Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 173
Von Johann Georg Christian Kestner

nach 2. Mai 1783, Hannover

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ich danke, daß Ihr mir von dem Vorhaben, den
W. umzuarbeiten, Nachricht geben wollen. ich
freue mich aber, lieber bester Freund, nur
in so fern darauf, als das Anstössige darin
hoffentlich wenigstens gemildert werden kann,
und – wenn Ihr einigen Erinnerungen
darüber Raum geben wolltet, welches
ich doch zu Eurer Freundschaft gegen uns
zuversichtlich hoffe, ietzt am mehrsten
hoffe, da Euer iugendliches Feuer sich
in 10 Jahren etwas gemildert haben,
und der kältern Ueberlegung des Man-
nes von selbst etwas nachgeben wird.


   ich erinnere mich, gleich damahls, als
Ihr uns ein Examplar davon schick-
tet, einige Erinnerungen gemacht
zu haben, um die völlige Publication
noch aufzuhalten, welches aber zu spät
war. Da das Buch auch einmahl
in aller Welt Händen ist; so wird
nicht allem, wenigstens nicht ganz ab-
geholfen werden können. – ich besitze
ietzo das Exemplar nicht mehr. Es muß
mir entwandt seyn. Von andern | 2 |
mag ich es auch nicht fodern, theils aus denen
in meinem letzten Briefe bemerkten Gründen,
theils, um nicht bemerklich zu machen, daß
ich von der vorhabenden Umarbeitung ge-
wußt habe. ich will es mir zwar ver-
schreiben, um es nochmahls genau durch-
zugehen, und meine Erinnerungen darüber
bestimmter zu machen. Vorläufig aber etwas,
das mir eben gerade einfällt.


1.) Die Ohrfeigen, welche Lotte
austheilt, warn uns beyderseits anstössig. Diese
Episode ist weder in der wahren Geschichte ge-
gründet – es sey denn, daß Ihr solches anders
woher genommen – noch dem Charakter der Lotte,
welche Ihr schildert, genug angemessen. Meine
Lotte wenigstens, wäre nie im Stande gewesen,
sich so zu benehmen. Ob sie gleich ein
lebhaftes muthwilliges Mädgen war: so blieb
sie doch immer ein Mädgen, und behielt
bey solcher Lebhaftigkeit u. Muthwil-
len doch immer die weibliche Delicatesse – ein
anderes Wort, fällt mir nicht gleich ein – bey.
2.) Der Umstand, daß sie Werthern auf dem
Balle gleich zu verstehen gegeben, daß sie
schonengagiret sey, war uns auch anstössig.


Meine L., wenn die damit gemeynet wäre,
hätte solches nicht äusern können; weil wir | 3 |
nie eigentlich versprochen gewesen sind. Wir ver-
standen uns, wir waren einig, wir waren nicht
mehr zu trennen, das ist wahr. Es beruhete aber
nur zum Theil auf einer stillschweigenden Ueber-
einkunft. Wir hätten menschlichen Gesetzen nach
uns noch immer trennen können. Auf meiner Seite
hatte eine gewisse Eigenheit oder Caprice,
wenn Ihr wollt, daran schuld.


S:  Stadtarchiv Hannover  D:  Briefe HA Nr. 67  B : 1783 Mai 2 (WA IV 6, Nr. 1727)  A : -  V:  Konzept, Fragment 

K. dankt G. für die Nachricht von dem Vorhaben, den Werther umzuarbeiten. Er freue sich aber nur in so fern darauf, als das Anstössige darin hoffentlich wenigstens gemildert werden kann, und verweise auf seine ehemaligen Erinnerungen, die er nach Empfang des Buches geäußert habe (vgl. RA 1, Nr. 36). Leider besitze er das Buch nicht mehr, wolle es sich aber beschaffen, um es nochmahls genau durchzugehen. Vorläufig verweise er auf zwei Stellen, die ihnen beiden anstössig erschienen seien und keineswegs zu Lotte paßten: Die Ohrfeigen, welche Lotte austheilt und der Umstand, daß sie Werthern auf dem Balle gleich zu verstehen gegeben, daß sie schon engagiert sey.

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 ich danke, daß Ihr mir von dem Vorhaben, den W. umzuarbeiten, Nachricht geben wollen. ich freue mich aber, lieber bester Freund, nur in so fern darauf, als das Anstössige darin hoffentlich wenigstens gemildert werden kann, und – wenn Ihr einigen Erinnerungen darüber Raum geben wolltet, welches ich doch zu Eurer Freundschaft gegen uns zuversichtlich hoffe, ietzt am mehrsten hoffe, da Euer iugendliches Feuer sich in 10 Jahren etwas gemildert haben, und der kältern Ueberlegung des Mannes von selbst etwas nachgeben wird.

  ich erinnere mich, gleich damahls, als Ihr uns ein Examplar davon schicktet, einige Erinnerungen gemacht zu haben, um die völlige Publication noch aufzuhalten, welches aber zu spät war. Da das Buch auch einmahl in aller Welt Händen ist; so wird nicht allem, wenigstens nicht ganz abgeholfen werden können. – ich besitze ietzo das Exemplar nicht mehr. Es muß mir entwandt seyn. Von andern| 2 | mag ich es auch nicht fodern, theils aus denen in meinem letzten Briefe bemerkten Gründen, theils, um nicht bemerklich zu machen, daß ich von der vorhabenden Umarbeitung gewußt habe. ich will es mir zwar verschreiben, um es nochmahls genau durchzugehen, und meine Erinnerungen darüber bestimmter zu machen. Vorläufig aber etwas, das mir eben gerade einfällt.

 1.) Die Ohrfeigen, welche Lotte austheilt, warn uns beyderseits anstössig. Diese Episode ist weder in der wahren Geschichte gegründet – es sey denn, daß Ihr solches anders woher genommen – noch dem Charakter der Lotte, welche Ihr schildert, genug angemessen. Meine Lotte wenigstens, wäre nie im Stande gewesen, sich so zu benehmen. Ob sie gleich ein lebhaftes muthwilliges Mädgen war: so blieb sie doch immer ein Mädgen, und behielt bey solcher Lebhaftigkeit u. Muthwillen doch immer die weibliche Delicatesse – ein anderes Wort, fällt mir nicht gleich ein – bey. 2.) Der Umstand, daß sie Werthern auf dem Balle gleich zu verstehen gegeben, daß sie schonengagiret sey, war uns auch anstössig.

 Meine L., wenn die damit gemeynet wäre, hätte solches nicht äusern können; weil wir| 3 | nie eigentlich versprochen gewesen sind. Wir verstanden uns, wir waren einig, wir waren nicht mehr zu trennen, das ist wahr. Es beruhete aber nur zum Theil auf einer stillschweigenden Uebereinkunft. Wir hätten menschlichen Gesetzen nach uns noch immer trennen können. Auf meiner Seite hatte eine gewisse Eigenheit oder Caprice, wenn Ihr wollt, daran schuld.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
RA 1, Nr. 173, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0173_00188.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 173.

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