Goethes Briefe: GB 2, Nr. 38
An Christian Gottfried Hermann

Frankfurt a. M. , 15. Mai 1773. Samstag → 〈Leipzig〉

〈Druck〉


Dieser Brief mag Sie überzeugen, lieber Assessor, dass Ihr Andencken noch in eben der Empfindung bey mir ist, als zur Zeit, da ich nach ein Paar Tage Raschwitzer Abwesenheit wieder in Ihr Zimmer trat und Ihnen einen guten Tag bot.

So biet ich Ihnen nun einen guten Tag, und trage die Angelegenheit vor die mir am Herzen liegt.

Der Verleger der hiesigen Zeitung, gelehrten, versteht sich, kriegt über eine ​Götzische Recension nicht sowohl mit Götzen, als mit dem hiesigen Rath Händel, er ward in 20 rh. Strafe verdammt, und verlangte transmiss. in vim rev. Vielleicht kennen Sie die Sache schon aus den gedruckten Ackten die in Leipzig bekannt seyn müssen. Nun erfährt er dass die Sache an die Leipziger Fakultät gelangt ist, und dass sie willens sey, die Strafe zu vergrössern. Er bat mich flehentlich, ob ich niemanden kennte, der Einfluss hätte, ich kenne niemanden als Sie. Und nun ist die Frage, ob Sie in einer solchen Connexion mit den Fakultisten stehn, dass Sie können, und ob Sie ferner so viel allgemeine Menschenliebe haben, dass Sie mögen. Sie sehen, die Entscheidung liegt in mero arbitrio , und also in der Art wie sie sich dem Richter vorstellt. Es ist hier die Frage von keinem Recht. Wie Sie gar leicht sehen könnten wenn Sie die Ackten ohnschwer lesen wollten. Also mein lieber ein gut Wort, einem armen Teufel hundert Tahler zu schonen. Oder wenn Sie Sich nicht verwenden können, wissen Sie vielleicht einen Weeg, und seyn Sie so gut uns den zu zeigen. ——

In wenig Wochen kriegen Sie ein Stück Arbeit von mir, das wo Gott will, Sie erfreuen soll. Dem lieben Oeser tausend Empfelungen. Ich hoffe ein Freund von mir ​Merck aus Darmstadt hat ihn gesprochen, fragen Sie ihn doch darum. Und lieben Sie mich und schreiben Sie mir bald. Geschr. Frfurt am 15. May 1773

Goethe.

H: Verbleib unbekannt.

E: Biedermann, Goethe und Leipzig 2 (1865), 22–24.

D​1: DjG​2 3 (1910), 45 f., Nr 156 (nach einer Abschrift von H).

D​2: WA IV 2 (1887), 88 f., Nr 153 (nach E; Textkorrekturen in den „Berichtigungen“ [wahrscheinlich nach einer Kopie der Ausfertigung], vgl. WA IV 50 [1912], 207).

Textgrundlage: D​1. – D​1 druckt nach einer „sorgfältigen Kopie in Leipzig“ (DjG​2 6, 264, zu Nr 156) und steht offenbar der Handschrift der Ausfertigung näher als E. Darauf lässt ein Textvergleich der Drucke eines anderen Briefes (GB 1 I, Nr 66 ) in E (= Biedermann, Goethe und Leipzig 2, 18–20) und D​1 (= DjG​2 1, 342 f., Nr 60) schließen. Zu diesem Brief ist die Handschrift der Ausfertigung überliefert: E gibt keine Druckvorlage an, D​1 druckt wie im Fall des vorliegenden Briefes nach einer Kopie (vgl. DjG​2 6, 60, zu Nr 60). Der Vergleich zeigt, dass in E die Orthographie modernisiert und die Interpunktion verändert wurde (ck zu k, y zu i, ss zu ß; Kommata eingefügt), wogegen D​1 die Handschrift der Ausfertigung genauer wiedergibt.

