Tagebuch­eintrag: GT, Nr. 656
⟨nach 15. Dezember 1778⟩–, Weimar

– Diese lezte Zeit meist sehr still in mir. Architecktur gezeichnet um noch abgezogner zu werden. Leidlich reine Vorstellung von vielen Verhältnissen. Mit Knebeln über die Schiefheiten der Sozietät. Er kam drauf mir zu erzählen wie meine Situation sich von aussen aus nähme. Es war wohl gesagt von aussen. – Wenn man mit einem lebt soll man mit allen leben, einen hört, soll man alle hören. Vor sich allein ist man wohl reine, ein andrer verrückt uns die Vorstellung durch seine, hört man den dritten so kommt man durch die Parallaxe wieder aufs erste wahre zurück.

Garstiges Licht. auf Fr. geworfen durch viel seiner Handlungen die ich eine 1 Zeit her durch passiren lassen. Gutheit von Steinen. Warnung solcher Menschen gut, aber nur selten. Offters ziehen sie einen in ihre enge, arme Vorstellung. Jedes Menschen Gedancken und Sinnes art hat was Magisches. Kriegte die Lebens beschr. 2 von Kr. Dachte über die Musik. und die Zeichen Akad. Hundsfüttisches Votum von K in der Bergw. Sache. Glauer fing an Frizzens Statue an. Mir war die sehr lieb Gutmütiger 3 Schn. Ich bin nicht zu dieser Welt gemacht, wie man aus seinem Haus tritt geht man auf lauter Koth. und weil ich mich nicht um Lumpereyen kümmre nicht, klatsche und solche Rapporteurs nicht halte, handle 4 ich oft dum. – Viel Arbeit in mir selbst zu viel Sinnens, 5 dass Abends mein ganzes Wesen zwischen 6 den Augknochen sich zusammen zu drängen scheint.

Hoffnung auf Leichtichkeit durch Gewohnheit. 7 Bevorstehende neue EckelVerhältn. durch die Kriegs Comiss. Durch 8 Ruhe und Geradheit geht doch alles durch.

Knebel ist gut aber schwanckend, und zu gespannt bey Faullenzerey und Wollen ohne was anzugreifen. Der Prinz in seiner Verliebschafft höchst arm. Der Herzog immer sich entwickelnd und wenn sichs bey ihm mercklich aufschließt 9 krachts, und das nehmen 10 die Leute immer übel auf. Im ganzen wird spät, vielleicht 11 nie die Schwingung zu mindern seyn die der Ennui unter 12 den Menschen hier erhält. Es wächsen täglich neue Beschwerden, und niemals mehr als wenn man Eine 13 glaubt gehoben zu haben.

  1. p → eine  ↑
  2. in beschr. das Abkürzungszeichen vor dem Punkt korrigiert zu r  ↑
  3. Gutmitiger > Gutmütiger  ↑
  4. handl > handle  ↑
  5. Sinnens. → Sinnens,  ↑
  6. zi → zwischen  ↑
  7. Gewohnx → Gewohnheit.  ↑
  8. G → Durch  ↑
  9. nach aufschließt Komma get  ↑
  10. nehnen > nehmen  ↑
  11. d > vielleicht  ↑
  12. und → unter  ↑
  13. eine > Eine  ↑

H: GSA 27/4


Das Tagebuch ist von Goethe eigenhändig geschrieben. (Zusätze von fremder Hand siehe unten.) Die Eintragungen befinden sich auf Durchschußblättern (170 × 205/210 mm) in einem vorgedruckten Kalender mit dem Titel: »Verbesserter / Calender / Vor / Seiner Churfürstlichen Durchlauchtigkeit / zu Sachsen / Churfürstenthum, incorporirt- und andere Lande, / Auf das Jahr Christi / 1778. / Aus den neuesten und besten Astronomischen Tabellen berechnet, und / auf den Leipziger Mittags-Zirkel gerichtet. / [Wappen] / Auf gnädigsten Churfürstlich Sächsischen Befehl, / und unter der Universität Leipzig ertheiltem PRIVILEGIO. / Leipzig, / Gedruckt und zu finden bey Gotthelf Albrecht Friedrich Löper.«

Druckseiten des Kalenders: 62 (unpaginiert)

Durchschußblätter insgesamt: 24

Beschriebene Blätter: 16


Kalendereinband (175 × 210 mm) aus gemustertem dunkelblauem Kartonpapier. Auf der Vorderseite achteckiges Titelschild mit der Aufschrift 1778. von Goethes Hand. Vorderseite am Bund links unten 3 cm eingerissen. Der Rücken des Kalenders abgegriffen. Die bedruckten Kalenderseiten und die Innenseiten des Einbands aus holzhaltigem Druckpapier, die Durchschuß- und Einlageblätter aus zum Teil stark vergilbtem Schreibpapier, die Ränder unbeschnitten, gewellt. Fadenheftung.


