Goethes Briefe: GB 2, Nr. 134
An Friedrich Heinrich Jacobi

〈Frankfurt a. M. 〉, 13. und 14. 〈August 1774. Samstag und Sonntag〉 → 〈Düsseldorf〉


Ich träume lieber Friz den Augenblick, habe deinen Brief und schwebe um dich. Du hast gefühlt dass ​ 1 es mir Wonne war Gegenstand deiner Liebe zu seyn – O das ist herrlich dass ieder glaubt mehr vom andern zu empfangen als er giebt! O Liebe! liebe! Die Armuth des Reichtuhms – und welche ​ 2 Krafft würckts in mich, da ich im andern alles umarme was ​ 3 mir fehlt und ihm noch dazu schencke was ich habe. Ich habe vorige Nacht aufm Postwagen durch Basedows Grille gesessen. Es ist wieder Nacht. – Glaub mir, wir könnten von nun an stumm gegen einander seyn, uns dann nach Zeiten wieder treffen, und uns wär s als wären wir Hand in Hand gangen. Einig werden wir seyn über das was wir nicht durchgeredt haben. Gute Nacht. Ich schwebe im Rauschtaumel nicht im Wogensturm, doch ists nicht eins welcher uns an Stein schmettert? – Wohl denen die Trähnen haben! – Ein Wort! Lass meine Briefe nicht sehen! Versteh ​ 4 ! – Erklärung darüber nächstens wenns braucht.

am 13. Nachts /


am 14. Abends ich habe Tanten gesehen, und bin froh dass der damm weg ist, der über ihr ander garstig Verhältniss, noch manches Gefühl zurückschwellte in ihr Herz. –

Sie darf mit mir von ihrem Friz reden – Heute zum erstenmal – Wohl! wohl! – Wenn Sie diese Jahre her das gekonnt hätte wärs nichts –– Jetzt aber – und so – ihr triumphirender Glaube: sie werden sich lieben!Frau Schwestern Bruder Rosten alles Grüsse, ieglichem nach seiner Art. – Ich dancke den Mädgen für ihre Briefgen. Sie sollen mir manchmal schreiben, wenn ich auch todt scheine. Es würckt innerlich doch und so ein Briefgen weckt schlafende Kräfte, sie sollen dramas haben Lieder, alleley. – Adieu meine neuen Schick doch Jung einen Clavigo

  1. × ​dass​ ↑
  2. welches ​ ↑
  3. ich mir​ ↑
  4. V× ​ersteh​ ↑

Monat und Jahr ergeben sich aus dem Inhalt des Briefes.

H: GSA Weimar, Sign.: 29/251,I. – Doppelblatt 11,5 × 18,7 cm, 2 S. beschr., egh., Tinte; Glaub mir 〈…〉 gangen. ( 111,13–15 ) wohl von Jacobi mit roter Tinte unterstrichen (vgl. JB II 1, 224).

E: Goethe-Jacobi (1846), 27 f., Nr 1 (mit Paraphe).

WA IV 2 (1887), 182 f., Nr 239 (nach E).

Der Brief beantwortet einen nicht überlieferten Brief Jacobis von Anfang oder Mitte August 1774 (vgl. JB I 1, 242). – Der Antwortbrief von Mitte August 1774 (vgl. 114,3 ) ist nicht überliefert (vgl. JB I 1, 245).

Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819) war der Sohn Johann Konrad Jacobis, Inhabers eines Manufakturgeschäfts in Düsseldorf, das dessen Schwiegervater Georg Christoph Fahlmer, der Vater Johanna Fahlmers (vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 19 ), gegründet hatte. Friedrich Heinrich Jacobis Mutter Johanna Maria geb. Fahlmer war die Halbschwester von Johanna Fahlmer aus der ersten Ehe von Georg Christoph Fahlmer. Johanna Fahlmer wurde deswegen im Jacobi-Kreis ,Tante‘ genannt. Während der ältere Bruder Johann Georg Theologie studieren durfte, wurde Friedrich Heinrich zum Kaufmann bestimmt, obwohl sein Interesse Religion, Philosophie und Literatur galt. 1764 trat er ins väterliche Geschäft ein, heiratete im selben Jahr die aus begütertem Elternhaus in Vaels bei Aachen stammende Elisabeth von Clermont und entwickelte sich zu einem erfolgreichen Handelsmann und Wirtschaftspolitiker. 1779 berief ihn der bayerische Kurfürst Carl Theodor als Geheimen Rat ins Innenministerium nach München, doch stieß Jacobi als Anhänger der Freihandelslehre von Adam Smith auf Widerstand und kehrte noch im selben Jahr nach Düsseldorf zurück. Sein Vermögen erlaubte ihm, sich mehr und mehr aus den Geschäften zurückzuziehen und auf dem Familiensitz in Pempelfort (heute Stadtteil Düsseldorfs) seinen literarischen und philosophischen Interessen zu leben. Vor der Besetzung Düsseldorfs durch die Franzosen wich Jacobi 1794 nach Wandsbek (zu Matthias Claudius) und Eutin aus. Als sich seine finanzielle Lage durch den geschäftlichen Zusammenbruch der Clermonts, denen er einen großen Teil seines Vermögens anvertraut hatte, verschlechterte, ging Jacobi erneut nach München. Er wurde mit der Reformierung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften betraut, deren erster Präsident er 1805 wurde. Im Jahr 1812 trat Jacobi in den Ruhestand.

