Goethes Briefe: GB 2, Nr. 122
An Sophie La Roche

〈Frankfurt a. M. , Anfang Juli? 1774〉 → 〈Frankfurt a. M.〉

〈Abschrift〉


Wenn Sie wüßten was in mir vorgegangen ist eh ich das haus mied, Sie würden mich nicht rückzulocken denken Liebe Mam〈a〉 Ich hab in denen schröcklichen Augenblicken für alle Zukunft gelitten, ich bin ruhig, und die Ruhe laßt mir, daß ich sie nicht drinnen Sehn würde was die Leute sagen würden pp das hab ich alles überstanden. Und Gott bewahr ihn vor dem einzigen Fall in dem ich die Schwelle betreten würde. – Hier liebe Mama sind Abdrücke nach meinen Zeignungen. Morgen also hohlt meine Mutter Sie und die kleinen. Es wird sie nicht gereuen      G.

Der Brief wurde innerhalb Frankfurts befördert, als sich Sophie La Roche in der Stadt aufhielt (vgl. 95,8 ). Er stammt zudem aus einer Zeit, in der das Verhältnis Goethes zum Hause Brentano bereits nachhaltig gestört war (vgl. Nr 117 und 119 ). Als Entstehungszeitraum kommt daher Sophie La Roches Frankfurter Sommeraufenthalt 1774 in Frage. Dessen Dauer geht aus einem Brief Friedrich Heinrich Jacobis an Sophie La Roche vom 10. August 1774 hervor; darin ist „von drei Wochen“ die Rede (JB I 1, 242). Die genaue Datierung des Aufenthalts aber ist nur zu erschließen: 1) Der Brief kann nicht vor dem 30. Juni geschrieben worden sein, weil Goethe am 28. Juni Lavater, den Sophie La Roche zu Goethes Bedauern nicht mehr in Frankfurt antraf (vgl. Nr 119 ), nach Ems begleitete, von wo er am 30. Juni wieder zurückkehrte (vgl. Goethe-Lavater​3, 295). – 2) Nach ihrem Besuch in Frankfurt hielt sich Sophie La Roche im Juli zu einem Besuch der Familie vom Stein in Nassau auf (vgl. zu 92,13–14 ). In seinem vom 19. Juli datierten Brief an Sophie La Roche ( Nr 129 ) spricht Goethe eine Empfehlung für Henriette Caroline vom und zum Stein aus und lädt Sophie La Roche für den 24. Juli nach Neuwied ein; dieser Brief ist nach Ehrenbreitstein adressiert, wohin Sophie von La Roche nach Goethes Annahme inzwischen zurückgekehrt war. Das heißt, Sophie La Roches Besuch in Nassau hat in der Zeit vor dem 24. Juli stattgefunden. – 3) Durch den vorliegenden Brief wird ebenso wie durch Nr 126 und 127 , die alle innerhalb Frankfurts befördert wurden, Sophie La Roches Anwesenheit in Frankfurt vor dem 15. Juli bezeugt. An diesem Tag brach Goethe erneut nach Ems auf, um mit Lavater die Lahn- und Rheinreise anzutreten. – Demnach ist anzunehmen, dass Sophie La Roches dreiwöchiger Sommeraufenthalt in Frankfurt in die Zeit von Ende Juni bis einige Tage vor dem 24. Juli 1774 fiel. Der Inhalt des vorliegenden Briefes spricht für eine Datierung auf Anfang Juli. Sophie La Roche scheint einen Besuch Goethes im Hause Brentano vorgeschlagen oder gewünscht zu haben, vermutlich um dort mit ihm zusammenzutreffen. Einen solchen Besuch aber lehnte Goethe ab, wie er es bereits in Nr 117 getan hatte. Dieser Zusammenhang deutet auf den Beginn von Sophie La Roches Aufenthalt in Frankfurt hin, auf die ersten Tage nach Goethes Rückkunft aus Ems.

H: Verbleib unbekannt.

h​1: The Pierpont Morgan Library, New York, Misc. Heineman, H Goethe-Bettina, MSS 1. – Abschrift von Bettine Brentano vom 2. oder 3. Juni 1806 (= h​a; vgl. Vorbemerkung in der Überlieferung zu Nr 47 ).

h​2: The Pierpont Morgan Library, New York, Misc. Heineman, H Goethe-Bettina, MSS 1. – Abschrift von Bettine Brentano (= h​b; vgl. Vorbemerkung in der Überlieferung zu Nr 47 ).

h​3: FDH/FGM Frankfurt a. M., Sign.: 10721–10732. – Abschrift von Johann Friedrich (Fritz) Schlosser (= h​c; vgl. Vorbemerkung in der Überlieferung zu Nr 47 ).

h​4: GSA Weimar, Sign.: 29/294,III. – Abschrift von fremder Hd (= h​d; vgl. Vorbemerkung in der Überlieferung zu Nr 47 ).

