BuG: BuG I, A 302
Frankfurt 23./28. 6. 1774

An G. F. E. Schönborn 4. 7. 1774 (WA IV 2, 175)

Frankfurt 23./28. 6. 1774

Lavater war fünf Tage bey mir und ich habe auch da wieder gelernt, dass man über niemand reden soll den man nicht persönlich gesehen hat; wie ganz anders wird doch alles. Er sagt so offt daß er schwach sey, und ich habe niemand gekannt der schönere Stärcken gehabt hätte als er. In seinem Elemente ist er unermüdet thätig, fertig, entschlossen, und eine Seele voll der herzlichsten Liebe und Unschuld. Ich habe ihn nie für einen Schwärmer gehalten und er hat noch weniger Einbildungskrafft als ich mir vorstellte. Aber weil seine Empfindungen ihm die wahrsten, so sehr verkannten Verhältnisse der Natur in seine Seele prägen, er nun also iede Terminologie wegschmeisst, aus vollem Herzen spricht und handelt und seine Zuhörer in eine fremde Welt zu versetzen scheint, indem er sie in die ihnen unbekannte Winckel ihres eignen Herzens führt; so kann er dem Vorwurf eines Phantasten nicht entgehen. Er ist im Emser Bade wohin ich ihn begleitet habe ... Lav[aters] Phisiognomick giebt ein weitläufiges Werck mit viel Kupfern. Es wird große Beyträge zur bildenden Kunst enthalten, u. dem Historien und Porträitmahler unentbehrlich seyn.

Dichtung und Wahrheit XIV (WA I 28, 264)

Frankfurt 23./28. 6. 1774

Unser erstes Begegnen war herzlich; wir umarmten uns auf’s freundlichste, und ich fand ihn [Lavater] gleich wie mir ihn so manche Bilder schon überliefert hatten. Ein Individuum, einzig, ausgezeichnet wie man es nicht gesehn hat und nicht wieder sehn wird, sah ich lebendig und wirksam vor mir. Er hingegen verrieth im ersten Augenblick durch einige sonderbare Ausrufungen, daß er mich anders erwartet habe. Ich versicherte ihm dagegen, nach meinem angeborenen und angebildeten Realismus, daß, da es Gott und der Natur nun einmal gefallen habe, mich so zu machen, wir es auch dabei wollten bewenden lassen. Nun kamen zwar sogleich die bedeutendsten Puncte zur Sprache, über die wir uns in Briefen am wenigsten vereinigen konnten, allein dieselben ausführlich zu behandeln ward uns nicht Raum gelassen, und ich erfuhr was mir noch nie vorgekommen ...

Unter solchen Umständen war an ein vertrauliches Gespräch, an ein solches das Bezug auf uns selbst gehabt hätte, nicht zu denken, ob ich mich gleich durch Beobachtung der Art, wie er die Menschen behandelte, sehr belehrt, jedoch nicht gebildet fand: denn meine Lage war ganz von der seinigen verschieden. Wer sittlich wirkt, verliert keine seiner Bemühungen: denn es gedeiht davon weit mehr, als das Evangelium vom Sämanne allzu bescheiden eingesteht; wer aber künstlerisch verfährt, der hat in jedem Werke alles verloren, wenn es nicht als ein solches anerkannt wird. Nun weiß man, wie ungeduldig meine lieben theilnehmenden Leser mich zu machen pflegten, und aus welchen Ursachen ich höchst abgeneigt war, mich mit ihnen zu verständigen. Nun fühlte ich den Abstand zwischen meiner und der Lavater’schen Wirksamkeit nur allzu sehr: die seine galt in der Gegenwart, die meine in der Abwesenheit; wer mit ihm in der Ferne unzufrieden war, befreundete sich ihm in der Nähe; und wer mich nach meinen Werken für liebenswürdig hielt, fand sich sehr getäuscht, wenn er an einen starren ablehnenden Menschen anstieß.

Merck, der von Darmstadt sogleich herübergekommen war, spielte den Mephistopheles, spottete besonders über das Zudringen der Weiblein, und als einige derselben die Zimmer die man dem Propheten eingeräumt, und besonders auch das Schlafzimmer, mit Aufmerksamkeit untersuchten, sagte der Schalk: die frommen Seelen wollten doch sehen, wo man den Herrn hingelegt habe. – Mit alle dem mußte er sich so gut wie die andern exorcisiren lassen: denn Lips [Schmoll], der Lavatern begleitete, zeichnete sein Profil so ausführlich und brav, wie die Bildnisse bedeutender und unbedeutender Menschen, welche dereinst in dem großen Werke der Physiognomik angehäuft werden sollten.

