BuG: BuG II, A 1165
Neunheiligen 10./11. 3. 1781

An Charlotte v. Stein 11. 3. 1781 (WA IV 5, 75)

Neunheiligen 10./11. 3. 1781

Der Herzog will einige Tage nach Cassel, ich gehe nicht mit, aus viel Ursachen davon ich ihm einige gesagt, einige verschwiegen habe ... Er wirft mir vor daß ich ans Brod gewöhnt sey, und mich deswegen nicht weit verlaufen mögte. Es kan seyn daß auch das unter den neun und neunzig keine der geringsten Ursachen ist ...

Die Gräfinn hat mir manche neue Begriffe gegeben, und alte zusammengerückt. Sie wissen daß ich nie etwas als durch Irradiation lerne ... Wie offt hab ich die Worte Welt, grose Welt, Welt haben u. s. w. hören müssen und habe mir nie was dabey dencken können ...

Dieses kleine Wesen hat mich erleuchtet. Diese hat Welt oder vielmehr sie hat die Welt, sie weis die Welt zu behandlen (la manier) sie ist wie Quecksilber das sich in einem Augenblicke tausendfach theilt und wieder in eine Kugel zusammenläuft. Sicher ihres Werths, ihres Rangs handelt sie zugleich mit einer Delikatesse und Aisance die man sehn muß um sie zu dencken. Sie scheint iedem das seinige zu geben wenn sie auch nichts giebt, sie spendet nicht, wie ich andre gesehn habe, nach Standsgebühr und Würden iedem das eingesiegelte zugedachte Packetgen aus, sie lebt nur unter den Menschen hin, und daraus entsteht eben die schöne Melodie die sie spielt daß sie nicht ieden Ton sondern nur die auserwählten berührt. Sie tracktirts mit einer Leichtigkeit und einer anscheinenden Sorglosigkeit daß man sie für ein Kind halten sollte das nur auf dem Klaviere, ohne auf die Noten zu sehen, herumruschelt, und doch weis sie immer was und wem sie spielt. Was in ieder Kunst das Genie ist, hat sie in der Kunst des Lebens ... nun es wird uns Stoff zur Unterredung genug geben. Sie kennt den größten Teil vom vornehmen, reichen, schönen, verständigen Europa, theils durch sich theils durch andre, das Leben, Treiben, Verhältniß so vieler Menschen ist ihr gegenwärtig im höchsten Sinne des Worts, es kleidet sie alles was sie sich von iedem zueignet und was sie iedem giebt thut ihm wohl ... Der Pfarr hier ist ein schlechter Kerl, nicht so daß man ihn absezzen könnte, genug er ist schlecht. Wenn der Graf ihn zu Gaste lädt so ißt sie nicht mit hausen, und sagt es sey recht und nothwendig auch öffentlich zu zeichen wenn man iemanden um seiner Schlechtigkeit willen verachtet ...

Wir haben heute Gäste von Langensalza.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG II, BuG02_A_1165 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG02_A_1165.

Entspricht Druck:
BuG II, S. 290 f. (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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