dass] daß ​E D​2 ​  Andencken] Andenken​ E D​2 bey] bei​ D​2 bot. / So] ​ Absatz erg. in den „Berichtigungen“ D​2 vor] vor,​ E D​2 rh.] Thaler ​E D​2 ​  transmiss. in vim rev.] transmissionem in vim revisionis. ​ D​2 seyn] sein ​E D​2 ​  er] er, ​E D​2  dass] daß ​E D​2 ​  Fakultät] Facultät ​E D​2 ​  dass] daß ​E D​2 ​  vergrössern] vergrößern​ E D​2 Einfluss] Einfluß ​E D​2 ​  hätte,] hätte;​ E D​2 Fakultisten] Facultisten​ E D​2  dass] daß​ E D​2 dass] daß ​E D​2 ​  Art] Art,​ E D​2  könnten] könnten, ​E D​2 ​  lieber] lieber,​ E D​2 Tahler] Thaler ​E D​2 ​  Weeg] Weg​ E D​2 zeigen. ——] zeigen. ​E D​2 ​  will,] will​ E D​2 Empfelungen] Empfehlungen ​E D​2 ​  gesprochen,] gesprochen;​ E D​2 Sie mir bald] Sie bald ​Korrektur in den „Berichtigungen“ D​2 ​  Geschr. Frfurt] Geschrieben Franckfurt ​D​2 ​  15.] 15 ​E  1773] 1773.​ E D​2      Goethe.] ​Goethe. ​E

Ein Bezugs- und ein Antwortbrief sind nicht bekannt.

Über das Verhältnis Goethes zu Christian Gottfried Hermann vgl. die einleitende Erläuterung zum Brief vom 6. Februar 1770 (GB 1 II, Nr 66 ).

Dieser Brief] Der vorliegende Brief ist der erste überlieferte Brief Goethes an diesen Adressaten nach mehr als drei Jahren (vgl. GB 1 I, Nr 66 ).

Assessor] Hermann war seit 1767 Supernumerar-Assessor am Leipziger Oberhofgericht; eine ordentliche Assessorstelle erhielt er 1777 (vgl. Werner Kilian: Goethes „werter Freund“ Bürgermeister Hermann in Leipzig. In: GJb N. F. 27 [1965], 21).

Raschwitzer Abwesenheit] Raschwitz: Dorf südlich von Leipzig (heute ein Stadtteil von Markkleeberg), Ende des 18. Jahrhunderts ein beliebtes Ausflugsziel der Leipziger Gesellschaft; seit 1763 betrieb der Pächter des Raschwitzer Herrenhauses dort einen Kuchengarten (vgl. auch AA DuW 1, 233 [7. Buch]). – Goethe besuchte Raschwitz nachweislich noch einmal am 11. Mai 1800 (vgl. GT II 1, 365).

Der Verleger der hiesigen Zeitung] Johann Conrad Deinet. – Deinet hatte in Marburg Theologie studiert, diese Laufbahn aber aufgegeben und sich zunächst als Pagenhofmeister am Kasseler Hof verdingt. 1769 war er Hauslehrer bei der Witwe Johann Ludwig Eichenbergs in Frankfurt geworden, die er 1770 heiratete. Dadurch wurde er zum Mitinhaber der Eichenbergischen Verlagsdruckerei. 1772 übernahm er die von dem Notar Samuel Tobias Hocker begründete „Frankfurter gelehrte Zeitung“ (1736–1771) unter dem neuen Namen „Frankfurter gelehrte Anzeigen“ in den Eichenbergischen Verlag.

eine ​Götzische Recension] Gemeint ist die folgende am 21. Juli 1772 in den FGA anonym erschienene Rezension von Johann Georg Schlosser:


​Leipzig.

​Götzens erbauliche Betrachtungen über das Leben Jesu auf Erden; auf alle Tage des Jahrs. 1ster u. 2ter Theil. 1772. 8. 1144 S.

​Die um die Kirche und die gelehrte Welt so hochverdiente Breitkopfische Buchhandlung hat, wie der Herr Verf. sagt, aus dero vorzüglich schönen Druckerey, dieses Werk herausgehen lassen, das Hr. G. schon lange versprochen, und auf Verlangen vieler Freunde, in seinen unpolemischen Nebenstunden geschrieben hat〈.〉 Die zween vorliegenden Theile enthalten die Monate Jänner bis auf den Heumonat, und können so weit, auch sogar in einem Schaltjahr, täglich ein ganz frommes Geles verschaffen. Wir haben eben noch die letzten Tage des Heumonats erwischt, denn zu den übrigen war heuer die Jahrszeit vorbey. In dem also, was wir gelesen haben, finden wir fleißige Ausspinnung der biblischen Gleichnisse, Anreden an die liebe Seele, hier und da einen polemischen Ausfall – – kurz, alles was man erwartet, wenn Herr Götz sich hinsetzt, und sagt: ich will betrachten! – – Von den Betrachtungen, die blos aus den sanften und wahren, unerzwungnen Selbstgesprächen fließen, welche empfindsame Seelen halten, wenn eine aufgewallte Empfindung sich nach und nach wieder setzt, und in ruhige Behaglichkeit oder süße Schwermuth schmilzt; von denen haben wir keine gefunden; diese sind in, rundum mit Polemik umringten Stunden, nicht möglich. Diese ​Götzische Betrachtungen – – weil es doch welche seyn sollen – – sind übrigens dem hiesigen Magistrat, zur Dankbarkeit für das Vergnügen gewiedmet, das der Hr. Verf. bey der Lesung der Frankfurter Religionshandlungen empfunden hat. Der Werth, den er auf diese seine Arbeiten legt, muß sehr groß seyn, wenn sie ein solches Vergnügen belohnen sollen, das nach Hrn. G. bekannten Denkungsart, nicht gering gewesen seyn kann. – – Gott bewahre uns, daß der gute Mann nicht noch mehr Vergnügen an uns haben möge; seine Zuschriften ersetzen den Aufwand des Schauspiels gewiß nicht!


