Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 143
Von Johann Kaspar Lavater

22. April 1781, Zürich

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   Lieber Goethe,


   Abbitte, allervörderst des Um-
weges und der großen Fracht halber ..
die Schuld ligt in meiner Unwißenheit, und
allso, Lieber, thue mir den Gefallen, und die
Gnade, mir ein Paar Louisd'or dafür ab-
zurechnen. Das kleinere Kistchen geht
über Frankfurt, und so nun immer. Die
Uhr steht nun mit einem Billiet, das du
in Knebels Brief lesen kannst, auf dem
Gesellschaftszimmer. Ich will nun dem Spiel
hinter dem Vorhang oder den Culißen
zusehen.


   Das höchste einfache infinite Gute, das
lebt und Freüde hat am Schönen, Freü-
demachenden – Gott!


   Das tiefste einfache infinite lebende
Böse, das Freüde hat am Häßlichen, am
Schmerzenden – Satan!

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   Das höchste manichfaltige harmonische
von lebender und webender Güte, alle
Ideen des Gütigsten, wahrnehmlich, und
zusammenstimmend, der Himmel!


   Das tiefste manichfaltige disharmo-
nische von lebender und webender Her-
bigkeit, Zerstörungssucht – alle Ide-
en des Bösesten, wahrnehmlich die Hölle!


   Das alles ist im Menschen!


Wie nun diese vier Qualitäten heis-
sen, an dem liegt nichts. Die Sa-
chen sind im Menschen! Wort ist nur-
ein Goldgeld, das die Scheidemünze ver-
schiedener Begriffe in Eins faßt! das
Gepräge sey eine Mutter Gottes, oder
ein Louis XVI.


Ich wünschte sehr, daß du mir ei- | 3 |
nige Seitenzahlen aus dem Buche Erreur
etc. anzeigtest, wo du die tiefsten Ge-
heimnisse der wahresten Menschheit sie-
hest. Pasqually ist der wahre Urhe-
ber des Buches, ein beschnittener Mel-
chisedekit So heiß' ich die Offenbarungsgenießer, die nicht
Juden und Christen sind. und Geisterseherhoherpriester.
Ein gewißer Martin von Paris, von dem
der nicht immer glaubwürdige Düchanteau
lächerliche Visionen und Grimaßen er-
zählt, soll es aus den Handschriften
des verstorbenen Pakqualli mit Zu-
säzen seiner "Strohseil"? Fabrik heraus-
gegeben haben.


   Düchanteau ist in demselben Grad'
innerlichtief, wie äußerlichsinnlich – aber,
ohne Liebe; ohne Herz – C. und Er –
obgleich beyde gegen einander, wie
Feuer und Waßer, sind in meinen| 4 |
Augen zwey determinirte Ingredien-
zien zum Antichrist. Schief beyde, und
beyde, der Eine an Genialität, der an-
dere an Kraft so groß, daß es beyna-
he möglich wäre, daß sie auch Auser-
wählte verführen könnten – Beyde mit
dem Schein tiefer Religiosität umleüch-
tet – Beyde, ohne Liebe; Handlungen
der Liebe verrichtend; Beyde voll un-
endlicher allverachtender Prätension –
und sich selber vergötternd! Kömmt zu
diesen noch ein Fürst, der sie beyde in sich
zu vergöttern weiß, so haben wir den fal-
schen Prophet der Apokalypse – und, wenn
der dem R. Kayser, irgend einem künftigen
Abortus des Römischen Stuhls – ohne Va-
ter auf Erden, und ohne Mutter im Him-
mel sich aßozirt, so darf niemand
weder kaufen, noch verkaufen, der vor | 5 |
Sechshundertsechs und sechziger nicht pri-
vilegirt ist.


   Der Kayser ist freylich nicht
groß, aber er hat große Seiten. Daß
ohne Ganzheit, ohne das alles zusammen
faßende vereinfachende Herz, niemand
dauerhaft, wahrhaft groß sey, glaub
ich von ganzer Seele.


   Wartensleben, den Erzfeinen
Jungen hab' ich in Colmar gar wohl
bemerkt. Der gehört nicht nach Col-
mar – Er überschaut sie alle. Einen
philosophischern Hofmann hab' ich in ei-
nem Jungen nicht gesehen. Der wird
gewiß was Großes!


   Nun noch Eins –


   Ich frage dich ganz
einfältig, und erwarte ganz einfälti- | 6 |
ge Antwort. "Hast du in Ettersburg
Jakobis Woldemar an eine Eiche zum
schreckenden Exempel angenagelt?" –
Sag mir ein Wort zur Antwort jedem,
der mich frägt. B. will's durchaus nicht
glauben. Ich suspendire mein Urtheil,
wünschte aber jedem, der mit mir da-
rüber spricht, und besonders einem ke-
ker, als izt noch, sagen zu können: "Es
ist nicht wahr!" –


   Der kürzeste, geradeste,unser al-
lein würdige Weg ist, zufragen und
zuantworten.


   
   
    L.


Über Leßing vergiß mir nicht, etwas
zuschreiben.