Inhalt des »Calenders« 1778:

Ks 1: Titelblatt des Kalenders

Ks 2–4: »〈…〉 Mandat wegen des Verkaufs und der Stempelung der Calender.«

Ks 5: Historische und chronologische Daten

Ks 6: Kalender für Januar mit Angabe der Namenstage, des Sonnenund des Mondlaufes, »Himmels- und Erden-Zufälle«, jeweils zu Wochenanfang Angabe einer Bibelstelle

Ks 7: Chronologische und astronomische Daten zum Monat Januar, Angabe weiterer Bibelstellen

Ks 8–29: Kalender für Februar bis Dezember; jeweils wie für den Monat Januar beschrieben

Ks 30–31: »Erklärung der vornehmsten ⟨astronomischen⟩ Zeichen und Kunstwörter«

Ks 32–39: »Astronomische Daten«

Ks 40–44: »Post-Wesen« in Dresden und Leipzig

Ks 45: »Chur- und Fürstlich-Sächsische Tribunalien«

Ks 46–62: »Europäisches Geburts-Register 1778«

Schreibmaterial und Zusätze von fremder Hand:

Schwarze, zumeist ins Bräunliche verblaßte Tinte.

Einzeichnung runder Klammern, mit Bleistift (Kanzler von Müller?):

1. Januar: (Ass Haussen.)

2.–4. Januar: (Mittags bis Garten.)

6.–10. Januar: (6.) bis in Garten.)

Korrekturen und Ergänzungen, mit Bleistift (Kanzler von Müller?):

13. Januar: nach gespielt. zwei im Rückenteil sich überschneidende runde Klammern ergänzt

16. Januar: nach Reitbahn Komma ergänzt

13. Februar: Veranderten korr zu »Veränderten«

11.–12. März: den Punkt nach blieb und die nachfolgende Zahl 12 umgebende Klammer mit Tinte ergänzt

15. März: gezeichnet mit Bleistift umrandet

Auf den Kalenderseiten und den Durchschußblättern Bleistiftpaginierung von unbekannter Hand jeweils Vs rechts unten, auf den beschriebenen Durchschußblättern zusätzlich jeweils Vs rechts bzw Rs links oben.

Auf dem Titelblatt rechts unten mit Bleistift der Signaturvermerk »4«.


Zählung und Anordnung der Handschrift:

Bl 1–2 (zwischen Ks 6 und 7)

 

Bl 1:

Tgb-Eintr Januar

Bl 2 leer

 

Bl 3–4 (zwischen Ks 8 und 9)

 

Bl 3:

Tgb-Eintr Februar

Bl 4 leer

 

Bl 5–6 (zwischen Ks 10 und 11)

 

Bl 5:

Tgb-Eintr März

Bl 6 leer

 

Bl 7–8 (zwischen Ks 12 und 13)

 

Bl 7:

Tgb-Eintr April

Bl 8 leer

 

Bl 9–10 (zwischen Ks 14 und 15)

 

Bl 9 Vs–10 Vs:

Tgb-Eintr Mai

Bl 10 Rs leer

 

Bl 11–12 (zwischen Ks 16 und 17)

 

Bl 11 Vs:

Tgb-Eintr Juni

Bl 11 Rs–12 leer

 

Bl 13–14 (zwischen Ks 18 und 19)

 

Bl 13:

Tgb-Eintr Juli

Bl 14 leer

 

Bl 15–16 (zwischen Ks 20 und 21)

 

Bl 15 Vs:

Tgb-Eintr August

Bl 15 Rs–16 Vs leer

 

Bl 16 Rs:

undatierte Tgb-Eintr August

Bl 17–18 (zwischen Ks 22 und 23)

 

Bl 17 Vs:

Tgb-Eintr September

Bl 17 Rs–18 leer

 

Bl 19–20 (zwischen Ks 24 und 25)

 

Bl 19 Vs–20 Vs:

Tgb-Eintr Oktober

Bl 20 Rs leer

 

Bl 21–22 (zwischen Ks 26 und 27)

 

Bl 21 Vs:

Tgb-Eintr November

Bl 21 Rs–22 leer

 

Bl 23–24 (zwischen Ks 28 und 29):

Tgb-Eintr Dezember


D:

Friedrich Wilhelm Riemer: Mitteilungen über Goethe. Aus mündlichen und schriftlichen, gedruckten und ungedruckten Quellen. Bd 2. Berlin 1841. S. 55–78 passim (Auszüge) Carl August Hugo Burkhardt: Goethe’s Tagebuch 1778. In: Die Grenzboten 33 (1874), 1. Semester, 2. Bd, Nr 25. S. ⟨4⟩54–459 (Auszüge)

Robert Keil: Goethe’s Tagebuch aus den Jahren 1776–1782. Leipzig 1875. S. 145–172 WA III 1, 59–75, udT: 1778.

Architecktur gezeichnet] Siehe die zweite Erläuterung zu 7. Dezember 1778. Laut Corpus VII, S. 55, keine Zeichnung nachgewiesen.

über die Schiefheiten der Sozietät] Siehe Tgb 7. Oktober 1777 und 13. Februar 1778.

Parallaxe] Abweichung.

Garstiges Licht bis passiren lassen] Sachbezug nicht ermittelt. Goethe löste am 13. Januar 1779 Jacob Friedrich von Fritsch als Leiter der Kriegskommission ab.

Gutheit] Wohlwollen, Gutmütigkeit.

Lebens beschr. von Kr.] Johann Friedrich Kraffts Lebensbeschreibung, nicht ermittelt. Siehe Briefe an Johann Friedrich Krafft, 14. Dezember 1778 (WA IV 3, 265): Fangen Sie bald an, Ihr Leben zu beschreiben und schicken mir’s stückweise 〈…〉; und 3. Januar 1779 (WA IV 4, 2): Ich erwarte die Fortsetzung Ihres Lebens 〈…〉.

die Musik] Wohl die Bühnenmusik zur »Laune des Verliebten«, die Siegmund von Seckendorff komponierte; siehe Tgb 9. Januar 1779.

die Zeichen Akad.] Die »Fürstliche freie Zeichenschule«, seit ihrer Gründung 1776 geleitet von Georg Melchior Kraus. Ab 1779 wurden jeweils am 3. September, dem Geburtstag Carl Augusts, ausgewählte Arbeiten der Schüler öffentlich ausgestellt; siehe Tgb 3. September 1779, 4. September 1780, 3. September 1781.

Hundsfüttisches Votum von K] In der Abstimmung über die für die Wiederaufnahme des Ilmenauer Bergbaus erforderlichen Kosten votierte Johann August von Kalb gegen Goethes Etatvorlage; vgl die zweite Erläuterung zu 11. Juli 1776. Kalb schied am 8. April 1780 aus der Bergwerkskommission aus; siehe Bradish, S. 49.

Frizzens Statue] Martin Gottlieb Klauer, Standbild Gottlob Friedrich Constantin von Steins als sechsjähriger Knabe, Oetterner Kalkstein auf Holzpostament, Datierung: 1778/1779 (MSWK, InvNr KP1/01606).

Schn.] Wohl gemeint Schnack, Schnacke: Scherz, launischer Einfall.

Rapporteurs] Berichterstatter.

Bevorstehende bis Kriegs Comiss.] Anfang Januar 1779 wurde Goethe die Leitung der Kriegskommission übertragen.

Prinz in seiner Verliebschafft] Prinz Constantin und Caroline von Ilten hatten ein Liebesverhältnis. Einer Heirat widersprach der niedere Adelsrang der Familie von Ilten.

 

 
 

Nutzungsbedingungen

Kontrollen

Kontrast:
SW-Kontrastbild:
Helligkeit:

Zitierhinweis

Online-Edition:
GT I, ⟨nach 15.12.1778⟩ (Wolfgang Albrecht/Andreas Döhler), in: https://goethe-biographica.de/id/GT01_0656.

Entspricht Druck:
Text: GT I 1, S. 68–69 (Wolfgang Albrecht/Andreas Döhler), Stuttgart 1998.
Kommentar: GT I 2, S. 467–468 (Wolfgang Albrecht/Andreas Döhler), Stuttgart 1998.

Zurück zum Seitenanfang