(FGA vom 21. Juli 1772, Nr 58, S. 457 f.)

2 Götzens] Johann Melchior Goeze, lutherisch-orthodoxer Theologe; Hauptpastor in Hamburg und Kontrahent Lessings.


Nachdem bereits Anfang des Jahres 1772 verschiedene Beiträge in den FGA den Unwillen der katholischen und der lutherischen Geistlichkeit Frankfurts erregt hatten, führte diese Rezension zu erneutem Ärger und schließlich zum Rücktritt Johann Heinrich Mercks von der Direktion der FGA (hierzu und zum Folgenden vgl. GB 1 II, zu 237,19–20 ).


mit dem hiesigen Rath Händel] Der Frankfurter Rat, dem Goeze sein Werk gewidmet hatte, war nach Erscheinen der Rezension vom 21. Juli 1772 ohne weitere Vorwarnung gegen den Verleger vorgegangen. Provozierend hatte wohl insbesondere der Schluss der Rezension gewirkt, der auf ein früher vom Frankfurter Rat gewährtes Geldgeschenk an Goeze anspielt.

Strafe verdammt] Am 22. August 1772 war eine Strafe von 20 Reichstalern verhängt worden.

transmiss. in vim rev.] Lat. transmissio in vim revisionis: Übertragung (des Falles) an die Revisionsinstanz. – Deinet hatte mit einer von Johann Georg Schlosser verfassten 31 Seiten umfassenden Rechtfertigungsschrift vom Oktober 1772 Einspruch erhoben: „,pto der Censur der Frfurter Gelehrten Anzeige und deren entweder Aufhebung oder Verlegung, wegen in der Vorstellung eines Hochwürdigen Ministerii de 9 Elapsi offenbar unrichtig erklärter, und Wörtlich falsch verstandener Sätze ut intus‘“ (zitiert nach: Hermann Dechent: Die Streitigkeiten der Frankfurter Geistlichkeit mit den Frankfurter Gelehrten Anzeigen im Jahre 1772. In: GJb X [1889], 185; zur Sache vgl. ebd., 185–190). Dem Rechtsgebrauch der Freien Reichsstädte entsprach es, dass in solchen Fällen als nächsthöhere Instanz eine auswärtige Juristische Fakultät angerufen wurde.

gedruckten Ackten] Im Januar 1773 hatte Deinet die Akten unter dem folgenden Titel veröffentlicht: „Gerichtliche ​Akten betreffend eine Recension der Goezischen Betrachtungen über das Leben Jesu auf Erden; in Nro LVIII. der Frankfurter gelehrten Anzeigen von 1772. zur Rechtfertigung des Herrn Pastors, des Recensenten und des Verlegers. Frankfurt am Mayn gedruckt auf Kosten der Letztern, 1773.“ – Am 5. Februar ließ der Frankfurter Rat alle noch bei Deinet vorhandenen Exemplare der „Gerichtlichen Akten“ beschlagnahmen, sprach ihm wegen der Veröffentlichung einen Verweis aus und belegte ihn mit einer Strafe von 100 Reichstalern (vgl. Bräuning-Oktavio, FGA 1772, 348 f.).

an die Leipziger Fakultät] Am 8. Februar 1773 hatte der Frankfurter Rat die gesamten Akten im Streitfall der ‚Goezeschen Angelegenheit‘ zur Entscheidung an die Juristische Fakultät in Leipzig übergeben, auf deren Urteil nun gewartet werden musste.

