Goethes Briefe: GB 2, Nr. 123
An Gottlob Friedrich Ernst Schönborn

〈Frankfurt a. M. 〉, 1. Juni–4. Juli 〈1774. Mittwoch–Montag〉 → 〈Algier〉


Am 25 May erhielt ich Ihren Brief er machte uns allen eine längsterwartete Freude, ich schnitt mir gleich diese reine Feder um Ihnen einen Aequivalenten Bogen vollzupropfen, kann aber erst heut dℓ 1 Juni zum schreiben kommen. In der Nacht vom 28 auf den 29 May, kam Feuer aus in unsrer Judengasse das schnell und grässlich überhand nahm, ich schleppte auch meinen Tropfen Wassers zu, und die wunderbaarsten, innigsten, manigfaltigsten Empfindungen haben mir meine Mühe auf der Stelle belohnt. Ich habe bey dieser Gelegenheit das gemeine Volck wieder näher kennen gelernt, und binn aber und abermal vergewissert worden dass das doch die besten Menschen sind. Ich dancke Ihnen herzlich dass Sie so ins Einzelne ihrer Reise mit mir gegangen sind, dafür sollen Sie auch allerley hören aus unserm Reiche. Ich habe Klopstocken geschrieben und ihm zugleich was geschickt, brauchen wir Mittler um uns zu kommuniziren? Allerhand neues hab ich gemacht. Eine Geschichte des Titels: ​die Leiden des iungen ​Werthers , darinn ich einen iungen Menschen darstelle, der mit einer tiefen reinen Empfindung, und wahrer Penetration begabt, sich in schwärmende Träume verliert, sich durch Spekulation untergräbt, biss er zulezt durch dazutretende unglückliche Leidenschafften; besonders eine endlose ​ 1 Liebe zerrüttet, sich eine Kugel vor ​ 2 den Kopf schiesst. Dann hab ich ein Trauerspiel gearbeitet ​Clavigo , moderne Aneckdote dramatisirt mit möglichster Simplizität und Herzenswahrheit, mein Held ein unbestimmter halb gros halb kleiner Mensch, der Pendant zum ​Weislingen im Götz, vielmehr Weislingen selbst in der ganzen Rundheit einer Hauptperson; auch finden sich hier Scenen die ich im Götz um das Hauptinteresse nicht zu schwächen nur andeuten konnte. Auf Wielanden hab ich ein schändlich ding drucken lassen, unterm Titel: ​Götter Helden und ​Wieland, eine Farce. Ich turlupinire ihn auf eine garstige Weise über seine moderne Mattherzigkeit in darstellung iener Riesengestalten der marckigen Fabelwelt. Ich will suchen euch nach und nach das Zeug durch Gelegenheit ​ 3 nach Marseille zu spediren, übers Meer kann das Porto nicht viel tragen. Noch ​ 4 einige Plane zu grosen dramas hab ich erfunden, das heisst das interessante detail dazu in der Natur gefunden und in meinem Herzen. Mein ​Cäsar der euch nicht freuen wird scheint sich auch zu bilden. Mit Critick geb ich mich gar nicht ab. Kleinigkeiten schick ich an Claudius und boje, davon ich diesem Brief einige beyfügen will. Aus Frfurt bin ich nicht gekommen, doch hab ich so ein verworren Leben geführt, dass ich neuer Empfindungen und Ideen niemals gemangelt habe. Von der Ladung vergangener Leipz. Messe Morgen. Für heute Adieu. /


​am 8. Juni. Ich fahre fort. ​ Herder hat ein Werck drucken lassen: ​Aelteste Urkunde ​des Menschengeschlechts . Ich hielt meinen Brief inne um Ihnen auch ihr Theil übers Meer zu schicken noch aber binn ich's nicht im Stande, es ist ein so mystisch weitstrahlsinniges Ganze, eine in der Fülle verschlungner Geschöpfsäste ​ 5 lebend und rollende Welt, dass weder eine Zeichnung nach veriüngtem Maasstab, einigen Ausdruck der Riesengestalt nachäffen, oder eine treue Silhouette einzelner Teile, melodisch sympathetischen Klang in der Seele anschlagen ​ 6 kann. Er ist in die Tiefen seiner Empfindung hinabgestiegen, hat drinne all die hohe heilige Krafft der simpeln Natur aufgewühlt ​ 7 und führt sie nun in dämmerndem, wetterleuchtendem hier und da morgendfreundlich lächlendem, Orphischen ​ 8 Gesang von Aufgang herauf über die Weite Welt, nachdem er vorher die Lasterbrut der neuern Geister, de- und Atheisten, Philologen, Textverbesserer, Orientalisten, mit Feuer und Schwefel und Fluthsturm ausgetilget. Sonderlich wird Michalis von Skorpionen getödtet. Aber ich höre das Magister Volck schon rufen: er ist voll süsen Weins, und der Landpfleger wiegt sich auf seinem Stule und spricht: du rasest! Sonst hab ich nichts von der Messe kriegt das der Worte unter uns werth wäre. Klopstocks Republick ist angekommen. Mein Exemplar hab ich noch nicht. Ich subscribirte ausserhalb. Der Trödelkrämer Merkurius fährt fort seine philosophisch moralisch poetische Bijouteries , Etoffes , Dentelles pp nicht weniger Nürnberger Puppen und Zuckerwerck, an Weiber und Kinder zu verhandeln, wird alle Tage gegen seine Mitarbeiter schulmeisterlich impertinenter, putzt sie wie Buben in Noten und Nachreden pp. Nun auch ein vernünftig Wort aus dem Leben, meine Schwester ist schwanger 9 und grust euch, wie auch ihr Mann. Der dechant war einige Zeit kranck, ietzt sind wir in dem Garten fleisig, säen, binden, gäten, und essen, er will in der Apathie was vor sich bringen, ich aber der ich sehe es geht nicht, übe mich täglich in der Anakatastasis. Unter den übrigen die Sie haben kennen lernen hat sich nichts merckwürdiges zugetragen. Höpfner ist glücklich in seinem Ehstande. Lavater, der mich recht liebt, kommt in einigen Wochen her, wenn ich ihm nur einige Tropfen Selbstständigen Gefühls einflösen kann, soll mich s hoch freuen. Die beste Seele wird von dem Menschenschicksaal so innig gepeinigt, weil ein krancker Körper und ein schweiffender Geist ihm die kollecktive Krafft entzogen, und so der besten Freude, des Wohnens in sich selbst beraubt hat. Es ist unglaublich wie schwach er ist, und wie man ihm, der doch den schönsten schlichtesten Menschenverstand hat, den ich ie gefunden habe, wie man ihm gleich Rätsel und Mysterion spricht, wenn man aus dem in sich, und durch sich lebend und würckenden Herzen redet. /


