BuG: BuG II, A 273
Harzreise 3./4. 12. 1777

F. Nötzoldt nach mündlicher Tradition (Nötzoldt S. 13)

Wernigerode 3./4. 12. 1777

In seiner „Campagne in Frankreich“, in Briefen an die Frau von Stein und in Tagebuchaufzeichnungen hat Goethe von dieser ersten Harzreise und dem Besuch bei Plessing ausführlich berichtet, und die Goetheforscher haben auf Grund dieser Aufzeichnungen jedem seiner Schritte nachgespürt ... Aber eins ist ihnen dennoch allen entgangen, weil es bis auf den heutigen Tag nur im engen Kreise der Erinnerungen einer Familie fortlebte und hier zum ersten Male ausgeplaudert wird, nämlich die Tatsache, daß Goethe, der auf dieser Reise alle Welt über seine Persönlichkeit hinters Licht führen wollte, an einer Stelle selbst betrogen worden ist ...

In der „Goldenen Forelle“, am Marktplatz von Wernigerode, gegenüber dem prächtigen gotischen Rathause mit den beiden spitzen Türmchen, saß der Wirt Hildebrand am Tisch und fluchte. Der einzige Zuhörer, den er dabei hatte, war sein Sohn, der eben als frischgebackener Doktor von der Universität Göttingen gekommen war und sich im elterlichen Hause ein wenig von den Examensanstrengungen ausruhen und zugleich um den alten Kameraden Plessing kümmern wollte, von dem er in den letzten Monaten Briefe erhalten hatte, die ihm Sorge machten.

Vater Hildebrands Flüche galten dem Kellner ... Hinter der Gaststube lag er in einem Verschlag und schnarchte einen seiner gewaltigen Räusche aus ... Da kam plötzlich ein fremder Reiter die Straße entlang. Vater und Sohn sahen ihn fast gleichzeitig.

„Ausgerechnet!“ sagte der alte Hildebrand, als der Reiter vor dem Hause sein Pferd anhielt und sich anschickte, abzusteigen. „Ausgerechnet ein Gast, wo der Kerl wieder besoffen ist!“

„Er sieht gut aus“, stellte der Sohn fest, „scheint etwas Besonderes zu sein.“

„Auch das noch“, schimpfte der Alte und erhob sich seufzend. „Auch noch einer, der Ansprüche stellt.“

„Er kommt wahrhaftig rein,“ meinte der Sohn und stand ebenfalls auf.

„Da muß ich mich selber um das Pferd kümmern!“ sagte der Alte, nahm sein Käppchen vom Wandhaken und ging brummend zur Tür hinaus, dem Gaste entgegen. –

Während der Wirt sich draußen mit dem Pferde beschäftigte und es zum Stalle führte, trat der Fremde in die Stube. Der Wirtssohn hatte sich in die dunkle Ecke hinter dem Schanktisch zurückgezogen und beobachtete den Gast, ohne selbst gesehen zu werden.

Mit schnellen Schritten ging der Fremde auf den Ofen zu, um sich aufzuwärmen und sah sich dann mit großen klugen Augen im Raume um.

Eine Weile stand er, sich allein glaubend, neben dem Ofen. Dann räusperte er sich. Das klang ein wenig ungeduldig, und der junge Doktor in seinem Versteck wünschte den Vater herbei. Doch der kam nicht, auch nicht, als der Gast am Ofen sich zum zweiten Male laut räusperte. Diesmal klang es noch ungeduldiger.

Beim dritten energischen Räuspern machte der Wirtssohn die Tür zum Verschlag leise auf und ging hinein.

Der Kellner lag da und schnarchte in tiefen Zügen. Der junge Hildebrand rüttelte ihn, doch das half nichts. Er unterbrach sein Schnarchen nur auf einen Augenblick, um dann um so kräftiger wieder zu beginnen.

Noch einmal klang sehr vernehmlich ein Räuspern aus der Gaststube. Der Vater war also immer noch nicht aus dem Stall zurück.

Da faßte der junge Doktor einen Entschluß. Er begann, dem schnarchenden Kellner die himmelblaue Schürze abzubinden, was ihm nach einiger Mühe gelang, und hängte sie sich selbst um. Dann trat er in die Gaststube und begrüßte den Fremden mit einer ergebenen Verbeugung.

Der sah ihn durchdringend an und bestellte eine Flasche Rotwein und ein Essen. –

Als der junge Hildebrand die Weinflasche auf den Tisch brachte, kam der Vater endlich in die Gaststube zurück und ging, über seinen neuen Kellner schmunzelnd, in die Küche.

Der Gast fragte ein wenig herablassend nach verschiedenen Dingen, und der Mann in der himmelblauen Schürze diente ihm freundlich und zuvorkommend mit Antworten. Ein Lächeln spielte dabei um seine Mundwinkel, und der Vater und die Mutter, die inzwischen im Hintergrund erschienen waren, freuten sich auch. Ihr Sohn verstand das Gewerbe. Er machte seine Sache wirklich gut. Selbst als er das Essen servierte, klappte alles so, als sei es gelernt und oft geübt. Dabei fragte der Gast nach einem jüngeren, gebildeten Menschen in der Stadt.

Der junge Doktor schwankte einen Augenblick, ob er sich jetzt zu erkennen geben sollte, doch ihm machte die Komödie Spaß, und er merkte auch, wie sie den Eltern gefiel, darum spielte er sie weiter.

Er brauchte nicht lange zu überlegen. Seinem Freunde Plessing konnte eine Abwechslung nur gut sein und ein kluges Gespräch konnte ihn vielleicht aus seinen Grübeleien für einige Zeit herausreißen. Darum nannte er den Namen des Freundes und setzte verschiedene lobende Sätze über ihn hinzu.

Der Fremde schien ein wenig verwundert über die Worte und blickte ihn an. Doch der Mann mit der blauen Schürze senkte schnell und ergeben die Augen und erbot sich diensteifrig, den jungen Herrn Plessing zu benachrichtigen.

Er versprach sich einen Spaß davon, wenn er in der himmelblauen Kellnerschürze als Bote bei dem Freunde erschien. Und wirklich, als der Gast ihn schickte und die Eltern seines Freundes ihn in dieser Aufmachung sahen, und seinen Auftrag und die näheren Umstände, wie es dazu kam, hörten, lachten sie und selbst der Freund stimmte mit ein und versprach, den jungen Hildebrand nicht zu verraten.

Nachdem der Wirtssohn den Fremden zu dem Hause hinter der Sylvestrikirche gebracht hatte und in die „Goldene Forelle“ zurückgekehrt war, band er die Schürze wieder ab.

Für diesen Abend war seine Rolle zu Ende ... Da der echte Kellner am Morgen noch immer nicht auf die Beine zu bringen war, mußte der falsche noch einmal die blaue Schürze umbinden und das Pferd für den Gast satteln. Das Trinkgeld steckte er mit einer tiefen Verbeugung ein, um sein Lachen zu verbergen, und die anerkennenden Worte über den Freund hörte er mit echter Freude.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG II, BuG02_A_0273 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG02_A_0273.

Entspricht Druck:
BuG II, S. 49 ff. (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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