezt einmal wieder sähe, würden wir vermuthlich mehrere Berührungspunkte finden, als vor zwanzig Jahren.“ (NA 36 I, 402.) Wenig förderlich für die Beziehung dürfte das Zerwürfnis zwischen Goethe und Klopstock im Mai 1776 gewesen sein (vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 113 ), mit dem Boie befreundet war.

Anteil] Der Bezugsbrief ist nicht überliefert.

meinem Schauspiel] Im Juni war „Götz von Berlichingen“ im Selbstverlag Goethes und Johann Heinrich Mercks erschienen. Aus Nr 88 geht hervor, dass Goethe in zwei Sendungen insgesamt 150 Exemplare des Werks an Boie schickte (vgl. 69,30 ), der beim Verkauf derselben (48 Kreuzer das Stück [vgl.  36,3 ]) behilflich sein sollte. Boie seinerseits übergab die Exemplare dem Göttinger Verleger seines Musenalmanachs, Johann Christian Dieterich, in Kommission (vgl. 69,30–70 ,1). – Auch Sophie La Roche und Johann Christian Kestner bat Goethe um Mithilfe beim Verkauf des „Götz“ (vgl. 36,1–3 und 37,1–2 ).

Einige Freunde 〈…〉 bitten.] Goethe dachte u. a. an Johann Christian Kestner (vgl. 37,1–5 ), der seit Juni 1773 in Hannover lebte.

dass Merck weg ist] Johann Heinrich Merck begleitete die Landgräfin Karoline von Hessen-Darmstadt im Mai 1773 nach St. Petersburg und kehrte erst am 20. Dezember 1773 nach Darmstadt zurück.

der ganze Verlag] Außer dem „Götz“ hatte Merck im Selbstverlag bereits Goethes „Von Deutscher Baukunst“, „Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***“ und „Zwo wichtige bisher unerörterte Biblische Fragen“ veröffentlicht; 1774 folgte noch der „Prolog zu den neusten Offenbarungen Gottes“.

Portefeuille] Franz.: hier vermutlich im Sinne von ‚Sammlung‘; gemeint ist Boies Sammlung von Manuskripten für seinen Musenalmanach.

einen unbedeutenden Buchstaben] Hier: einen nichts bedeutenden Buchstaben, d. h. einen Buchstaben, der den Namen des Autors nicht erkennen lässt. – Im Göttinger „Musen Almanach“ auf das Jahr 1774 erschienen vier Gedichte Goethes: „Der Wandrer“ (S. 15–24), unterschrieben „T. H.“, „Gesang“ (S. 49–53; später „Mahomets Gesang“), unterschrieben „E. O.“, „Sprache“ (S. 75), unterschrieben „H. D.“ sowie „Der Adler und die Taube“ (S. 109–111), erneut unterschrieben „H. D.“ Max Hecker bemerkt zum Erstdruck des vorliegenden Briefes: „Die Formähnlichkeit der beiden letzten Gedichte hat zur Wahl des gleichen Buchstabenpaares geführt; anderenfalls vielleicht das eine durch die Buchstaben G. E. ersetzt worden wäre: dann wäre die Reihe H〈err〉 D〈octor〉 GOETHE vollständig.“ (GJb N. F. 1 [1936], 130.)

 

 
 

Nutzungsbedingungen

Kontrollen

Kontrast:
SW-Kontrastbild:
Helligkeit:

Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 46 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR046_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 35, Nr 46 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 90–92, Nr 46 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

Zurück zum Seitenanfang