am 10. Juni. Klopstocks herrliches Werck hat mir neues Leben in die Adern gegossen. Die Einzige Poetick aller Zeiten und Völcker. die einzige Regeln die möglich sind! das heisst Geschichte des Gefühls wie es sich nach und nach festiget und läutert und wie mit ihm Ausdruck und Sprache sich bildet; und die biedersten Aldermanns Wahrheiten, von dem was edel und knechtisch ist am dichter. Das alles aus dem tiefsten Herzen, eigenster Erfahrung mit einer bezaubernder ​ 10 Simplizität hingeschrieben! ​ 11 doch was sag ich das Ihnen der's schon muss gelesen haben. Der unter den Jünglingen den das Unglück unter die Rezensentenschaar geführt hat, und nun wenn er das Werck las nicht seine Federn wegwirft, alle Kritick und Kriteley verschwört, sich nicht grade zu wie ein ​ 12 Quietist zur Contemplation seiner selbst niedersezt, aus dem wird nichts. denn hier fliesen die heiligen Quellen bildender Empfindung lauter aus vom Trone der Natur.


​dℓ. 4 Juli. Lavater war fünf Tage bey mir und ich habe auch da wieder gelernt, dass man über niemand reden soll den man nicht persönlich gesehen hat; wie ganz anders wird doch alles. Er sagt so offt dass er schwach sey, und ich habe niemand gekannt der schönere Stärcken gehabt hätte als er. In seinem Elemente ist er unermüdet thätig, fertig, entschlossen, und eine Seele voll der herzlichsten Liebe und Unschuld. Ich habe ihn nie für einen Schwärmer gehalten und er hat noch weniger Einbildungskrafft als ich mir vorstellte. Aber weil seine Empfindungen ihm die wahrsten, so sehr verkannten Verhältnisse der Natur in seine Seele prägen, er nun also iede Terminologie wegschmeisst, aus vollem Herzen spricht und handelt und seine Zuhörer in eine fremde Welt zu versetzen scheint, indem er sie in die ihnen unbekannte Winckel ihres eignen Herzens führt; so kann er dem Vorwurf eines Phantasten nicht entgehen. Er ist im Emser Bade wohin ich ihn begleitet habe.

Mit Klopst. Gel. Rep. ist die ganze Welt unzufrieden, es versteht sie kein Mensch. Ich sah wohl voraus was für eine erbärmliche Figur das herrliche Buch in den Händen aller Welt machen würde.

Lav. Phisiognomick giebt ein weitläufiges Werck mit viel Kupfern. Es wird grosse Beyträge zur bildenden Kunst enthalten, u. Dem Historien und Portraitmahler unentbehrlich seyn.

Heinse den Sie aus der Ubersetzung ​ 13 des Petrons kennen werden, hat ein Ding herausgegeben des Titels: Laidion 14 oder die eleusinischen Geheimnisse. Es ist mit der blühendsten Schwärmerey der geilen Grazien geschrieben, und lässt Wieland und Jakobi weit hinter sich, obgleich der Ton und die Art des Vortrags, auch die Ideen Welt in denen sich's herumdreht mit den ihrigen coinzidirt. Hinten an sind Ottave angedruckt die alles übertreffen was ie mit Schmelzfarben gemahlt worden.

die letzte Seite will ich mit Reimen besetzen. Ich habe die Zeit her ver schiednes geschrieben, doch nichts ist völlig zu Stande. Schreiben Sie mir bald von Ihrem Leben. Meine Eltern, Schwester und Freunde grüsen. /


Auf Adler dich zur Sonne schwing Und Gxxx dieses Blätgen bring So Lust und Klang giebt frisches Blut Vielleicht ist ihm nicht wohl zu Muth. Ah schau sie guck sie komm herbey der Papst u. Kayser u. Clerisey Haben lange Mäntel u. lange Schwänz Paradiren mit Eichel u. Lorbeerkränz Trottiren u. stauben zu hellen Schaaren Staaren Drängt einer sich dem andern vor deutet einer dem andern ein Eselsohr. Da steht das liebe Publikum Und sieht erstaunend auf u. um Was all der tollen Reuterey Für Anfang Will u. Ende sey? Oho sa sa zum Teufel zu! O weh lass ab lass mich in Ruh! Herum herauf hinab hinein Das muss ein Schwarm Autoren seyn. O Herr man krümt u. krammt sich so Zabelt wie eine Laus hupft wie ein Floh Und fliegt einmal u. kriecht einmal Und endlich lässt man euch in Saal Sey's Cammerherr nun sey's Lakey Genug dass einer drinne sey. Nun weiter auf nun weiter an Wie's tummelt auf der Ehrenbahn! Ach sieh wie schöne pflanzt sich ein Das Völcklein dort im Schattenhain Ist wohl zurecht und wohl zu Muth Zäunt ieder sich sein kleines Gut Beschneidt die Nägel in Ruh u. Fried Und singt sein Klimpimpimper Lied Da kommt ein Flegel ihm auf den Leib Frisst seine Aepfel beschläft sein Weib Sich drauf die Bürgerschafft rottirt Gebrüllt gewetzt u. Krieg geführt Und Höll u Erd bewegt sich schon Da kommt euch ein Titanensohn Und packt den ganzen Hügel auf Mit Städt u. Wäldern u. allem Hauf Mit Schlachtfelds Lärm u. liebem Sang Es wanckt die Erd dem Volck wird bang Und trägt sie eben in einem Lauf Zum Schemmel den Olimp hinauf. Des wird Herr Jupiter ergrimmt Den ersten besten Strahl er nimmt Und schmeisst den Kerl die Kreuz u. Queer Hurrlurrli burrli in's Tahl daher
Und freut sich seines Siegs solang Biss Juno ihm macht wieder bang. So ist die Eitelkeit der Welt Ist keines Reich so fest gestellt Ist keine Erdenmacht so gros Fühlt ieder doch sein Endeloos. Drum treibs ein ieder wie er kann Ein kleiner Mann ist auch ein Mann Der hoch stolziert der kleine lacht So hats ein ieder wohlgemacht. * Ein Gleichniss. Da hatt ich einen Kerl zu Gast Er war mir eben nicht zur Last Ich hatt iust mein gewöhnlich Essen Hat sich der Mensch pump satt gefressen Zum Nachtisch was ich gespeichert hatt. Und kaum ist mir der Kerl so satt Thut ihn der Teufel zum Nachbaar führen Uber mein Essen zu raisonniren Die Supp hätt können gewürzter seyn Der Braten brauner firner der Wein. Der Tausend Sakerment Schlagt ihn Todt den Hund es ist ein Rezensent.

