Goethes Briefe: GB 2, Nr. 37
An Johann Christian Kestner

〈Frankfurt a. M. , etwa zwischen 9. und 15. Mai 1773〉 → 〈Wetzlar〉


Ich hatte gleich auf eure Nachricht Kielm. sey hier in die meisten Wirthshäusser geschickt, konnt ihn aber nicht erfragen. Nun sagt mir Pokkozelli er sey wieder fort, und habe gehört ich ​ 1 sey nicht hier. Sagt ihm er hätte nicht so fort gehn sollen, ich war Montags schon wieder hier als er Mittwochn wegging, und ich hatte eben um die Zeit an ihn gedacht, und gewünscht mit ihm zu seyn. Sagt ihm, von unserm Nachdruck Ossians ist Fingal ausmachend den ersten Teil fertig, kostet 36 Kr wenn er ihn will schick ich ihn mit dem übrigen und bitte mir meinen Ossian zurück. Ich weis nicht ob ich euch schon im vorigen Briefe gebeten habe was an Boje mit zu nehmen. bestimmt mir doch die Zeit wenn ihr geht. Wie stehts euerm Engel. Ich habe ein grosses Commerz mit ihr. Ihre Silhouette ist mit Nadeln an die Wand befestigt und ich verliehre meist alle Nadeln / und wenn ich beym anziehn eine brauche, borg ich ​ 2 meist eine von ​ 3 Lotten, und frage auch erst um Erlaubniss pp

Etwas verdrüsst mich. In Wetzlar hatte ich ein Gedicht gemacht, das von Rechts wegen niemand besser verstehen sollte als ihr. Ich möcht es euch so gern schicken, hab aber keine Abschrifft mehr davon. Boie hat eine durch Mercken, und ich glaube, es wird in den Musen almanach kommen. es ist überschrieben der ​Wandrer und fängt an: Gott seegne dich iunge Frau. Ihr würdets auch ohne das gleich gekannt haben.

So weit dann lieb. K. Lotte weis wie lieb ich sie habe. Adieu.

G.

  1. n ​ich​ ↑
  2. in ​ch ​ ↑
  3. × ​von​ ↑

Goethe antwortete mit dem vorliegenden Brief offenbar auf einen nicht überlieferten Brief Kestners, in dem dieser sich erkundigt zu haben scheint, ob Goethe seine Nachricht ( 29,1 ) von Kielmannseggs Anwesenheit in Frankfurt nicht erhalten habe. Der im Brief erwähnte Montag ( 29,4 ) war vermutlich der 3. Mai 1773, an dem Goethe von der Hochzeit Herders aus Darmstadt zurückgekehrt war. Noch vor Mittwoch, dem 5. Mai, an dem Kielmannsegg wieder abreiste, muss die ursprüngliche Nachricht Kestners angekommen sein. Da Goethe im vorliegenden Brief erneut bittet, was an Boje mit zu nehmen ( 29,10 ), muss er später als Nr 35 geschrieben worden sein, wahrscheinlich in der Woche vom 9. bis 15. Mai 1773.

H: GSA Weimar, Sign.: 29/264,I,2, Bl. 37–38. – Doppelblatt 11,4 × 16 cm, 1 ¾ S. beschr., egh., Tinte; S. 1 oben links von fremder Hd, Bleistift: „1773. May nach dem 5?“

E: Goethe und Werther​1 (1854), 150 f., Nr 63.

WA IV 2 (1887), 86 f., Nr 150.

Der Brief beantwortet einen nicht überlieferten Brief Kestners (vgl. Datierung). – Der Antwortbrief (vgl. die dritte Erläuterung zu 31,3 ) ist nicht überliefert.

eure Nachricht] Nicht überliefert (vgl. Datierung).

Kielm.] Kielmannsegg (vgl. zu 8,14 ).

Pokkozelli] Auch: Poccocelli. – Wahrscheinlich ein gemeinsamer Wetzlarer Bekannter.

Montags] 3. Mai 1773. – An diesem Tag kehrte Goethe aus Darmstadt zurück (vgl. zu 27,1 ).

