BuG: BuG I, A 288
Frankfurt 28./29. 5. 1774

An G. F. E. Schönborn 1. 6. 1774 (WA IV 2, 171)

Frankfurt 28./29. 5. 1774

In der Nacht vom 28 auf den 29 May, kam Feuer aus in unsrer Judengasse das schnell und grässlich überhand nahm, ich schleppte auch meinen Tropfen Wassers zu, und die wunderbaarsten, innigsten, manigfaltigsten Empfindungen haben mir meine Mühe auf der Stelle belohnt. Ich habe bey dieser Gelegenheit das gemeine Volck näher kennen gelernt, und binn aber und abermal vergewissert worden dass das doch die besten Menschen sind.

Dichtung und Wahrheit XVI (WA I 29, 19)

Frankfurt 28./29. 5. 1774

In der sehr eng in einander gebauten Judengasse war ein heftiger Brand entstanden. Mein allgemeines Wohlwollen, die daraus entspringende Lust zu thätiger Hülfe, trieb mich, gut angekleidet wie ich ging und stand, dahin. Man hatte von der Allerheiligengasse her durchgebrochen; an diesen Zugang verfügt’ ich mich. Ich fand daselbst eine große Anzahl Menschen mit Wassertragen beschäftigt, mit vollen Eimern sich hindrängend, mit leeren herwärts. Ich sah gar bald, daß wenn man eine Gasse bildete, wo man die Eimer herauf- und herabreichte, die Hülfe die doppelte sein würde. Ich ergriff zwei volle Eimer und blieb stehen, rief andere an mich heran, den Kommenden wurde die Last abgenommen und die Rückkehrenden reihten sich auf der andern Seite. Die Anstalt fand Beifall, mein Zureden und persönliche Theilnahme ward begünstigt und die Gasse, vom Eintritt bis zum brennenden Ziele, war bald vollendet und geschlossen. Kaum aber hatte die Heiterkeit, womit dieses geschehen, eine frohe, man kann sagen eine lustige Stimmung in dieser lebendigen zweckmäßig wirkenden Maschine aufgeregt, als der Muthwille sich schon hervorthat und der Schadenfreude Raum gab. Armselige Flüchtende, ihre jammervolle Habe auf dem Rücken schleppend, mußten, einmal in die bequeme Gasse gerathen, unausweichlich hindurch und blieben nicht unangefochten. Muthwillige Knaben-Jünglinge spritzten sie an und fügten Verachtung und Unart noch dem Elend hinzu. Gleich aber, durch mäßiges Zureden und rednerische Strafworte, mit Rücksicht wahrscheinlich auf meine reinlichen Kleider, die ich vernachlässigte, ward der Frevel eingestellt.

Neugierige meiner Freunde waren herangetreten den Unfall zu beschauen, und schienen verwundert, ihren Gesellen in Schuhen und seidenen Strümpfen – denn anders ging man damals nicht – in diesem feuchten Geschäfte zu sehen. Wenige konnt’ ich heranziehen, andere lachten und schüttelten die Köpfe. Wir hielten lange Stand, denn bei manchen Abtretenden verstanden sich auch manche dazu sich anzuschließen; viele Schaulustige folgten auf einander und so ward mein unschuldiges Wagniß allgemein bekannt, und die wunderliche Licenz mußte zur Stadtgeschichte des Tags werden.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0288 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0288.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 249 (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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