Auf Msll. N. N.

Ihr Herz ist gleich Dem Himmelreich Weil die geladenen Gäste Nicht kamen Ruft sie zum Feste Krüpel und Lahmen.


Leben sie wohl aber u. abermal u. behalten mich lieb. G.
  1. endlosa ​e ​ ↑
  2. f ​vor​ ↑
  3. e ​Gelegenheit​ ↑
  4. T ​Noch​ ↑
  5. Geschöpf× ​säste​ ↑
  6. ansch a ​lagen​ ↑
  7. aufge s ​wühlt​ ↑
  8. Ge ​Orphischen​ ↑
  9. S ​schwanger​ ↑
  10. bezaubernden ​r ​ ↑
  11. hingeschrieben, ​! ​ ↑
  12. die ​ein ​ ↑
  13. u ​Ubersetzung​ ↑
  14. Le ​aidion​ ↑
  15. × ​Hund​ ↑

Die fehlende Jahresangabe ergibt sich aus dem Inhalt des Briefes.

H: GSA Weimar, Sign.: 29/448,I. – Doppelblatt 18,6 × 23,4 cm, 4 S. beschr., egh., Tinte; sehr eng beschrieben (vgl. zu 96,14 ). – Teilfaksimile: Auktions-Katalog von C. G. Boerner, Auktion 87 am 19./20. Februar 1907, Lichtdrucktafel zu Nr 134 vor dem Titelblatt ( 99,13 linke Spalte–100,30 rechte Spalte Auf Adler 〈…〉 mich lieb. G.).

E​1: Schönborn und seine Zeitgenossen. Drei Briefe an ihn nebst einigen Zugaben aus seinem Nachlass und einer biographischen Skizze als Einleitung hrsg. von J〈ohann Georg〉 R〈ist〉. Hamburg 1836, S. 53–58 (ohne die Verse).

E​2: DjG​2 4 (1910), 26–32, Nr 235.

WA IV 2 (1887), 170–177, Nr 231 (nach E​1, ohne die Verse; Hinweis auf H und Textkorrekturen in den „Lesarten“, vgl. WA IV 2, 323 f.; Hinweis auf H und weitere Textkorrekturen in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 210).

Manuskripte von Gedichten (vgl. 99,13–100 ,34).

Der Brief beantwortet einen nicht überlieferten Brief Schönborns, der nach Nr 115 (vgl. 90,22 ) vom 16. April 1774 stammt (vgl. auch RA 1, 56, Nr 29 ); ein Zitat aus diesem Brief findet sich in Nr 113 ( 89,10–11 ). – Ein Antwortbrief ist nicht bekannt.

Gottlob Friedrich Ernst Schönborn (1737–1817), geboren als Sohn eines Diakons in Stolberg im südlichen Harz, studierte von 1758 bis 1761 in Halle Theologie. Da er keine Neigung zu einem geistlichen Beruf hatte, wurde er Hauslehrer in Trenthorst (südwestlich von Lübeck). Dort schloss er Freundschaft mit Matthias Claudius, mit dem er 1764 nach Kopenhagen ging, wo er vier Jahre später Hofmeister im Hause des dänischen Außenministers Johann Hartwig Ernst Graf von Bernstorff wurde. In Kopenhagen befreundete sich Schönborn mit Friedrich Gottlieb Klopstock, Heinrich Wilhelm Gerstenberg und den Brüdern Stolberg. Nach Bernstorffs Entlassung begleitete er diesen nach Hamburg. Als 1773 Bernstorffs Neffe Andreas Peter Graf von Bernstorff (in zweiter Ehe verheiratet mit Augusta Louise Gräfin zu Stolberg-Stolberg) dänischer Außenminister wurde, ernannte dieser Schönborn zum dänischen Konsulatssekretär in Algier. Dort war er von 1774 bis 1777 tätig. Danach wurde er Legationssekretär in London. 1802 trat er als Legationsrat in den Ruhestand und ließ sich in Hamburg nieder.

Goethe lernte Schönborn im Oktober 1773 kennen, als dieser auf seiner Reise nach Algier – von Göttingen kommend, wo er sich im Kreise Boies und der Dichter des Hainbundes (vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 93 sowie zu 91,11 ) aufgehalten hatte – in Frankfurt Station machte. Über die Begegnung mit Goethe, die vermutlich am 10. Oktober stattfand, berichtet Schönborn in einem Brief an Gerstenberg vom 12. Oktober 1773: Er habe in einem Frankfurter Gasthaus einen Gießener Professor der Rechte namens Höpfner getroffen und sei mit ihm über Goethe ins Gespräch gekommen: „Kurtz darauf kam Göde selbst u wir wurden gleich bekant u gleich Freunde.“ (H: FDH/FGM; vgl. auch BG 1, 239.) Schönborn schreibt weiter von einem Besuch in Goethes Elternhaus, der wahrscheinlich am Tag darauf stattfand: „〈…〉 jetzo arbeitet er an einem Drama Prometheus genannt, wovon er mir Zwey Acte vorgelesen hat, worin gantz vortrefliche aus der tiefsten Nathur gehobene Stellen sind 〈…〉. Er ist ein fürchterlicher Feind von Wieland und Consorten. Er laß mir ein paar Farcen die er auf ihn u Jacobi gemacht, wo beyde ihre volle Ladung von Lächerlichem bekommen.“ (Ebd.) Bei dem Zusammentreffen in Frankfurt vermittelte Schönborn Goethes Korrespondenz mit Gerstenberg und Klopstock (vgl. die einleitenden Erläuterungen zu Nr 58 und 113 ) sowie die Verbindung zu Matthias Claudius, dem Goethe auf sein „Ersuchen“ einige der elsässischen Balladen für den „Wandsbecker Bothen“ schickte (vgl. Claudius' Brief an Herder, nach Mitte Dezember 1773; H: GSA 44/50; vgl. auch Matthias Claudius: Briefe an Freunde. Hrsg. von Hans Jessen. Bd 1. Berlin 1938, S. 93 f.). Goethe seinerseits fand in Schönborn einen fürtrefflichen Mann 〈…〉. Wir treffen uns an mancherley Seiten, und das ist wohl das liebste was einem begegnen kann. ( 44,16–18 .)

