BuG: BuG I, A 293
Frankfurt Jan./Juni 1774

An Sophie v. La Roche Juni 1774 (WA IV 2, 140)

Frankfurt Jan./Juni 1774

Wenn Sie wüssten was in mir vorgegangen ist eh ich das Haus [Brentano] mied, Sie würden mich nicht rückzulocken dencken liebe Mama, ich hab in denen schröcklichen Augenblicken für alle Zukunft gelitten, ich bin ruhig und die Ruhe lasst mir.

Dichtung und Wahrheit XIII (WA I 28, 221)

Frankfurt Jan./Juni 1774

Frau von Laroche hatte ihre älteste Tochter nach Frankfurt verheirathet, kam oft sie zu besuchen, und konnte sich nicht recht in den Zustand finden, den sie doch selbst ausgewählt hatte. Anstatt sich darin behaglich zu fühlen, oder zu irgend einer Veränderung Anlaß zu geben, erging sie sich in Klagen, so daß man wirklich denken mußte, ihre Tochter sei unglücklich, ob man gleich, da ihr nichts abging, und ihr Gemahl ihr nichts verwehrte, nicht wohl einsah, worin das Unglück eigentlich bestünde. Ich war indessen in dem Hause gut aufgenommen und kam mit dem ganzen Cirkel in Berührung, der aus Personen bestand, die theils zur Heirath beigetragen hatten, theils derselben einen glücklichen Erfolg wünschten. Der Dechant von St. Leonhard, Dumeix, faßte Vertrauen ja Freundschaft zu mir. Er war der erste katholische Geistliche, mit dem ich in nähere Berührung trat, und der, weil er ein sehr hellsehender Mann war, mir über den Glauben, die Gebräuche, die äußern und innern Verhältnisse der ältesten Kirche schöne und hinreichende Aufschlüsse gab. Der Gestalt einer wohlgebildeten, obgleich nicht jungen Frau, mit Namen Servières, erinnere ich mich noch genau. Ich kam mit der Allesina-Schweizerischen und andern Familien gleichfalls in Berührung, und mit den Söhnen in Verhältnisse, die sich lange freundschaftlich fortsetzten, und sah mich auf einmal in einem fremden Cirkel einheimisch, an dessen Beschäftigungen, Vergnügungen, selbst Religionsübungen ich Antheil zu nehmen veranlaßt, ja genöthigt wurde. Mein früheres Verhältniß zur jungen Frau, eigentlich ein geschwisterliches, ward nach der Heirath fortgesetzt; meine Jahre sagten den ihrigen zu, ich war der einzige in dem ganzen Kreise, an dem sie noch einen Widerklang jener geistigen Töne vernahm, an die sie von Jugend auf gewöhnt war. Wir lebten in einem kindlichen Vertrauen zusammen fort, und ob sich gleich nichts Leidenschaftliches in unsern Umgang mischte, so war er doch peinigend genug, weil sie sich auch in ihre neue Umgebung nicht zu finden wußte und, obwohl mit Glücksgütern gesegnet, aus dem heiteren Thal Ehrenbreitstein und einer fröhlichen Jugend in ein düster gelegenes Handelshaus versetzt, sich schon als Mutter von einigen Stiefkindern benehmen sollte. In so viel neue Familienverhältnisse war ich ohne wirklichen Antheil, ohne Mitwirkung eingeklemmt. War man mit einander zufrieden, so schien sich das von selbst zu verstehn; aber die meisten Theilnehmer wendeten sich in verdrießlichen Fällen an mich, die ich durch eine lebhafte Theilnahme mehr zu verschlimmern als zu verbessern pflegte. Es dauerte nicht lange, so wurde mir dieser Zustand ganz unerträglich, aller Lebensverdruß, der aus solchen Halbverhältnissen hervorzugehn pflegt, schien doppelt und dreifach auf mir zu lasten, und es bedurfte eines neuen gewaltsamen Entschlusses, mich auch hiervon zu befreien.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0293 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0293.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 254 (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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