Persönliche Bekanntschaft schlossen Goethe und Jacobi durch die Begegnung am 22. Juli 1774 (vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 132 ), die von Johanna Fahlmer und Elisabeth Jacobi vermittelt worden war. Zuvor hatte ein gespanntes Verhältnis bestanden, nicht zuletzt wegen Goethes satirischer Angriffe gegen die nach seinem Geschmack frömmelnde Religiosität und die empfindsame Schriftstellerei der Brüder Jacobi, die er abschätzig die Jakerls ( 42,4 ) nannte. Über die in Elberfeld und Düsseldorf geschlossene, zunächst enthusiastische Freundschaft schrieb Jacobi am 27. August 1774 an Wieland: „Jeder glaubte von dem Andern mehr zu empfangen, als er ihm geben könne; Mangel und Reichthum auf beiden Seiten umarmten sich einander; so ward Liebe zwischen uns. Sie kann's ausdauern, seine Seele, – zeugte in sich der Eine vom Andern, – die ganze Glut der meinigen; nie werden sie einander verzehren.“ (JB I 1, 251.) Sowohl die im vorliegenden Band abgedruckten Briefe Goethes an Jacobi als auch dessen Briefe an Goethe zeugen von der Intensität des frühen Freundschaftserlebnisses. Unter Goethes Freunden gehört Jacobi weder zu der Reihe älterer kritischer Mentoren (wie Behrisch, Herder, Salzmann, Merck) noch zu der Gruppe von Jugendgenossen (wie Lenz, Jung, Lersé, Gotter, Bürger u. a.), unter denen Goethe der Überlegene war. Vielmehr bestätigt Goethe im vorliegenden Brief die Schilderung Jacobis vom wechselseitigen Geben und Nehmen: O Liebe! liebe! Die Armuth des Reichtuhms – und welche Krafft würckts in mich, da ich im andern alles umarme was mir fehlt und ihm noch dazu schencke was ich habe. ( 111,9–11 ; über Goethes spätere nüchterne Einschätzung des frühen Freundschaftskultes vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 93 .) Der sympathetische Austausch zwischen den Freunden führt so weit, dass Goethes Briefe hier und da einen empfindsamen Ton annehmen (wie etwa in Nr 134 und 226 ), die Briefe Jacobis umgekehrt einen derben, kraftgenialischen Ton. Im Brief an Goethe vom 26. August 1774 heißt es z. B.: „Hast bieder geredet zu Rost, aber hättest auch noch verbitten sollen das parfumieren mit Moder und Todten-Gerüchen. Am Dichter deucht mich's gar unausstehlich, und höchst albern dazu, wenn er überall, all überall Materialismus auskramt. Auch bin ich hässig dem ewigen Persifflieren alles Dings; ist kein Treu und Glauben dabey.“ (JB I 1, 250.) Dennoch war die Beziehung immer wieder Belastungsproben ausgesetzt, denen sie am Ende nicht standhalten konnte. Zu schwer wogen die Gegensätze: hier Festhalten an literarischer Tradition, Empfindsamkeit, gesellschaftliche Bindung von Kunst und Künstler, religiöse Moralität, dort Souveränität des Genies, Sturm und Drang, Freiheit des Individuums und subjektivistisches Lebensethos. Goethe kommentierte Jacobis Romane „Eduard Allwills Papiere“ (1775/76) und „Woldemar“ (1779) kritisch und spöttisch, Jacobi hatte moralische Bedenken gegen Goethes Produkte. 1785 kam es zum so genannten Spinozismus-Streit, in dem es um die weltanschauliche Kontroverse zwischen einer spinozistisch-pantheistischen Naturbetrachtung und dem Glauben an die Offenbarung eines persönlichen Gottes ging. Diese Kontroverse führte schließlich zum Bruch der Beziehung, als Jacobi in seiner Schrift „Von den Göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung“ (Leipzig 1811) gegen Schellings Naturphilosophie zu Felde zog, welcher er Pantheismus – und das hieß für Jacobi Atheismus – vorwarf.