Schönborn, der sich für Literatur und Philosophie interessierte, übersetzte Oden Pindars: Uebersetzung einer Ode des Pindar 〈neunte Pythische Ode〉. In: Ueber Merkwürdigkeiten der Litteratur. 〈Hrsg. von Heinrich Wilhelm Gerstenberg.〉 Der Fortsetzung erstes Stück. Hamburg und Bremen 1770, S. 137–152; Die Hälfte der ersten pythischen Ode auf den Wagensieg des Hierons, Königs von Sicilien. In: Der Deutsche, sonst Wandsbecker Bothe 1773, Nr 72 vom 5. Mai. In dieser von Matthias Claudius herausgegebenen Zeitschrift erschienen auch Schönborns Gedichte „Lied einer Bergnymphe, die den jungen Herkules sahe“ (Der Wandsbecker Bothe 1772, Nr 12 vom 21. Januar) und „Der Traum, ein Chor mit Flöten“ (ebd. 1773, Nr 90 vom 5. Juni). Das erstere veröffentlichte Boie im Göttinger „Musen Almanach“ 1773 (S. 67–69) noch einmal. Zum Almanach für 1775 trug Schönborn das Gedicht „Feldgesang von einer Freyheitsschlacht“ (S. 52–59) bei. Aus Algier schickte er einige politische Berichte, die ebenfalls von den Freunden publiziert wurden: Auszug aus einem Briefe eines reisenden Cavaliers, de Dato Algier den 28. Febr. 〈1774〉. In: Der Deutsche, sonst Wandsbecker Bothe 1774, Nr 54 vom 5. April (Schilderung der Ankunft „in diesem Sclavenlande“ nach sechstägiger Seereise); Schreiben aus Algier vom 22sten Jan. 1776. über die lezte spanische Expedition. In: Deutsches Museum. 〈Hrsg. von Heinrich Christian Boie.〉 6. Stück. Juni 1776, S. 520–535.

Die Korrespondenz zwischen Goethe und Schönborn scheint nicht umfangreich gewesen zu sein. Aus Nr 173 ( 151,2–4 ) geht hervor, dass Goethe Ende 1774 einen weiteren Brief Schönborns aus Algier erhalten hat. Er ist nicht überliefert, ebenso wenig Schönborns Brief an Goethe vom 28. Oktober 1775, der Goethe erst in Weimar erreichte. Dies bezeugt ein Brief von Johann Caspar und Catharina Elisabeth Goethe an Schönborn vom 24. Juli 1776, in dem von Goethes Übersiedlung nach Weimar berichtet und an Schönborns Besuch in Frankfurt erinnert wird, „da wir so vergnügt beysammen waren und Weintrauben assen.“ (Pfeiffer-Belli, 315.) Außer dem vorliegenden Brief Goethes an Schönborn ist nur noch ein Briefkonzept vom 3. Juni 1797 überliefert; darin heißt es, dass ihnen offenbar ihrer beider Geburtsstern die Lust zu correspondiren versagt habe, dass man aber von Zeit zu Zeit von Freunden und Bekannten voneinander höre (WA IV 18, 76, Nr 3560a).

Am 25 May] Nach Nr 113 erhielt Goethe Schönborns Brief am 27. Mai.

einen Aequivalenten Bogen] Aus Nr 115 geht hervor, dass der Bezugsbrief Schönborns eine umständliche Beschreibung seiner Reise und des was für mich merckwürdig seyn konnte ( 90,23–24 ), enthielt. Offenbar wollte sich Goethe mit einem ähnlich ausführlichen Brief bedanken.

kam Feuer aus in unsrer Judengasse] Über den Brand berichtet Goethe ausführlich im 16. Buch seiner Lebenserinnerungen (vgl. AA DuW 1, 559 f.). – ,Auskommen‘ (nur im Zusammenhang mit Feuer): entstehen (vgl. Adelung 1, 606). – „An der Außenseite der Wollgrabenmauer, an der Rückfront des Dominikanerklosters, war im Halbrund die ​Judengasse, das Frankfurter Ghetto, errichtet. Auf engstem Raume zusammengedrängt wohnte hier eine Menschenmenge, deren Kopfzahl die Hälfte der sämtlichen Bewohner Sachsenhausens ausmachte. 〈…〉 Um die Mitte des 18. Jahrhunderts standen zu beiden Seiten der Judengasse 204 Häuser 〈…〉. Die Judengasse selbst war auch auf ihrer östlichen Seite durch eine Mauer umschlossen; ihre beiden Ausgänge, nach Süden wie nach Norden zur Bornheimerpforte am Ende der Fahrgasse, wurden durch Tore versperrt, die bis 1796 nachts stets verschlossen gehalten wurden.“ (Harry Gerber: Die Stadt Frankfurt am Main und ihr Gebiet. In: Stadt Goethes, 27.) In der lutherischen Reichsstadt Frankfurt, deren Einwohnerzahl im 18. Jahrhundert sich auf etwa 38 000 belief, lebten etwa 2000 bis 3000 Juden; sie gehörten neben Reformierten und Katholiken zu den unterprivilegierten Minderheiten der Stadt (vgl. Heinrich Voelcker: Berufliche und soziale Gliederung der Einwohner. In: Stadt Goethes, 86 f.).

dass das doch die besten Menschen sind] Ähnliches äußerte Goethe im Brief an Charlotte von Stein vom 4. Dezember 1777 (vgl. WA IV 3, 191).

ins Einzelne Ihrer Reise] Vgl. zu 95,12 .

Ich habe Klopstocken geschrieben] Vgl. Goethes Brief an Klopstock vom 28. Mai ( Nr 113 ).

​die Leiden des iungen Werthers] Goethes Roman erschien zur Leipziger Herbstmesse Anfang Oktober 1774.

