BuG: BuG I, A 816
Irrtümliches und Zweifelhaftes 22. 7. 1774

Nach Lavater (Neue theol. Annalen 1814, 2 S. 605)

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22. 7. 1774

Eine Anekdote stehe hier ... die wir uns ... erinnern, mehr als Einmal aus Lavaters, als eines dabei gegenwärtig gewesenen Mannes, Munde erzählen gehört zu haben; die ipsissima verba können wir freilich nicht mehr angeben; aber das Wesentliche ist uns treu genug in dem Gedächtnisse geblieben: Als Göthe mit Lavatern die kleinen Reisen machte ... begegnete es, (wenn wir uns nicht irren, zu Elberfeld), daß auch der Rector Hasenkamp, der ältere, zu Duisburg einmal in großer Gesellschaft mit L[avater] u. G[oethe] zu Mittag (oder Abend) aß, und nicht weit von G. zu sitzen kam; man war in der heitersten Stimmung, und G. sowohl als L. erfreuten alles durch ihre heitere und belebende Unterhaltung. Auf einmal richtet Hasenkamp, ein gottesfürchtiger Mann, der aber aus Mangel an Sinn für das Schickliche nicht immer bedachte, was Zeit und Ort gestatten möchte, seine Rede an G. und frägt in feierlichem Tone: Sind Sie der Hr. G. (oder Hr. Dr. G.)? Ja. Und haben das berüchtigte Buch: die Leiden des jungen Werthers, geschrieben? Ja. So fühle ich mich in meinem Gewissen verpflichtet, Ihnen meinen Abscheu an dieser ruchlosen Schrift zu erkennen zu geben. Gott wolle Ihr verkehrtes Herz bessern! Denn wehe, wehe dem, der Ärgerniß giebt! u.s.f. Jedermann gerieth in die peinlichste Verlegenheit, jedermann war voll banger Erwartung, wie es dem ehrlichen, aber pedantisch-schulgerechten Hasenkamp ergehen würde. Aber G. versetzte alle Anwesenden in die heiterste Stimmung, als er erwiederte: Ich sehe es ganz ein, daß Sie aus Ihrem Gesichtspunkte mich so beurtheilen müssen, und ich ehre Ihre Redlichkeit, mit der Sie mich bestrafen. Beten Sie für mich! Das Wohlgefallen an der edeln Art, mit der G. sich benahm, war allgemein; der Rector ward auf eine Weise, wie er sich nicht hatte träumen lassen, entwaffnet, und die Unterhaltung nahm wieder ihren vorigen fröhlichen Gang.


Die Leiden des jungen Werthers erschienen zur Michaelismesse 1774, konnten also Hasencamp im Juli 1774 noch nicht bekannt sein; zum Zusammensein mit Hasencamp vgl. J. H. Jung-Stilling, Lebensgeschichte (Grollmann S. 321), W. Heinse an Klamer Schmidt 13.10.1774 (Schüddekopf 9, 229) und J. G. Hasencamp, Tagebuch (Bach S. 146), BuG01_0591, BuG01_0592 und BuG01_0593.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0816 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0816.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 486 (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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