Aus der Zeit bis zu Goethes Übersiedlung nach Weimar Ende Oktober 1775 haben sich lediglich sechs Briefe an Friedrich Heinrich Jacobi erhalten (vgl. das Verzeichnis der Adressaten, S. 290 des Textbandes). Insbesondere aus der Zeit nach der Rückgabe des Manuskripts von Jacobis Roman „Eduard Allwills Papiere“ an Johanna Fahlmer, begleitet von kritischen Anmerkungen (vgl. Nr 259 ), haben sich Briefe Goethes nicht erhalten. „Die Tatsache, daß Jacobi Briefe Goethes, die er sonst stets sorgfältig sammelte und als Heiligtümer hütete, vernichtet hat, läßt auf ihren Inhalt schließen.“ (Heinz Nicolai: Goethe und Jacobi. Studien zur Geschichte ihrer Freundschaft. Stuttgart 1965, S. 121.) Über den „Allwill“ kam es zu ersten Auseinandersetzungen zwischen den Freunden.

Den vorliegenden Brief schrieb Goethe nach der Rückkehr von seiner Rheinreise. Am 26. Juli war er, von Köln und Neuwied kommend, in Ems eingetroffen und von dort in einer Nachtfahrt vom 12. auf den 13. August nach Frankfurt zurückgekehrt.

ieder glaubt 〈…〉 giebt] Diese Formulierung übernahm Jacobi in seinen Brief an Wieland vom 27. August 1774 (vgl. JB I 1, 251).

vorige Nacht] Die Nacht vom 12. auf den 13. August.

Basedows Grille] Goethe hatte sich seit dem 26. Juli mit Johann Bernhard Basedow in Ems aufgehalten. Am 12. August waren sie von dort aufgebrochen und, offenbar auf Wunsch Basedows, auch während der Nacht gereist.

Es ist wieder Nacht.] Die Nacht vom 13. auf den 14. August.

Tanten] Johanna Fahlmer.

ihr ander garstig Verhältniss] Bestimmtes konnte nicht ermittelt werden. Düntzer vermutet, es könnte sich um ein Zerwürfnis zwischen Johanna Fahlmer einerseits und Sophie La Roche und ihrer Tochter Maximiliane Brentano andererseits handeln (vgl. Düntzer, Freundesbilder, 137, Anm. 2). In einem Brief Jacobis an Sophie La Roche vom 10. August 1774 heißt es: „Ob ich Ihnen verzeihen kann, daß Sie zu Frankfurt, während eines Aufenthalts von drei Wochen, meine Freundin nicht sahen? 〈…〉 Es hat mir ​wehe gethan, daß Sie Adelaiden nicht besuchten, und noch thut's mir sehr wehe. Das quält mich am mehrsten, daß ich selbst vielleicht Schuld bin, daß Sie die liebe, liebevolle, schwermüthige Seele meiner edlen Freundin so lange marterten, so tief betrübten.“ (JB I 1, 242. – Adelaide: Johanna Fahlmer, unter diesem Namen auch in Johann Georg Jacobis „Die Sommerreise“ [Halle 1770] besungen.)

garstig] Hier im Sinn von ‚unrein‘, ‚schändlich‘ (vgl. Adelung 2, 419).

Sie darf mit mir von ihrem Friz reden] Zu ergänzen wäre wohl: nachdem sich die von Johanna Fahlmer vermittelte Freundschaft zwischen Goethe und Jacobi hergestellt hat.

ihr triumphirender Glaube: sie werden sich lieben!] Gemeint sind Goethe und Jacobi.

Frau] Elisabeth Jacobi.

Schwestern] Charlotte und Helene Jacobi.

Rosten] Pseudonym für Wilhelm Heinse; es wird wie folgt erklärt: „Unter diesem Namen hatte ihn Gleim 〈1772〉 in die dortigen 〈Halberstädter〉 Verhältnisse gebracht, weil er den Namen Heinse, an welchen sich 〈nach Erscheinen seiner moralsatirischen „Sinngedichte“ (1771)〉 schon schriftstellerisch muthwillige Beziehungen knüpften, der Hauslehrerstelle nicht so passend erachtete.“ (Wilhelm Heinse's sämmtliche Schriften. Hrsg. von Heinrich Laube. Bd 1. Leipzig 1838, S. XXXII.) Heinrich Düntzer nimmt an: „Der Beiname ist von dem 1765 verstorbenen, durch seine etwas leichtfertigen und üppigen Dichtungen bekannten Johann Christoph Rost hergenommen.“ (Düntzer, Freundesbilder, 137, Anm. 4.)

ieglichem nach seiner Art] Die Formulierung findet sich mehrfach im biblischen Schöpfungsbericht (vgl. 1 Mose [Genesis]).

Mädgen] Charlotte und Helene Jacobi; ihre Briefe sind nicht überliefert.

meine neuen] Mit diesen Worten schließt die Zeile am Seitenrand. Sinngemäß wäre wohl ‚Freunde‘ o. Ä. zu ergänzen.

Jung] Johann Heinrich Jung, den Goethe in Elberfeld besucht hatte (vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 132 ).

Clavigo] Goethes Trauerspiel war vermutlich Mitte Juli erschienen (vgl. QuZ 4, 679, Anm. 2).

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 134 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR134_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 111–112, Nr 134 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 292–295, Nr 134 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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