Penetration] Hier: „Scharfsinn, Verstandes-Schärfe“ (Schweizer 2, 602).

Spekulation] Hier etwa: grüblerisches Nachsinnen. – In der Philosophie der Versuch, rein gedanklich zu einer Erkenntnis von Dingen jenseits der Erfahrung zu gelangen.

​Clavigo] Goethes Trauerspiel erschien im Juli 1774.

moderne Aneckdote] Goethe hatte den Stoff des „Clavigo“ den „Mémoires“ von Beaumarchais entnommen (vgl. zu 114,27 ).

der Pendant] Franz.: passendes Gegenstück; das Genus schwankte im 18. Jahrhundert zwischen Maskulinum und Neutrum (vgl. Deutsches Fremdwörterbuch 2, 443).

​Götter Helden und ​Wieland] Goethes Satire war im März erschienen. Die Formulierung hab ich 〈…〉 drucken lassen ( 96,9 ) steht im Gegensatz zu Goethes Darstellung, die Farce sei gegen seinen Willen von Jakob Michael Reinhold Lenz veröffentlicht worden (vgl. zu 76,12 ; zu 91,3–4 ).

turlupinire] Franz. turlupiner: foppen, verspotten.

seine moderne Mattherzigkeit 〈…〉 Fabelwelt] Goethe stand Wielands empfindsamer Antike-Rezeption kritisch gegenüber; vgl. zu 90,5–6 . Mit den Riesengestalten der marckigen Fabelwelt sind die Götter und Helden der griechischen Mythologie gemeint.

nach Marseille] Von dort aus reiste Schönborn nach Algier: „Nach einer sechstägigen Seereise von Marseille, bin ich nun an dem andern Ufer der See, in diesem Sclavenlande 〈…〉.“ (Auszug aus einem Briefe eines reisenden Cavaliers, de Dato Algier den 28. Febr [weiter vgl. die einleitende Erläuterung].)

spediren] Versenden (ital. spedire: abfertigen, versenden).

Porto] Ital.: Fracht; im 18. Jahrhundert ist damit die Gebühr gemeint, die beim Empfang eines Briefes beglichen werden musste, im Unterschied zu ‚franco‘, der Gebühr, die bei der Absendung bezahlt wurde. – Offensichtlich um Porto zu sparen, hatte Goethe den vorliegenden Brief auffallend eng beschrieben (vgl. Überlieferung).

Plane zu grosen dramas] Es könnten außer „Caesar“ (nicht ausgeführt) noch „Mahomet“ (nicht ausgeführt) und „Faust“ in Frage kommen; unwahrscheinlicher, wenn auch nicht ganz auszuschließen ist eine Beschäftigung mit dem Plan zum „Egmont“ (vgl. EGW 3, 185).

Mein ​Cäsar] Außer einigen Bruchstücken (vgl. DjG​3 2, 87) ist von diesem Drama, mit dem sich Goethe schon vor dem „Götz von Berlichingen“ in Straßburg beschäftigt hatte, nichts überliefert. Es muss jedoch recht weit fortgeschritten gewesen sein, denn Heinrich Christian Boie wusste nach seinem Besuch Goethes Mitte Oktober 1774 in einem Brief an Heinrich Wilhelm von Gerstenberg zu berichten: „Goethe hat nach Shakespeare einen Julius Caesar zu machen gewagt. Es ist nichts weniger wie Nachahmung. Just immer die Gegenseite.“ (BG 1, 298 f.) Es ist anzunehmen, dass Boie damit meinte, Goethes „Caesar“ unterscheide sich von Shakespeares Tragödie, genauer vom zeitgenössischen Verständnis des Dramas und von der verbreiteten Sichtweise der historischen Person, dadurch, dass Caesar nicht als Tyrann verurteilt, sondern (wie Götz, Prometheus, Mahomet) als sakerments Kerl (Bruchstücke; DjG​3 2, 87), als Innbegriff aller menschlichen Größe dargestellt werden sollte; so charakterisierte ihn Goethe in seinem Beitrag zu Lavaters „Physiognomischen Fragmenten“ (DjG​3 5, 369). Caesars republikanische Mörder hingegen scheinen in Misskredit gebracht worden zu sein. Dazu passt, was Johann Jacob Bodmer in einem Brief an Johann Heinrich Schinz vom 15. Juni 1775 nach einem Besuch Goethes berichtet: „Er 〈Goethe〉 hat Brutus und Cassius für niederträchtig erklärt, weil sie den Caesar ex insidiis, von hinten, um das Leben gebracht haben.“ (Johannes Crueger: Bodmer über Goethe. 1773–82. [Aus dem ungedruckten Nachlass Bodmers auf der Zürcher Stadtbibliothek.], in: GJb V [1884], 192.) Goethe nimmt an, dass Schönborn, dem als Parteigänger des Göttinger Hains das Bedürfniß der Unabhängigkeit und Freyheitssinn (AA DuW 1, 441 und 442 [12. Buch]) zu eigen waren (vgl. auch zu 45,5–6 ), diese Deutung der Gestalt Caesars nicht gefallen haben würde.

Critick] Literaturkritik, Rezensionen.

Kleinigkeiten schick ich an Claudius und boje] Im Einzelnen nicht ermittelt; über das, was von Goethe im „Wandsbecker Bothen“, redigiert von Matthias Claudius, im Lauf des Jahres 1774 und im Göttinger „Musen Almanach“, herausgegeben von Heinrich Christian Boie, erschien, vgl. die Erläuterung zu 45,10 . Darüber hinaus hatte Goethe Boie das Gedicht „Auf Christianen R.“ (DjG​3 3, 72 f.) geschickt; es wurde nicht gedruckt und fand sich in Boies Nachlass (vgl. DjG​2 6, 283). Johann Heinrich Voß, der den Almanach vom folgenden Jahr an herausgab, unterdrückte es, weil es ihm zu freizügig schien; auch Boies Vorschlag, die letzte Strophe zu streichen, folgte er nicht. Damit gehört es zu den kleinen Sachen, von denen Goethe selbst gesagt hatte, sie seien zu ungezogen für den Almanach ( 91,5–6 ). Veröffentlicht wurde das Gedicht dennoch: ohne Titel 1776 im April-Heft des „Teutschen Merkur“ (S. 3 f.). Später erhielt es die Titel „An Christel“ und „Christel“ (vgl. WA I 1, 18 f.). Von den beiden Gedichten am Schluss des vorliegenden Briefs erschien „Ein Gleichniss“ sowohl im „Wandsbecker Bothen“ als im „Musenalmanach“ auf das Jahr 1775 (vgl. zu 45,10 ); das Gedicht „Auf Msll. N. N.“ blieb ungedruckt (vgl. WA I 5.2, 111).

