Goethes Briefe: GB 2, Nr. 127
An Sophie La Roche

〈Frankfurt a. M. , zwischen Anfang Juli und 15. Juli 1774〉 → 〈Frankfurt a. M.〉

〈Abschrift〉


Hier schick ich den Herder, die Zeigen bedeuten Druckfehler nichts weiter, Gestern abend las ich Rosaliens zusammenkunft mit der armen Hennriette, Sie ist herrlich rührend aber der Eintritt ist wahrhaftig ​groß . wollen Sie mir erlauben zu der Geschichte des braven Becken einige Züge hinzuzusezen die Sie neulich in der Kutsche in die Erzäh lung webten, und auf dem Papier fehlen?

D. l. M. m. h. G. G.

Der Brief wurde wie Nr 122 und 126 innerhalb Frankfurts befördert. Der verschlüsselte Gruß am Schluss des Briefes weist darauf hin, dass sich Sophie La Roche in der Stadt aufhielt. Der Brief stammt demnach aus der Zeit von Sophie La Roches dreiwöchigem Sommeraufenthalt in Frankfurt von Ende Juni bis kurz vor dem 24. Juli 1774 (vgl. Datierung zu Nr 122 ). Er wurde vor Goethes Abreise nach Ems am 15. Juli und vermutlich nach Brief Nr 122 geschrieben, der auf Anfang Juli, den Beginn von Sophie La Roches Aufenthalt, datiert werden kann. Denn dass die im vorliegenden Brief erwähnte gemeinsame Fahrt in der Kutsche neulich ( 102,17 ) stattfand, deutet darauf hin, dass Sophie La Roche schon einige Zeit in Frankfurt weilte.

H: Verbleib unbekannt.

h​1: Pierpont Morgan Library, New York, Misc. Heinemann, Goethe-Bettina, MSS 1. – Abschrift von Bettine Brentano vom 2. oder 3. Juni 1806 (= h​a; vgl. Vorbemerkung in der Überlieferung zu Nr 47 ).

h​2: Pierpont Morgan Library, New York, Misc. Heinemann, Goethe-Bettina, MSS 1. – Abschrift von Bettine Brentano (= h​b; vgl. Vorbemerkung in der Überlieferung zu Nr 47 ).

h​3: FDH/FGM Frankfurt a. M., Sign.: 10721–10732. – Abschrift von Johann Friedrich (Fritz) Schlosser (= h​c; vgl. Vorbemerkung in der Überlieferung zu Nr 47 ).

h​4: GSA Weimar, Sign.: 29/294,III. – Abschrift von fremder Hd (= h​d; vgl. Vorbemerkung in der Überlieferung zu Nr 47 ).

E: Frese (1877), 145, Nr 8 (nach h​3).

WA IV 2 (1887), 142, Nr 203 (nach Goethe-La Roche, 30 [dort vermutlich nach einer nicht überlieferten Abschrift von h​3]).

Textgrundlage: h​1. – Vgl. Vorbemerkung in der Überlieferung zu Nr 47 .

abend] Abend ​h​2 zusammenkunft] Zusammenkunft ​h​2       wollen] Wollen ​h​2 hinzuzusezen] hinzuzusezen, ​h​2       l.] L. ​h​2 h.] H. ​h​2 G.] G: ​h​2

1 Exemplar des 1. Bandes von Herders „Aeltester Urkunde des Menschengeschlechts“ (vgl. zu 102,13 ).

Ein Bezugs- und ein Antwortbrief sind nicht bekannt.

den Herder] Johann Gottfried Herders „Aelteste Urkunde des Menschengeschlechts“ (Bd 1. Riga 1774) war zur Ostermesse erschienen; Goethe erwähnt das Werk erstmals in Nr 123 im Briefteil vom 8. Juni (vgl. 96,23–24 ), ebenso im Brief an Sophie La Roche vom 16. Juni 1774 ( Nr 119 ), wo es als eine der wenigen interessanten Neuerscheinungen der Leipziger Ostermesse bezeichnet wird (vgl. 92,22–23 ).

die Zeigen] Die Zeichen.

