Goethes Briefe: GB 2, Nr. 45
An Odon Nicolas Lœillot Demars

〈Frankfurt a. M. , Juni? 1773〉 → Neu Breisach

〈Druck〉


Es ist Sommer lieber Freund und das ist keine Jahreszeit der Vertraulichkeit und Geselligkeit. Das eine laüfft da, das andre dorthin, und so ist unsre schöne Sozietät zerfallen, und ich erhalte mit Noth die traurigen Reste. Ihre ehemalige Liebste |:denn Abwesenheit des Mannes, wissen Sie, scheidet in unsrer Republik die Ehe:| hat sich in die Bäder begeben, um der Annehmlichkeiten des Lärms und der glänzenden Welt zu geniessen; meine liebe Frau ist auf dem Lande, und das Regenwetter hat mir nicht erlaubt sie mehr als einmal zu besuchen. Die andern sind auch bald da bald dort.

Wann wirst du wieder kommen wohlthätiger Winter, die Wasser befestigen dass wir unsern Schlittschuhtanz wieder anfangen! Wann wirst du unsre Mädgen wieder in die Stuben iagen, dass wir uns an ihnen wärmen wenn Schnee und Reif die Extremitäten u〈n〉s〈eres〉 Körpers erstarrt haben.

Und dann lieber Demars sollen Sie auch hören wie's geht, oder sich verändert und schreiben Sie mir auch. Hier schick ich Ihnen ein Drama meiner Arbeit. Sein Glück muss es unter Soldaten machen. Unter Franzosen, das weis ich nicht Adieu

Goethe

Der Brief wurde zur Sommerzeit geschrieben (vgl. 34,14 ) und begleitete die Übersendung des „Götz von Berlichingen“ (vgl. 35,2–3 ). Das Stück erschien im Juni 1773. Kurz nach seinem Erscheinen schickte Goethe das Buch an Johann Christian Kestner (vgl. zu 32,22 ) und an Heinrich Christian Boie (vgl. die zweite Erläuterung zu 35,6 ). Möglicherweise stammt demnach auch der vorliegende Brief aus dem Juni 1773. Eine spätere Datierung ist nicht auszuschließen.

H: Kriegsverlust; bis 1870 Bibliothèque Municipale Strasbourg. – Adresse: A Monsieur Monsieur Demars Lieutenant à Neuf Brisac avec un paquet. (Nach E​3.) Die Handschrift, die sich im Nachlass Johann Daniel Salzmanns befand, wurde ebenso wie die Handschriften von Goethes Briefen an Salzmann beim Brand der Straßburger Stadtbibliothek durch Kriegseinwirkung am 24. August 1870 vernichtet (vgl. GB 1 II, Überlieferung zu Nr 81 ). Christian Moritz Engelhardt übersandte Goethe am 15. März 1826 Abschriften dieser Briefe; sie sind nicht überliefert (h​1). Ebenfalls nicht überliefert sind Abschriften des vorliegenden Briefes sowie der Briefe GB 1 I, Nr 81 , 82 , 83 , 84 und 85 an Salzmann, die Carl Meinert im Jahr 1869 genommen hat (h​2; vgl. DjG​2 6, 138 f., zu Nr 76).

h​1: Verbleib unbekannt (vgl. GB 1 II, Überlieferung zu Nr 81 ).

h​2: Verbleib unbekannt (vgl. GB 1 II, Überlieferung zu Nr 81 ).

E​1: Stöber (1853), 51 (Teildruck: 34,14–17 Es ist Sommer 〈…〉 traurigen Reste.; 34,23–25 Wann wirst du wieder kommen 〈…〉 iagen; 35,1–5 Und dann lieber Demars 〈…〉 Goethe).

E​2: WA IV 2 (1887), 96, Nr 161 (Woldemar von Biedermann) (nach E​1; Textkorrekturen und Ergänzungen nach h​2 in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 207).

E​3: DjG​2 6 (1912), 267 f., zu Nr 162 (nach h​2; erster vollständiger Druck).

Textgrundlage: E​3.

1 Exemplar des „Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand. Ein Schauspiel. 1773“ (vgl. 35,2–3 ).

Ein Bezugs- und ein Antwortbrief sind nicht bekannt.

Odon Nicolas Lœillot Demars (1751–1808), als Sohn eines in Italien lebenden Franzosen zufällig in Paris geboren, verbrachte sechs Jahre seiner Kindheit mit seiner Mutter in Italien, wo er perfekt Italienisch lernte. Mit dreizehn Jahren wurde er nach Straßburg geschickt, wo er sich vier Jahre auf einer Militärschule für Artillerie und Kriegsbauwesen auf eine militärische Laufbahn vorbereitete. 1768 wurde er Sous-Lieutenant (Unterleutnant) im Infanterieregiment Nassau-Saarbrücken. Auf Wunsch seiner Eltern vervollkommnete Demars in dieser deutschen Einheit seine deutschen Sprachkenntnisse. Von Juli 1769 bis Juni 1771 lag er in Sélestat (Schlestadt im Elsass) in Garnison, von Oktober 1771 an in Neuf-Brisac (Neu-Breisach im Elsass). Im Dezember 1772 erhielt Demars sein Patent als Lieutenant (Leutnant).