Nachdruck Ossians] Goethe gab zusammen mit Merck im Selbstverlag den ersten Nachdruck der „Works of Ossian“ heraus (vgl. die erste Erläuterung zu 28,9 ). Der erste Band erschien im Mai 1773, der zweite Band Ende 1774 (jeweils mit einer Titelvignette von Goethe [vgl. Corpus VIb, 95, Nr 272], ohne Ort und Jahr, ohne Angabe des Herausgebers). Die Ausgabe wurde erst 1777 von dem Buchhändler Johann Georg Fleischer fortgesetzt.

Fingal] Der erste Band der „Works of Ossian“ enthält das Epos „Fingal“, benannt nach dem altirischen Helden Fionn aus dem 3. Jahrhundert. Er galt als der Vater des legendären Barden Ossian. – Der Sagenkreis um Fionn bildet die stoffliche Grundlage der Übersetzungen, Nachdichtungen und Neuschöpfungen von James Macphersons „Works of Ossian, Son of Fingal“ (über Goethes früheste Beschäftigung mit Ossian vgl. GB 1 II, zu 165,7–8 ).

meinen Ossian] Möglicherweise ist die Erstausgabe der „Works of Ossian“ (London 1765) gemeint, die zur Bibliothek Johann Caspar Goethes gehörte (vgl. Götting, 53).

im vorigen Briefe] Vgl. 28,4–5 .

was an Boje mit zu nehmen] Wahrscheinlich waren Goethes Beiträge für den Göttinger „Musen Almanach“ gemeint.

wenn ihr geht] Gemeint ist Kestners Umzug nach Hannover, der Anfang Juni 1773 erfolgte.

Engel] Charlotte Kestner geb. Buff.

Commerz] Von franz. commerce: Handel; hier übertragen: Umgang, Verkehr.

Ihre Silhouette] Wahrscheinlich die von Goethe selbst stammende und im Original nicht erhaltene Porträtsilhouette Charlotte Buffs (vgl. GB 1 II, zu 235,22 ).

In Wetzlar 〈…〉 als ihr.] Wie die Erwähnung im Brief Caroline Flachslands an Herder vom 13. April 1772 belegt, muss die Idylle „Der Wandrer“ bereits vor Goethes Wetzlarer Aufenthalt entstanden sein: „Unser Freund Göthe ist zu Fuß von Frankfurt gekommen 〈…〉. Göthe steckt voller Lieder, Eins, von einer Hütte, die in Ruinen alter Tempel gebaut, ist vortrefflich; er muß mirs geben, wenn er wieder kommt, und dann theile ichs Ihnen, lieber bester H[erder], mit.“ (Herder-Flachsland 2, 91 f.) – Von dem Gedicht haben sich eine Abschrift Mercks mit eigenhändigen Korrekturen Goethes und zwei Abschriften Caroline Flachslands in Herders Nachlass erhalten. Nur eine der beiden Abschriften Carolines berücksichtigt Goethes Korrekturen. Goethe muss ihr im Mai 1772 den „Wandrer“ aus Wetzlar zugeschickt haben, und zwar in der noch nicht überarbeiteten Fassung, von der sie am 1. Juni eine Abschrift an Herder schickte: „Hier ist das Lied von der Hütte von Goethe, wovon ich Ihnen schon einmal geschrieben; er hats mir von Wetzlar geschickt.“ (Herder-Flachsland 2, 126.) – Wahrscheinlich hat Goethe nach seiner Bekanntschaft mit Charlotte Buff das Gedicht noch einmal überarbeitet. Nach Fischer-Lamberg könnte dies erklären, dass sich in Goethes Erinnerung die Gestalt der jungen Mutter im Gedicht so eng mit der Charlottes verbindet, dass er annimmt, der „Wandrer“ sei überhaupt erst in Wetzlar entstanden (vgl. hierzu insgesamt DjG​3 2, 346).

Boie hat eine 〈…〉 der ​Wandrer] Welche Abschrift Boie durch Merck zugegangen ist, lässt sich nicht mehr feststellen. Das Gedicht wurde zuerst im September 1773 im Göttinger „Musen Almanach A MDCCLXXIV“ gedruckt, und zwar mit dem Titel „Der Wandrer“ (S. 15–24), der in sämtlichen von Fischer-Lamberg beschriebenen Handschriften fehlt. Gezeichnet war der Abdruck mit T. H. (vgl. auch zu 28,5 ).

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 37 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR037_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 29, Nr 37 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 65–67, Nr 37 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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