einige beyfügen] Vgl. 99,13–100,34

Ladung] Gemeint ist: was die Messe an Neuheiten gebracht hat. Im Folgenden erwähnt Goethe mit Herders „Aeltester Urkunde“, Klopstocks „Gelehrtenrepublik“ und Heinses „Laidion“ dieselben drei Werke, die er auch in Nr 119 als einzige bemerkenswerte Neuerscheinungen bezeichnete.

vergangener Leipz. Messe] Die Leipziger Frühjahrsmesse, die am 3. Sonntag nach Ostern (Jubilate) eröffnet wurde (1774 am 24. April) und drei Wochen dauerte.

​Aelteste Urkunde des Menschengeschlechts] 〈Johann Gottfried Herder:〉 Aelteste Urkunde des Menschengeschlechts. Bd 1. Riga 1774.

ihr Theil] Gemeint ist die im Folgenden für unmöglich erklärte Zusammenfassung des ganzen Werks oder einzelner Teile.

sympathetischen] ‚Sympathetisch‘ hier: geistig-seelisch mitfühlend (‚Sympathie‘ im 18. Jahrhundert noch im Sinne von griech. συμπάθεια: Mit-Empfindung, Wechselwirkung mit jemandem).

Orphischen Gesang] Die so genannten „Orphischen Hymnen“ umfassen 88 Kult-Gedichte kosmogonischen Inhalts, die dem mythischen griechischen Sänger Orpheus zugeschrieben wurden. Goethe hatte sie durch Herder in Straßburg kennen gelernt.

de- und Atheisten] Deisten (lat. deus: Gott) vertreten die aufklärerische Auffassung, es gebe zwar einen Gott, dieser aber greife nach dem Schöpfungsakt selbst nicht weiter in die Welt ein, weder durch Wunder noch durch Offenbarung. Nach ihrer Überzeugung gibt es eine ‚natürliche‘, allen Menschen gemeinsame Religion, die Grundlage aller positiven Religionen ist (vgl. die Ringparabel in Lessings „Nathan der Weise“ [1779]). Religiöse Kenntnis entspringt der Vernunft, nicht einer Offenbarung. Zu Beginn seiner Schrift wendet sich Herder vor allem gegen die Physikotheologen (Thomas Burnet, William Whiston, Johann Esaias Silberschlag, Theodor Christoph Lilienthal, Bernhard Nieuwentyts, Johann Jakob Scheuchzer u. a.), die, auf der ‚natürlichen Theologie‘ aufbauend, in der Natur die Manifestation göttlichen Wirkens zu entdecken suchten (vgl. Suphan 6, 197–212). Atheisten (griech. ἄθεος: ohne Gott) leugnen entweder grundsätzlich die Existenz eines Gottes (radikaler Atheismus) oder zumindest die Möglichkeit, ihn in irgendeiner Weise zu erkennen (agnostischer Atheismus).

Philologen, Textverbesserer] Hier dürften die textkritischen Bibelphilologen gemeint sein. Die rationalistische ‚Bibelkritik‘, zu deren Hauptvertretern Johann Salomo Semler und Johann David Michaelis gehörten, bestand in einer Beschäftigung mit den biblischen Texten, die sich – im Sinne der Aufklärung – bloß wissenschaftlichen, nicht aber theologischen Voraussetzungen verpflichet fühlte.

Feuer und Schwefel] Im Anklang an die Sprache der Bibel (vgl. 1 Mose 19,24 und viele andere Stellen bis zur Offenbarung des Johannes 21,8).

Fluthsturm] Ebenfalls biblisch (vgl. u. a. die Erzählung von der Sintflut 1 Mose 6–8).

Michalis von Skorpionen getödtet] Gemeint ist der Göttinger Theologe und Orientalist Johann David Michaelis, einer der Hauptvertreter der Bibelkritik, welche sich die Prüfung des biblischen Textes nach Maßgabe rationaler Wissenschaft zur Aufgabe gemacht hatte. Herder setzte dessen als unhistorisch kritisierter Bibelexegese eine Deutung des Alten Testaments entgegen, die auf dem unmittelbaren Erlebnis des Autors beruht und die Bibel als poetisches Zeugnis der Offenbarung Gottes und als historischen Bericht von den Anfängen der Menschheit betrachtet.

Magister] Lat.: Meister, Lehrer; unterster akademischer Grad.

voll süsen Weins] In Anlehnung das Neue Testament: Als am Pfingsttag die Apostel vom Heiligen Geist erfüllt waren, begannen sie, in fremden Sprachen zu predigen. Die Leute glaubten, sie seien vom süßen Wein betrunken (vgl. Apostelgeschichte 2,13).

Landpfleger] Von Luther geprägter Begriff für ‚Statthalter‘ (einer Provinz), im Neuen Testament für die römischen Statthalter (vgl. z. B. Matthäus 27,2 für Pontius Pilatus) (vgl. Grimm 6, 126).

du rasest!] Dies sagte der römische Statthalter Festus zum Apostel Paulus, als dieser sich gegen den Vorwurf verteidigte, er habe sich gegen das jüdische Gesetz und den römischen Kaiser vergangen (vgl. Apostelgeschichte 26,24).

Klopstocks Republick] Die deutsche Gelehrtenrepublik. Ihre Einrichtung. Ihre Geseze. Geschichte des lezten Landtags. Auf Befehl der Aldermänner durch Salogast und Wlemar. Herausgegeben von Klopstock. T. 1. Hamburg 1774.

subscribirte ausserhalb] Klopstocks Werk erschien auf Subskription; vgl. Goethes Bericht im 12. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ (AA DuW 1, 429 f.). In der dem Buch am Schluss beigegebenen Subskribentenliste (mit eigener Paginierung) erscheint „Dr. Göthe“ jedoch unter Frankfurt am Main (S. 24).

Trödelkrämer Merkurius] Anspielung auf Wielands „Teutschen Merkur“, von dem gerade der 6. Band (April–Juni 1774) erschienen war.