Goethe hatte Demars vermutlich 1770/71 in Straßburg kennen gelernt. Dorthin kam dieser öfter von seiner Garnison in Sélestat aus. Wann sich beide zum ersten Mal begegnet sind und unter welchen Umständen, ist nicht bekannt, wahrscheinlich im Umkreis Johann Daniel Salzmanns. Es gibt auch keine Hinweise darauf, welches besondere Interesse Goethe bewogen hat, mit dem französischen Offizier in Beziehung zu treten. Dass diese von einiger Dauer war, bezeugt Demars' Besuch in Frankfurt im Winter 1772/73, auf den der vorliegende Brief Bezug nimmt, der einzige überlieferte Brief Goethes an den Adressaten, von dem kein Brief an Goethe bekannt ist. Demars gehörte offenbar zu einem Kreis junger Leute, die sich zur Winterzeit mit Gesellschaftsspielen und Schlittschuhlauf vergnügten. Näheres über seinen Aufenthalt in Frankfurt konnte nicht ermittelt werden.

Demars ging 1773 mit seinem Regiment für zwei Jahre nach Korsika. 1775 wurde er nach Indien geschickt, wo er bis 1783 Dienst tat. Er kehrte als Major nach Frankreich zurück. Im Mai 1789 zog er sich für kurze Zeit aus der Armee zurück. Im Verlauf der Französischen Revolution trat er wieder in den aktiven Militärdienst ein. Er wurde Chef der Garde nationale in Obernai (Oberehnheim im Elsass), erhielt 1790 den Rang eines Lieutenant-Colonels (Oberstleutnants) und wurde 1792 Général de brigade (Brigadegeneral) der Rheinarmee. Beim preußisch-österreichischen Feldzug gegen das revolutionäre Frankreich von Juni bis Oktober 1792, an dem Goethe als Beobachter teilnahm (vgl. seine Schrift „Campagne in Frankreich“), standen sich die früheren Freunde – freilich ohne sich zu begegnen – unter feindlichen Fahnen gegenüber. Vermutlich war Demars schon vor Goethes Ankunft zur Nordarmee versetzt worden. Die weitere Karriere des französischen Offiziers wurde von politischen Verdächtigungen überschattet; Einzelheiten konnten nicht ermittelt werden. Als Demars am 11. August 1808 als Chef der 5. Halbbrigade der Veteranen in Gênes starb, hinterließ er seine Witwe mittellos, so dass sie auf die Unterstützung von Freunden angewiesen war. (Vgl. Fernand Baldensperger: Notes biographiques sur l'un des premiers correspondants français de Gœthe: le lieutenant Demars. In: Revue germanique 8 [1912], S. 423–426.)

Als Demars und sein Regiment 1773 nach Korsika verlegt wurden, trafen sie dort am 2. Oktober ein. Dies setzt voraus, dass sie etwa im Juli oder August im Elsass aufgebrochen sind. Daher ist nicht ganz sicher, ob Goethes Brief- und Buchsendung den Adressaten überhaupt erreicht hat, insbesondere wenn der Brief später als im Juni geschrieben worden sein sollte. Die Tatsache, dass sich die Handschrift im Nachlass Salzmanns auffand, könnte darauf hindeuten, dass der Brief nicht in Demars', sondern in Salzmanns Hände gelangte und dort verblieb.

unsre schöne Sozietät] Gemeint ist ein geselliger Kreis junger Leute, wie er in Nr 11 ( 9,22 ) erwähnt wird.

ehemalige Liebste] Wahrscheinlich eine Anspielung auf das ebenfalls in Nr 11 ( 9,21–23 ) erwähnte Mariage-Spiel, bei dem das Los einen jungen Mann und ein Mädchen zu einem ‚Ehepaar‘ zusammenführte. Goethe beschreibt es im 6. und 15. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ (vgl. AA DuW 1, 197 und 543 f.). Wer Demars' Partnerin gewesen war, ließ sich nicht ermitteln.

meine liebe Frau] Ähnlich nennt Goethe im Brief an Johann Christian Kestner vom 11. Februar 1773 ( Nr 11 ) Susanne Magdalena Münch, seine Partnerin beim Mariage-Spiel, mein liebes Weibgen ( 9,21–22 ).

Schlittschuhtanz] In Nr 92 ist von einem Pantomimischen Tanz auf dem Eis die Rede ( 72,11 ). Auch am Anfang von Nr 157 wird vom Schlittschuhlaufen berichtet.

ein Drama] „Götz von Berlichingen“.

Unter Franzosen 〈…〉 nicht] Vermutlich eine Anspielung auf die für das französische Drama verbindliche Regel der drei Einheiten, die Goethe im „Götz“ völlig vernachlässigt hatte.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 45 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR045_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 34–35, Nr 45 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 88–90, Nr 45 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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