E: Frese (1877), 146, Nr 10 (nach h​3).

WA IV 2 (1887), 140 f., Nr 201 (nach Goethe-La Roche, 28 [dort vermutlich nach einer nicht überlieferten Abschrift von h​3]).

Textgrundlage: h​1. – Vgl. Vorbemerkung in der Überlieferung zu Nr 47 .

wüßten] wüsten ​h​2 haus] Haus ​h​2 Liebe Mam〈a〉 Ich] liebe Mama, ich ​h​2 mir, daß] mir. —— Daß ​h​2 sie] Sie ​h​2       Sehn] sehn ​h​2 würde] würde, ​h​2 pp] pp: ​h​2 überstanden] uberstanden ​h​2 betreten würde. –] betretten würde. – ​Absatz h​2 hohlt] holt ​h​2 sie] Sie ​h​2 G.] G: ​h​2

Abdrücke nach Zeichnungen Goethes; vgl. zu 95,7 .

Der Brief beantwortet eine nicht überlieferte schriftliche oder eine durch einen Boten mündlich vorgetragene Anfrage Sophie La Roches (vgl. Datierung). – Ein Antwortbrief ist nicht bekannt.

das haus] Gemeint ist das Haus Peter Anton Brentanos, des Schwiegersohnes von Sophie La Roche.

schröcklichen Augenblicken] Wahrscheinlich eine Anspielung auf Eifersuchtsszenen, die sich im Hause Brentanos abgespielt haben könnten. – Goethe hatte im Februar 1772 Maximiliane, die Tochter der Adressatin in Frankfurt kennen gelernt, dann im September 1772 bei seinem ersten Besuch in Ehrenbreitstein wieder gesehen und fühlte sich zu ihr hingezogen. Auch nach ihrer Vermählung mit Brentano und dem Umzug nach Frankfurt im Januar 1774 hegte Goethe weiterhin eine Neigung zu ihr (vgl. 77,26–28 ). Im 13. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ erinnert er sich: Wir lebten in einem kindlichen Vertrauen zusammen fort, und ob sich gleich nichts Leidenschaftliches in unsern Umgang mischte, so war er doch peinigend genug, weil sie sich auch in ihre neue Umgebung nicht zu finden wußte und, obwohl mit Glücksgütern gesegnet, aus dem heiteren Thal Ehrenbreitstein und einer fröhlichen Jugend in ein düster gelegenes Handelshaus versetzt, sich schon als Mutter von einigen Stiefkindern benehmen sollte. (AA DuW 1, 483.) Sophie La Roche habe sich in Klagen ergangen, ihre Tochter sey unglücklich (ebd.). Bestätigt wird dies durch ihren Brief an Goethe vom 17. Oktober 1774 (abgedruckt im Anschluss an die Erläuterungen zu Nr 154 ) sowie durch ihre Briefe an Bernhard Crespel; im Brief vom 8. Januar 1776 heißt es: „〈…〉 meine Seele segnet sie für daß was Sie edelmüthig mitleidend für meine gute, gute arme Max thun. Lassen Sie sich 〈…〉 mit der innigen Bitte bewegen, noch länger edle ​wohlthätige gedult mit Brentano's Fehlern ​und feine gütige Empfindsamkeit mit Ihrer Schwester Max unverdientem Schicksal zu haben.“ (Wilhelm Hertz: Bernhard Crespel. Goethes Jugendfreund. Nach ungedruckten Briefen und Urkunden aus dem Frankfurter Goethekreise. München und Leipzig 1914, S. 144.) – Die Rolle Goethes als eines „ami de la maison“ (Johann Heinrich Merck an seine Frau Louise, 29. Januar 1774; Merck, Briefwechsel 1, 444), den mit der Hausfrau nach eigenem Bekunden ein lediglich geschwisterliches Verhältnis verband (AA DuW 1, 483 [13. Buch]), löste bei Brentano Eifersucht und Ablehnung aus.

daß ich 〈…〉 überstanden] Hier beginnt ein neuer Satzzusammenhang.

ihn] Brentano.

dem einzigen Fall] An welchen Fall Goethe dachte, lässt sich nur vermuten, vielleicht einen Fall, in dem er sich veranlasst sehen könnte, für Maximiliane in irgendeiner Weise persönlich gegen Brentano vorzugehen.

Abdrücke] Vielleicht sind Radierungen gemeint; vgl. Corpus VII, 28 zu Nr 77.

Zeignungen] Zeichnungen.

die kleinen] Vermutlich wurde Sophie La Roche von ihren Söhnen Karl und Franz begleitet.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 122 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR122_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 95, Nr 122 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 260–263, Nr 122 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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