Bijouteries] „Schmuck(waren)“ (GWb 2, 653), „Galanterie-Waaren, kleine Putzwaaren von Gold und Silber und Edelsteinen“ (Schweizer 1, 104).

Etoffes] Franz.: Stoffe.

Dentelles] Franz.: Spitzen.

Nürnberger Puppen] Nürnbergs Spielwarenfabrikation, darunter die Herstellung von Puppen aus Holz und Stoff (‚Docken‘), hat eine lange Tradition, die bis ins Mittelalter zurückreicht.

verhandeln] Hier: „Eigenthum durch Handel und Wandel an einen andern übertragen“, „verkaufen“ (Adelung 4, 1057).

putzt] Putzen: „schelten, zurechtweisen“ (Grimm 7, 2283).

Noten] Anmerkungen (von lat. nota: Zeichen, Kennzeichen).

meine Schwester ist schwanger] Cornelia Schlosser brachte am 28. Oktober 1774 ihre Tochter Louise zur Welt.

ihr Mann] Johann Georg Schlosser.

dechant] Damian Friedrich Dumeiz (über ihn vgl. die erste Erläuterung zu 71,20 ); von dessen Garten ist auch in Nr 126 die Rede.

Anakatastasis] Griechische Wortbildung Goethes, etwa im Sinne von ‚Selbstüberwindung‘ (griech. ἀνά: u. a. auf, an, hin, hinauf; κατά: u. a. von oben herab; στάσις: u. a. Stehen, Stand, Aufstand, Streit).

haben kennen lernen] Bei Schönborns Besuch in Frankfurt Mitte Oktober 1773.

merckwürdiges] ‚Merkwürdig‘ im 18. Jahrhundert meist im Wortsinn: „würdig, oder werth, gemerket, d. i. im Gedächtnisse behalten zu werden“ (Adelung 3, 183).

Höpfner 〈…〉 Ehstande.] Ludwig Julius Friedrich Höpfner hatte am 18. Oktober 1773 Anna Maria Thom geheiratet. Schönborn berichtet über seine Begegnung mit Höpfner in Frankfurt in seinem Brief an Gerstenberg vom 12. Oktober 1773 (vgl. BG 1, 238 f.).

Lavater 〈…〉 kommt] Am 23. Juni; vgl. Lavaters Tagebuch (Goethe-Lavater​3, 281).

Die beste Seele 〈…〉 Herzen redet.] Vgl. dagegen Goethes Einschätzung nach der persönlichen Begegnung mit Lavater im Briefteil vom 4. Juli.

Mysterion] Griechische Form (μυστήριον) von ‚Mysterium‘.

herrliches Werck] „Die deutsche Gelehrtenrepublik“ (vgl. zu 97,9 ). – Klopstock entwirft in seinem Werk einen utopischen Gelehrtenstaat in Deutschland mit eigenen Gesetzen und eigenem Parlament. Er ist aristokratisch verfasst und gliedert sich nach einer Art intellektueller Hierarchie in das Volk, die Zünfte und schließlich die Aldermänner als geistiger Elite. Der Dichtkunst, die zu den Wissenschaften zählt, wird aufgetragen, sich von der Nachahmung ausländischer Vorbilder, von philosophischen Systemen und poetischen Schulen, von polemischer Kritik und Besserwisserei zu befreien. Ihre Regeln soll sie unmittelbar der menschlichen Natur entnehmen. Ihre Aufgaben sollen Rührung und Erhebung des menschlichen Herzens, ihre Voraussetzungen Einbildungskraft, Originalität und sprachliche Prägnanz sein.

biedersten Aldermanns] Der Begriff „Aldermänner“ findet sich im Untertitel von Klopstocks Werk (vgl. zu 97,9 ); er bezeichnet im Angelsächsischen einen ‚Ältesten‘, Vorsteher oder Ratsherrn (engl. alderman). ‚Bieder‘ hier in der im 18. Jahrhundert gebräuchlichen Bedeutung: brauchbar, nützlich; tüchtig, wacker.

unter den Jünglingen] Im 12. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ erinnert sich Goethe an die verständnislose Aufnahme der „Gelehrtenrepublik“ in der jungen Generation: Die junge schöne Welt 〈…〉 verschenkte 〈…〉 scherzend die theuer erworbenen Exemplare. (AA DuW 1, 429.) Zur Rezeption von Klopstocks Werk vgl. auch den Briefteil vom 4. Juli.

verschwört] Verschwören: unter Eid geloben, etwas zu unterlassen (vgl. Adelung 4, 1132).

Quietist] Anhänger einer weltabgewandten Lebenshaltung (von lat. quies: Ruhe), der sich in völliger Gemütsruhe widerstandslos dem Willen Gottes fügt (Franz von Sales: „ni désirer, ni refuser“ [franz.: weder begehren noch zurückweisen]).

Contemplation] Lat. contemplatio: Betrachtung.

Lavater war fünf Tage bey mir] Lavater hatte sich vom 23. bis zum 28. Juni 1774 in Frankfurt aufgehalten.

dass man über niemand reden soll] Goethe bezieht sich auf sein Urteil im Briefteil vom 8. Juni (vgl. 97,22–31 ).

wohin ich ihn begleitet habe] Goethe war mit Lavater am 28. Juni nach Ems gereist und am 30. Juni zurückgekehrt (vgl. Lavaters Tagebuch; BG 1, 263–266 und Goethe-Lavater​3, 291–294).

es versteht sie kein Mensch] Im 12. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ äußert sich Goethe später ähnlich über die Reaktion des Publikums auf Klopstocks „Deutsche Gelehrtenrepublik“: Für Schriftsteller und Literatoren war und ist das Buch unschätzbar 〈…〉; aber der Liebhaber, der Leser ward nicht aufgeklärt, ihm blieb das Buch versiegelt 〈…〉. (AA DuW 1, 429.)

Lav. Phisiognomick] Lavaters „Physiognomische Fragmente“; deren 1. Band erschien 1775 (vgl. über das Werk die einleitende Erläuterung zu Nr 178 ).

Ubersetzung des Petrons] Heinses „Begebenheiten des Enkolp“ (2 Bde. Rom [recte: Schwabach] 1773) ist eine Übersetzung des „Satiricon“ von Titus Petronius Arbiter.

