BuG: BuG I, A 303
Frankfurt - Ems 28. 6. 1774

Dichtung und Wahrheit XIV (WA I 28, 271)

Frankfurt, Ems 28. 6. 1774

Ein schönes Sommerwetter begleitete uns [auf der Reise nach Ems], Lavater war heiter und allerliebst. Denn bei einer religiösen und sittlichen, keineswegs ängstlichen Richtung seines Geistes, blieb er nicht unempfindlich, wenn durch Lebensvorfälle die Gemüther munter und lustig aufgeregt wurden. Er war theilnehmend, geistreich, witzig, und mochte das Gleiche gern an andern, nur daß es innerhalb der Gränzen bliebe, die seine zarten Gesinnungen ihm vorschrieben. Wagte man sich allenfalls darüber hinaus, so pflegte er einem auf die Achsel zu klopfen, und den Verwegenen durch ein treuherziges Bisch guet! zur Sitte aufzufordern. Diese Reise gereichte mir zu mancherlei Belehrung und Belebung, die mir aber mehr in der Kenntniß seines Charakters als in der Reglung und Bildung des meinigen zu Theil ward. In Ems sah ich ihn gleich wieder von Gesellschaft aller Art umringt, und kehrte nach Frankfurt zurück, weil meine kleinen Geschäfte gerade auf der Bahn waren, so daß ich sie kaum verlassen durfte.

Lavater, Tagebuch 28. 6. 1774 (SchrGG 16, 291)

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Frankfurt, Ems 28. 6. 1774

Ich erwachte um 3 Uhr; sanft schöner Morgen; Vögeljauchzen; stand gleich auf räumte zusammen, u. hohlte etwas vom gestrigen Tagebuch nach. Herzlich kamm mich Goethe zu umarmen u. mir einen guten Morgen zu wünschen. Correspondenz.

Um ½5 Uhr setzten wir uns ein, u. fuhren durch die sanft von der Morgen Sonne erleuchte, noch stille größtentheils schlumernde Stadt – über prächtige Felder – wir befürchteten ein schreckliches Gewitter. Aber es gieng uns vorüber. Ein prächtiges Gebaüde, das einem Bolongaro gehört an dem eben gebaut war, frappierte uns. Es regnete eine kleine Weile. Goethe erzählte mir viel von Spinosa u. seinen Schriften. Er behauptet, Keiner hätte sich über die Gottheit dem Heiland so ähnlich ausgedrückt wie Er. Alle neüern Deisten haben übrigens nur ihn ausspolirt. Er sey ein aüßerst gerechter, aufrichtiger, armer Mann gewesen. Homo temperatissimus. Er sey in großem Ansehen gestanden, die größten Männer haben ihn zu den wichtigsten Berathschlagungen u. Calculationen gebraucht, ihn wegen seiner ausnehmenden Klugheit u. Treu herzlich geliebt. Er habe die Prophezeyungen bestritten, u. sey selbst ein Prophet gewesen. Er habe die unwahrscheinlichsten Staatsveränderungen vorhergesagt. Seine Hausleüthe hab’ er nach der Predigt von dem Innhalt derselben gefragt. Sie vermahnet die Kirche zu besuchen, u. dem nachzukommen was da gepredigt würde. Auf eine große Erbschaft die ihm gehörte u. die man ihm streitig machen wollte hab er um des Friedens willen Verzicht gethan, u. sich nur seines Vaters Schlafbett ausgebethen. Er sey sehr arm gewesen, u. habe sich mit Glasschleifen kümmerlich erhalten können. Sein Briefwechsel sey das interessanteste Buch, was man in der Welt von Aufrichtigkeit Menschenliebe lesen könne.

Wir stiegen (wo, weiß ich nicht mehr) aus, u. saßen unter einem Baum – Goethe ein Glas Wein, ich Himbeereßig, schrieb ein Billetchen. Er auf die andre Seite. Wieder fort. Von seinem Julius Caesar, einem neüen weitlaüfigen Drama. Von der Zerstörung und Einäscherung der Stadt Oppenheim u. Worms, unter Ludwig, dem XIV. – Man sagte es den Einwohnern vorher, auf den u. den bestimmten Tag werde man die Stadt an allen 4 Ecken anstecken; sie könen ausziehen u. mit sich nehmen was sie wollen. Sie sandten an den comandierenden General erst alle Greisen, dann alle Witwen u. Waisen – dann alle kleinen Kinder, Schwangere, Saugende – alle auf den Knieen baten mit Thränen um Gottes willen um Schohnung. Der General weynte mit ihnen, aber er muß es thun – Sie zogen also mit ihrer Habe auf’s Feld, u. sahn die Flammen, in dennen die Stadt aufgieng! O Gerichtstag! Gerichtstag!

Vor 11 Uhr langten wir in Wißbaden einer Badstadt an, besahen die heißen Bäder, voll trostloser Melancholey – las die Zeitung – schrieb eine Stelle aus Werthers Leiden ab. Aß neben Goethe zu Mittag. Husaren, u. Oficiers, u. ein dummer Pfaff waren da; Eine sanfte junge Knechtische Phisiognomie eines Judensohns, der neben dem Tisch feil hatte frappierte uns. Goethe sprach von einigen seiner Dramen.

Nach dem Eßen Erdbeeren mit einander. Von der Phisiognomie eines jüdischen Taschenspielers, der mich lernen wollte. „Ihr könnt den Herren nichts lernen“, sagte der Wirth, „nicht wahr sie sind ja Hr. Lavater der so artliche Sachen geschrieben? freut mich, die Ehre zu haben Ihnen kennen zu lernen.

Ich ließ die Tischmacher Wächterin, Schulmeister Hartmanns Schwester zu mir rufen. Sie erschien im Aufzug der Armuth. Sie wünschte daß ich zu ihr u. ihrem Mann hinüber kommen mögte. Ich gieng ... Sprach mit Goethe am Fenster, von der Auferstehung Christi. – – –

Um 2 Uhr reißten wir ab. Ich schlief viel. Goethe rezitierte viel von seinem ewigen Juden. Ein seltsames Ding in Knittelversen.

Um ½6 Uhr langten wir nach einigen harten Stößen den Berg hinab – im stillen berühmten Schwallbach an; Wirtshaus, an Wirtshaus – alle Menschen vom kleinsten Kinde bis zum Greisen mit Krügen in der Hand. Wir stiegen beym weißen Roß ab, ein ordentlich Quartier – nahm Himbeer Eßig. Goethe fieng ein Briefchen an meine Frau an – ich vollendets. Nachher giengen wir spazieren in der breiten doppelten übereinander stehenden allée. herrlich angenehm. trafen wenige Personen an. giengen zum Brunnen, der mit rothen Steinen eingefaßt, in einer Vertiefung, in zwon gevierten Aushöhlungen aufquoll. Wir versuchten das Waßer. Starck. Vitriolisch. Goethe rezitirte uns eine Romanze aus dem Schottischen. Ein elender Mann offrierte uns Büchelgen. Ich kaufte Gedichte im Geschmack des Chaulieu u. las sie, u. schrieb billets. Goethe Schmoll u. ich aßen allein zu Nacht. Ich las im Werther. Noch erzählte mir Goethe den ganzen Innhalt der homerischen Iliade, las mir aus der lateinischen Übersezung einige Stellen vor.

Von meinem Gedichte, die Art wolle ihm noch nicht recht in Kopf. Doch gab er nach – da ich die Idee näher bestimmte.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0303 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0303.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 263 (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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