Für mich war der Umgang mit Lavatern höchst wichtig und lehrreich: denn seine dringenden Anregungen brachten mein ruhiges künstlerisch beschauliches Wesen in Umtrieb; freilich nicht zu meinem augenblicklichen Vortheil, indem die Zerstreuung die mich schon ergriffen hatte, sich nur vermehrte; allein es war so viel unter uns zur Sprache gekommen, daß in mir die größte Sehnsucht entstand, diese Unterhaltung fortzusetzen. Daher entschloß ich mich, ihn, wenn er nach Ems gehen würde, zu begleiten, um unterwegs, im Wagen eingeschlossen und von der Welt abgesondert, diejenigen Gegenstände, die wechselseitig am Herzen lagen, frei abzuhandeln.

Sehr merkwürdig und folgereich waren mir indessen die Unterhaltungen Lavaters und der Fräulein von Klettenberg. Hier standen nun zwei entschiedene Christen gegen einander über, und es war ganz deutlich zu sehen, wie sich eben dasselbe Bekenntniß nach den Gesinnungen verschiedener Personen umbildet. Man wiederholte so oft in jenen toleranten Zeiten, jeder Mensch habe seine eigne Religion, seine eigne Art der Gottesverehrung. Ob ich nun gleich dieß nicht geradezu behauptete, so konnte ich doch im gegenwärtigen Fall bemerken, daß Männer und Frauen einen verschiedenen Heiland bedürfen. Fräulein von Klettenberg verhielt sich zu dem ihrigen wie zu einem Geliebten, dem man sich unbedingt hingibt, alle Freude und Hoffnung auf seine Person legt, und ihm ohne Zweifel und Bedenken das Schicksal des Lebens anvertraut; Lavater hingegen behandelte den seinigen als einen Freund, dem man neidlos und liebevoll nacheifert, seine Verdienste anerkennt, sie hochpreis’t, und eben deßwegen ihm ähnlich, ja gleich zu werden bemüht ist ...

Wie meine beiden Freunde zu einander standen, wie sie gegen einander gesinnt waren, erfuhr ich nicht allein aus Gesprächen, denen ich beiwohnte, sondern auch aus Eröffnungen, welche mir beide ingeheim thaten. Ich konnte weder dem einen noch dem andern völlig zustimmen: denn mein Christus hatte auch seine eigne Gestalt nach meinem Sinne angenommen. Weil sie mir aber den meinigen gar nicht wollten gelten lassen, so quälte ich sie mit allerlei Paradoxien und Extremen, und wenn sie ungeduldig werden wollten, entfernte ich mich mit einem Scherze.

Der Streit zwischen Wissen und Glauben war noch nicht an der Tagesordnung, allein die beiden Worte und die Begriffe die man damit verknüpft, kamen wohl auch gelegentlich vor, und die wahren Weltverächter behaupteten, eins sei so unzuverlässig als das andere. Daher beliebte es mir, mich zu Gunsten beider zu erklären, ohne jedoch den Beifall meiner Freunde gewinnen zu können. Bei’m Glauben, sagte ich, komme alles darauf an, daß man glaube; was man glaube, sei völlig gleichgültig. Der Glaube sei ein großes Gefühl von Sicherheit für die Gegenwart und Zukunft, und diese Sicherheit entspringe aus dem Zutrauen auf ein übergroßes, übermächtiges und unerforschliches Wesen. Auf die Unerschütterlichkeit dieses Zutrauens komme alles an: wie wir uns aber dieses Wesen denken, dieß hänge von unsern übrigen Fähigkeiten, ja von den Umständen ab, und sei ganz gleichgültig. Der Glaube sei ein heiliges Gefäß, in welches ein jeder sein Gefühl, seinen Verstand, seine Einbildungskraft, so gut als er vermöge, zu opfern bereit stehe. Mit dem Wissen sei es gerade das Gegentheil; es komme gar nicht darauf an, daß man wisse, sondern was man wisse, wie gut und wie viel man wisse. Daher könne man über das Wissen streiten, weil es sich berichtigen, sich erweitern und verengern lasse. Das Wissen fange vom Einzelnen an, sei endlos und gestaltlos, und könne niemals, höchstens nur träumerisch, zusammengefaßt werden, und bleibe also dem Glauben geradezu entgegengesetzt.

Dergleichen Halbwahrheiten und die daraus entspringenden Irrsale mögen, poetisch dargestellt, aufregend und unterhaltend sein, im Leben aber stören und verwirren sie das Gespräch. Ich ließ daher Lavatern gern mit allen denjenigen allein, die sich an ihm und mit ihm erbauen wollten, und fand mich für diese Entbehrung genugsam entschädigt durch die Reise, die wir zusammen nach Ems antraten.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0302 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0302.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 260 (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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