Laidion] 〈Wilhelm Heinse:〉 Laidion oder die Eleusinischen Geheimnisse. T. 1. Lemgo 1774 (vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 118 ) .

Es ist 〈…〉 der geilen Grazien geschrieben] Die Grazien, drei Töchter des Zeus, Aglaia (Glanz), Euphrosyne (Frohsinn) und Thaleia (Blüte), Göttinnen der Anmut, brachten den Menschen Anmut, Schönheit und Festesfreude. – ‚Geil‘ hier in der allgemeineren Bedeutung: „Muthwillig, üppig, ausgelassen, übermüthig“ (Adelung 2, 508). – Vgl. Goethes ebenfalls positives Urteil über den Roman in Nr 118 .

Wieland und Jakobi] Gemeint ist Wielands und Johann Georg Jacobis um Dezenz bemühte antikisierende Dichtung, die im Gegensatz zu Heinses kräftiger Sinnlichkeit und Erotik stand. – Was Wieland angeht, so legte er selbst auf diesen Unterschied Wert; in seinem Brief an Gleim vom 22. Dezember 1773 schreibt er über Heinses „Laidion“: „Wenn Heinse, um solche Unflätereyen zu rechtfertigen sich auf meine komischen Erzählungen beruft, so muß er gar kein Discernement haben; und so ist es auch. 〈…〉 Ich kan Ihnen nicht ausdrücken, wie sehr mir ekelt, diesen Satyr, (der sich bekehrt zu haben rühmt, da er statt Ganymede anzufallen, nun die Grazien nothzüchtiget) von Grazien reden zu hören, ihn, der nicht weiß, daß die Keuschheit eine Grazie ist. 〈…〉 Lehren Sie ihn die moralische Schönheits Linie kennen; lehren Sie ihn, daß die Mysterien der Natur und Liebe nicht aufgedekt werden müssen, und daß man die Grazien nicht stupriren muß, um ihnen ein Opfer zu bringen. 〈…〉 Ein Autor, der wie ein ​Bavian, seine einzige Freude darin findt, obscöne Posturen und Grimassen gegen seine Leser zu machen, ist kein Mensch, mit dem ehrliche Leute sich in Societät einlassen können.“ (WB 5, 211 f. und 213.) – Vgl. auch 115,16–19.

coinzidirt] Koinzidieren: zusammentreffen, sich decken.

Ottave] Heinses Roman sind im Anhang Stanzen beigefügt; diese achtzeilige Strophenform wird auch mit den italienischen Begriffen Ottava oder Ottaverime bezeichnet. Vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 118 .

die letzte Seite] Die Gedichte stehen zweispaltig geschrieben auf der 4. Seite des Doppelblatts.

Auf Adler 〈…〉 ieder wohlgemacht.] Bei den Versen handelt es sich um den „Prolog“ zu Goethes Sammlung „Neueröfnetes moralisch-politisches Puppenspiel“ (Leipzig und Frankfurt 1774, S. 3–6; vgl. DjG​3 4, 31–33), die zur Herbstmesse erschien.

Adler] Möglicherweise dachte Goethe daran, dem Buch eine Vignette mit einem Adler beizugeben.

Gxxx] Vielleicht Gottlob, Schönborns Vorname; im Druck heißt es: Dem Publiko (DjG​3 4, 31).

Juno] Jupiters Frau, berüchtigt für ihre Zornesausbrüche gegenüber ihrem Mann.

Ah schau sie guck sie 〈…〉 Clerisey] Nachahmung des gebrochenen Deutsch der oft aus Italien stammenden Schausteller. – Eine fast gleichlautende Formulierung verwendet Goethe im Brief an Johann Conrad Engelbach vom 30. September 1770 (vgl. GB 1 I, 203,10–11 ).

Clerisey] Wie ‚Klerus‘: Geistlichkeit.

Trottiren] Nach franz. trotter und ital. trottare: „traben, eilen“ (Grimm 11 I 2, 1082).

Gezwazzer] Wortbildung Goethes für ‚Gerede‘ (vgl. GWb 4, 218).

deutet 〈…〉 Eselsohr] Zum Spott mit den offenen Handflächen an den Ohren Eselsohren nachahmen.

Ein Gleichniss.] Vgl. zu 96,18–19 .

krammt] Krammen: „mit eingebogenen und eingeschlagenen Krallen zufahren“ (Goethe-Wortschatz, 386); vgl. „Reineke Fuchs“ (11. Gesang, Vers 294; WA I 50, 164).

Zabelt] Zabeln: zappeln, krabbeln (vgl. Grimm 15, 6).

raisonniren] Franz. raisonner: Einwendungen machen.

tummelt] Tummeln: „Lärm, Getümmel verursachen“ oder „eilen“ (Adelung 4, 721).

firner] Firn (im Oberdeutschen): „vorjährig“; firner Wein: „alter Wein“ (Adelung 2, 165).

Auf Msll. N. N.] Vgl. zu 96,18–19 . Die Adressatin der Verse konnte nicht ermittelt werden.

rottirt] „Sich zusammen rottieren“: „sich in schädlicher Absicht versammeln“ (Adelung 3, 1182).

gewetzt] Wetzen (besonders in der Studentensprache): „mit dem degen auf dem steinpflaster hin und herfahren, als wenn man ihn schärfen wollte, eine 〈…〉 gebräuchliche herausforderung“ (Grimm 14 I 2, 796).

Ruft sie 〈…〉 Lahmen.] In Lukas 14,16–21 wird das Gleichnis vom Festmahl erzählt: Ein Mann wollte ein Festmahl veranstalten. Aber von den geladenen Gästen sagte einer nach dem anderen ab. Da wurde der Mann zornig und befahl seinem Diener, er solle von der Straße die Armen und Krüppel, die Blinden und Lahmen herbeiholen.

Zum Schemmel] Als (Fuß-)Schemel.

Strahl] Blitzstrahl; Jupiter (griech. Zeus) thront auf dem Olymp und sendet von dort Wind und Wetter, vor allem aber Blitz und Donner.

Hurrlurrli burrli] Hier wohl im Sinn des Ausdrucks „hurlyburly“ in Shakespeares „Macbeth“ (I 3), ebenso lautmalerisch wie seine deutsche Entsprechung: ‚Wirrwarr‘. Weiter vgl. die zweite Erläuterung zu 53,15 .

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 123 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR123_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 95–100, Nr 123 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 263–273, Nr 123 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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