S:  Zentralbibliothek Zürich  D:  GL Nr. 103  B : 1781 April ? 9 (WA IV 5, Nr. 1195)  A : 1781 Mai 7 (WA IV 5, Nr. 1223)  V:  Abschrift 

G. möge L. den Umweg, den die Kunstsendung genommen habe, in Rechnung stellen (vgl. RA 1, Nr. 136). - Die astronomische Uhr stehe mit Knebels Widmung auf dem Gesellschaftszimmer (vgl. RA 1, Nr. 140). - Über die vier im Menschen vereinigten Qualitäten: Gott, Satan, Himmel und Hölle. - Bitte um einige Seitenzahlen aus L. C. de St. Martins "Des Erreurs et de la Vérité" (1775). - Zur Charakterisierung Duchanteaus und Cagliostros. - Kaiser Joseph II. sei freylich nicht groß, habe aber große Seiten. - Über K. F. G. von Wartensleben. - Frage, ob G. tatsächlich F. H. Jacobis "Woldemar" (vgl. Ruppert 972) in Ettersburg an eine Eiche zum schreckenden Exempel angenagelt habe. B. Schultheß wolle es durchaus nicht glauben. - Bitte um Mitteilungen über Lessing.

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 Lieber Goethe,

  Abbitte, allervörderst des Umweges und der großen Fracht halber .. die Schuld ligt in meiner Unwißenheit, und allso, Lieber, thue mir den Gefallen, und die Gnade, mir ein Paar Louisd'or dafür abzurechnen. Das kleinere Kistchen geht über Frankfurt, und so nun immer. Die Uhr steht nun mit einem Billiet, das du in Knebels Brief lesen kannst, auf dem Gesellschaftszimmer. Ich will nun dem Spiel hinter dem Vorhang oder den Culißen zusehen.

  Das höchste einfache infinite Gute, das lebt und Freüde hat am Schönen, Freüdemachenden – Gott!

  Das tiefste einfache infinite lebende Böse, das Freüde hat am Häßlichen, am Schmerzenden – Satan!

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  Das höchste manichfaltige harmonische von lebender und webender Güte, alle Ideen des Gütigsten, wahrnehmlich, und zusammenstimmend, der Himmel!

  Das tiefste manichfaltige disharmonische von lebender und webender Herbigkeit, Zerstörungssucht – alle Ideen des Bösesten, wahrnehmlich die Hölle!

  Das alles ist im Menschen!

 Wie nun diese vier Qualitäten heissen, an dem liegt nichts. Die Sachen sind im Menschen! Wort ist nurein Goldgeld, das die Scheidemünze verschiedener Begriffe in Eins faßt! das Gepräge sey eine Mutter Gottes, oder ein Louis XVI.

 Ich wünschte sehr, daß du mir ei| 3 |nige Seitenzahlen aus dem Buche Erreur  etc. anzeigtest, wo du die tiefsten Geheimnisse der wahresten Menschheit siehest. Pasqually ist der wahre Urheber des Buches, ein beschnittener Melchisedekit So heiß' ich die Offenbarungsgenießer, die nicht Juden und Christen sind. und Geisterseherhoherpriester. Ein gewißer Martin von Paris, von dem der nicht immer glaubwürdige Düchanteau lächerliche Visionen und Grimaßen erzählt, soll es aus den Handschriften des verstorbenen Pakqualli mit Zusäzen seiner "Strohseil"? Fabrik herausgegeben haben.

  Düchanteau ist in demselben Grad' innerlichtief, wie äußerlichsinnlich – aber, ohne Liebe; ohne Herz – C. und Er – obgleich beyde gegen einander, wie Feuer und Waßer, sind in meinen| 4 | Augen zwey determinirte Ingredienzien zum Antichrist. Schief beyde, und beyde, der Eine an Genialität, der andere an Kraft so groß, daß es beynahe möglich wäre, daß sie auch Auserwählte verführen könnten – Beyde mit dem Schein tiefer Religiosität umleüchtet – Beyde, ohne Liebe; Handlungen der Liebe verrichtend; Beyde voll unendlicher allverachtender Prätension – und sich selber vergötternd! Kömmt zu diesen noch ein Fürst, der sie beyde in sich zu vergöttern weiß, so haben wir den falschen Prophet der Apokalypse – und, wenn der dem R. Kayser, irgend einem künftigen Abortus des Römischen Stuhls – ohne Vater auf Erden, und ohne Mutter im Himmel sich aßozirt, so darf niemand weder kaufen, noch verkaufen, der vor| 5 | Sechshundertsechs und sechziger nicht privilegirt ist.

  Der Kayser ist freylich nicht groß, aber er hat große Seiten. Daß ohne Ganzheit, ohne das alles zusammen faßende vereinfachende Herz, niemand dauerhaft, wahrhaft groß sey, glaub ich von ganzer Seele.

  Wartensleben, den Erzfeinen Jungen hab' ich in Colmar gar wohl bemerkt. Der gehört nicht nach Colmar – Er überschaut sie alle. Einen philosophischern Hofmann hab' ich in einem Jungen nicht gesehen. Der wird gewiß was Großes!

  Nun noch Eins –

  Ich frage dich ganz einfältig, und erwarte ganz einfälti| 6 |ge Antwort. "Hast du in Ettersburg Jakobis Woldemar an eine Eiche zum schreckenden Exempel angenagelt?" – Sag mir ein Wort zur Antwort jedem, der mich frägt. B. will's durchaus nicht glauben. Ich suspendire mein Urtheil, wünschte aber jedem, der mit mir darüber spricht, und besonders einem keker, als izt noch, sagen zu können: "Es ist nicht wahr!" –

  Der kürzeste, geradeste,unser allein würdige Weg ist, zufragen und zuantworten.

      L.

 Über Leßing vergiß mir nicht, etwas zuschreiben.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
RA 1, Nr. 143, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0143_00156.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 143.

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