die Strafe zu vergrössern] Im Oktober 1773 fällte die Juristische Fakultät in Leipzig ihr Urteil und bestätigte die ursprünglich verhängte Strafe von 20 Reichstalern. Als strafmildernd habe sich ausgewirkt, dass „der Hofrath Deinet nicht wegen eines den Glaubenslehren zuwiderlaufenden Irrthums, sondern wegen Einrükung eines mit ungeziemenden Spöttereyen und Anzüglichkeiten angefüllten, noch dazu theologische Sachen betreffenden Artikels in seine gelehrten Zeitungen“ verurteilt werde. In der Begründung wird darauf verwiesen, dass „durch Einreichung 〈…〉 des boshaften Schreibens“, gemeint ist die Schlossersche Rechtfertigungsschrift, die erhöhte Strafe von 100 Reichstalern erwirkt worden sei und dass die „ungebührlichen Anschuldigungen in der Vertheidigungsschrift“ fast dazu geführt hätten, die höhere Strafe zu bestätigen (zitiert nach: Hermann Bräuning-Oktavio: Neues zur Biographie Johann Georg Schlossers. In: JbFDH 1963. Tübingen 1963, 70 f.; zur Sache vgl. ebd., 63–76).

Connexion mit den Fakultisten] Franz. connexion: Verknüpfung, Verbindung, Zusammenhang. – Obgleich bei der Aufzählung der Titel und Ämter in der Todesanzeige Hermanns vom 11. August 1813 eine Zugehörigkeit zur Juristischen Fakultät nicht besonders erwähnt wird, ist doch anzunehmen, dass eine solche bestand. So war es in Leipzig und anderswo üblich, ausgezeichneten Juristen der Stadt auch Sitz und Stimme in der Fakultät zu verleihen; auch gibt es Hinweise, dass Hermann zumindest zeitweise ein Fakultätsamt versah (vgl. Werner Kilian: Goethes „werter Freund“ Bürgermeister Hermann in Leipzig. In: GJb N. F. 27 [1965], 22). Die Akten der Juristischen Fakultät sind nicht erhalten (vgl. ebd., 40). – Ob eine auf Goethes Brief hin erfolgte Intervention Hermanns an der Fakultät zur Berücksichtigung der Milderungsgründe und somit zur vergleichsweise geringen Bestrafung Deinets beigetragen hat, muss offenbleiben.

in mero arbitrio] Lat.: im bloßen Gutdünken.

ein Stück Arbeit] Wahrscheinlich ist die überarbeitete Fassung des „Götz“ gemeint, die im Juni 1773 im Selbstverlag Mercks unter dem Titel „Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand. Ein Schauspiel“ erschien (vgl. DjG​3 3, 457). – Ähnlich kündigt Goethe das Werk in seinen Briefen an Johann Christian Kestner an (vgl. 9,16 ; 32,22 sowie GB 1 I, 249,14–15 ).

Dem lieben Oeser] Goethes brieflicher Kontakt zu Adam Friedrich Oeser war vorübergehend zum Erliegen gekommen; der letzte überlieferte Brief an Oeser vom 14. Februar 1769 beantwortet einen Brief Oesers vom 25. November 1768 (vgl. GB 1 II, einleitende Erläuterung zu Nr 57 ). Etwa in der Zeit von Ende Oktober bis 30. November 1769 hat Goethe noch einmal an Oeser geschrieben (vgl. GB I, EB 14 ); ein Bezugs- oder ein Antwortbrief dazu sind nicht bekannt. Wie die Grüße in den beiden überlieferten Briefen an Hermann belegen, muss dieser nach Goethes Weggang aus Leipzig weiterhin in freundschaftlicher Verbindung zu Oeser gestanden haben.

​Merck 〈…〉 hat ihn gesprochen] Johann Heinrich Merck hatte Darmstadt am 6. Mai 1773 verlassen. Er begleitete die Landgräfin Karoline von Hessen-Darmstadt nach St. Petersburg (vgl. zu 27,14–15 ). Auf dem Weg dahin machte er u. a. in Leipzig und Berlin Station (vgl. Briefe Mercks an Friedrich Nicolai, 2. April 1773, und an Sophie La Roche, 7. Juni 1773; Merck, Briefwechsel 1, 365 f., Nr 116 und 370–373, Nr 118).

schreiben Sie mir] Es ist anzunehmen, dass Hermann geantwortet hat, wofür es allerdings keinen Beleg gibt.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 38 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR038_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 30, Nr 38 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 67–72, Nr 38 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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