Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 177
Von Johann Kaspar Lavater

10. Dezember 1783, Zürich

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Zwey Worte, Lieber!


Danck für die Mühe des Nachschickens der ein-
gegangenen Briefe. Es gieng Alles recht, wenn
schon nicht immer nach dem ersten Wunsch. Ich
respektire jede Geschehenheit, wie eine Gott-
heit.


Sie sind, die sehr lieben, obgleich sich sehr un-
ähnlichen, glücklich und unangefochten von üb-
ler Laune in Dessau angekommen – die Sa-
gen, die man ihnen in Dessau meinethalben präsentirte,
waren mir sehr befremdend – Ich hatte
Alles eher erwartet, als daß man sagen
würde – "On dit des choses horribles sur son
sujet" – Ein schwacher Sterblicher bin ich –
Aber keiner Horribilität fähig, keiner Sa-
che, die ich mich schämen würde, dir zu geste-
hen – Wie gesagt aber, ich rechte nie mit
ehernen Gesezen. Was geschehen ist, ist
mir Orakel. Wenn der Orakler mir gut
ist, lächl' ich auch seinen ehernen Ge-
sezen – lies seinen nicht seiner


Dein Wilhelm hat mich seiner Rotundi- | 2 |
tät und Ganzheit wegen sehr gut unter-
halten. Am meisten intereßirt mich
der Geisterbeherrschte Mignon, der so
wenig erfunden ist, als Abraham, Isaak
und Jakob


So sehr wie möglich sucht ich die Fürstinn
in Ansehung aller menschlichen Verhält-
niße auf feste menschliche Füße zu
stellen, auf denen auch ich stehe – Ob-
gleich mein ganzes Wesen immer entflie-
hen will.


Des Herzogs Bravheit rühmte mir Franz
sehr und die deinige mit. Es ist sonder-
bar, wie heiliglich Franz behandelt werden
muß. Ich acht Ihn darum auch sehr hoch, weil
Er an allem Guten Aller Guten, die Er
recht sieht, solche hochachtende Lust hat.


Wie du im Jus Breviarum hieltest, so
ich im 1 = 1. Zur Seite gehen Messias
u. Pilatus – Ein sonderbar Trio.


Für das unübertreffliche Gedicht voll
Klarheit und Wahrheit über den Menschen, | 3 |
das du an die Sch. schicktest, küß ich dir
die Stirn.


Lebe und Liebe! Sey froh und mach
froh.

    L.


Der Grösselose, Krafftvolle, EinfaltArme,
Sternsclav und GeisterGestalten Zwin-
ger Calliostro ist in Bourdeau wieder
gefunden worden.


S:  Zentralbibliothek Zürich  D:  GL Nr. 127  B : 1783 November 24 (WA IV 6, Nr. 1822); 1783 November 28 (WA IV 6, Nr. 1825)  A : 1783 Dezember Ende (WA IV 6, Nr. 1849)  V:  Abschrift 

Danck für die Mühe des Nachschickens der eingegangenen Briefe. Zu Nachrichten über die Heimkehr des Fürstenpaares von Anhalt-Dessau nach Dessau und den dort geäußerten Urteilen über L. - Wie dus im Jus Breviarum hieltest, so ich im 1 = 1. Zur Seite gehen Messias u. Pilatus - Ein sonderbar Trio. - An G.s "Wilhelm Meisters Lehrjahren" habe ihn der Geisterbeherrschte Mignon am meisten interessiert. Freude über das an B. Schultheß gesandte unübertreffliche Gedicht voll Klarheit und Wahrheit über den Menschen ("Das Göttliche"). - Cagliostro sei in Bordeaux wieder gefunden worden.

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Zwey Worte, Lieber!

 Danck für die Mühe des Nachschickens der eingegangenen Briefe. Es gieng Alles recht, wenn schon nicht immer nach dem ersten Wunsch. Ich respektire jede Geschehenheit, wie eine Gottheit.

 Sie sind, die sehr lieben, obgleich sich sehr unähnlichen, glücklich und unangefochten von übler Laune in Dessau angekommen – die Sagen, die man ihnen in Dessau meinethalben präsentirte, waren mir sehr befremdend – Ich hatte Alles eher erwartet, als daß man sagen würde – "On dit des choses horribles sur son sujet" – Ein schwacher Sterblicher bin ich – Aber keiner Horribilität fähig, keiner Sache, die ich mich schämen würde, dir zu gestehen – Wie gesagt aber, ich rechte nie mit ehernen Gesezen. Was geschehen ist, ist mir Orakel. Wenn der Orakler mir gut ist, lächl' ich auch seinen ehernen Gesezen – lies seinen nicht seiner

 Dein Wilhelm hat mich seiner Rotundi| 2 |tät und Ganzheit wegen sehr gut unterhalten. Am meisten intereßirt mich der Geisterbeherrschte Mignon, der so wenig erfunden ist, als Abraham, Isaak und Jakob

 So sehr wie möglich sucht ich die Fürstinn in Ansehung aller menschlichen Verhältniße auf feste menschliche Füße zu stellen, auf denen auch ich stehe – Obgleich mein ganzes Wesen immer entfliehen will.

 Des Herzogs Bravheit rühmte mir Franz sehr und die deinige mit. Es ist sonderbar, wie heiliglich Franz behandelt werden muß. Ich acht Ihn darum auch sehr hoch, weil Er an allem Guten Aller Guten, die Er recht sieht, solche hochachtende Lust hat.

 Wie du im Jus Breviarum hieltest, so ich im 1 = 1. Zur Seite gehen Messias u. Pilatus – Ein sonderbar Trio.

 Für das unübertreffliche Gedicht voll Klarheit und Wahrheit über den Menschen,| 3 | das du an die Sch. schicktest, küß ich dir die Stirn.

Lebe und Liebe! Sey froh und mach froh.   L.

 Der Grösselose, Krafftvolle, EinfaltArme, Sternsclav und GeisterGestalten Zwinger Calliostro ist in Bourdeau wieder gefunden worden.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
RA 1, Nr. 177, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0177_00198.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 177.

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