Rosaliens zusammenkunft mit der armen Hennriette] Diese Episode aus Sophie La Roches „Freundschaftlichen Frauenzimmer-Briefen“ erschien zuerst 1775 im Mai-Heft der „Iris“ (3. Bd. 2. Stück, S. 106–113) im 13. Brief, dann 1779 im 1. Band der Buchausgabe unter dem Titel „Rosaliens Briefe“ im 14. Brief (S. 72–81). – Rosalie berichtet „mit thränendem Auge“ von ihrer ersten Begegnung mit dem Fräulein Henriette von Essen: „〈…〉 aber möge ich ja niemals den Mann sehen, der dieses Herz brechen konnte.“ (Iris. 3. Bd. 2. Stück. Mai 1775, S. 106.) Die Erzählerin wird vom Pfarrer M. K. zu der todkranken Henriette von Essen eingeladen, in der Hoffnung, die Leidende zu erheitern. Rosalie begibt sich zum Haus des Fräuleins, neben dem eine Schule und eine Spinnstube mit Viehhof und Gemüsegarten errichtet worden sind. Dort betreut und unterrichtet Henriette von Essen Kinder aus der Umgebung. Das Fräulein zeigt sich erfreut über den Besuch, erklärt jedoch: „Aber meine werthen Freunde, ich glaube, daß mein Schicksal entschieden ist; denn ich bin unter der Last meines Kummers und meiner Empfindsamkeit so tief gesunken, so ermattet, daß ich nicht mehr Kraft genug habe, mich an der liebreichen Hand festzuhalten, die mich retten will. / Hier sah sie mich mit einer unbeschreiblichen Wehmuth an; erhob ihre schöne Augen einen Moment gen Himmel, und weinend sagte sie: / ,Rosalie! ihre Freundschaft ist ein Blume, die an dem Rande meines Grabes sproßt 〈…〉.‘“ (Iris. 3. Bd. 2. Stück. Mai 1775, S. 111 f.)

Geschichte des braven Becken] Brav: hier im zeitgenössischen Sinne von allgemein ‚tüchtig‘, ‚sich bewährend‘ (vgl. GWb 2, 869); Beck: oberdt. für ‚Bäcker‘ (vgl. Adelung 1, 685). – Gemeint ist die Geschichte von dem „verwittibten Becker“ (vgl. Iris. 3. Bd. 2. Stück. Mai 1775, S. 90–97 [11. Brief]; Rosaliens Briefe. Bd 1. Altenburg 1779, S. 58–64 [12. Brief]): Nach dem Tod ihrer jeweiligen Ehepartner will ein verwitweter Bäcker die verarmte Witwe eines Weinschenks von R**. heiraten. Die Obrigkeit aber verweigert ihm die Erlaubnis, weil es bereits genug Bäcker und Weinschenke im Dorf gebe und die Frau verschuldet sei. Der Bäcker aber schildert seine Liebe so eindringlich und erklärt sich bereit, für die Schulden der Frau aufzukommen, dass ihm schließlich die erbetene Erlaubnis in Aussicht gestellt wird. – Im Erstdruck des vorliegenden Briefes, der nicht in die Überlieferungsvarianten aufgenommen wurde, weil er den Text einer Abschrift nach einer Abschrift wiedergibt (vgl. Vorbemerkung in der Überlieferung zu Nr 47 ), wird Geschichte des braven Buben gelesen. Auf dieser offenbar falschen Lesung beruht die Annahme verschiedener Kommentatoren, es handle sich um die Romanfigur des Herrn von T**. (vgl. Goethe-La Roche, 31; DjG​2 6, 345 f., zu Nr 238; DjG​3 4, 336, ebenso noch FA/Goethe II 1, 887): Herr von M**., der Vetter des Herrn von T**., ist mit dem Fräulein Henriette von Essen verlobt. Um diese und seinen Vetter auf die Probe zu stellen, macht er sie miteinander bekannt. Herr v. T**. verliebt sich leidenschaftlich in Henriette, verzichtet jedoch zugunsten seines Vetters. Henriette aber fühlt sich durch die Frivolität ihres Verlobten von diesem zunehmend entfremdet und trennt sich von ihm. Da er sich keine Hoffnung auf Henriette machen kann, heiratet Herr von T**. eine andere Frau. Als er jedoch von Henriettes Trennung erfährt, gesteht er ihr seine Liebe. Henriette erwidert diese Liebe, wird durch deren Aussichtslosigkeit jedoch unglücklich und schließlich krank. Kurz vor ihrem Tod bittet Henriette Herrn von T**. zu sich, bekennt ihm ihre Liebe und stirbt, während er vor ihrem Bett kniet. (Vgl. Iris. 4. Bd. 1. Stück. Juli 1775, S. 17–45 [16.–18. Brief]; Rosaliens Briefe. Bd 1. Altenburg 1779, S. 108–133 [19.–21. Brief].)

einige Züge hinzuzusezen] Ob dies geschah, wurde nicht ermittelt. Zur Anteilnahme Goethes an Sophie La Roches Roman vgl. auch Nr 95 .

D. l. M. m. h. G.] Der lieben Max (imiliane) meinen herzlichen Gruß.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 127 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR127_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 102, Nr 127 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 277–280, Nr 127 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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