Goethes Briefe: GB 2, Nr. 120
An Charlotte Kestner

〈Frankfurt a. M. 〉, 16. Juni 1774. Donnerstag → Hannover


Ich komme von Meyers liebe Lotte, habe mit Ihnen zu Nacht gessen, und gestern auch, heute den Tag über waren sie zu Darmstadt. Es sind recht gute Menschen, ich schwöre sie lieben mich denn ich liebe sie auch. Wir waren so offen in der ersten viertelstunde. O Lotte was ich ein Kind bin! Wie mich's gleichsam überraschte da mir die Meyern sagte: dass du noch an mich denckst. Sagen mir das nicht Kestners Briefe, sagt mir s nicht mein Herz, und doch war ​ 1 mir s so ganz neu, da mir das liebe Weibgen, mit der wahren Stimme des Anteils sagte: dass du noch an mich denckst. O sie fühlte was sie mir sagte, sie ist eine liebe Frau. Schon gestern Nacht wollt ich dir schreiben, aber es war nicht möglich, ich ging in meiner Stube auf und ab, und redete mit deinem Schatten, und selbst ietzt fällt mir's sch〈w〉eer das dahin zu krizzen! – Soll ich denn niemals wieder, niemals wieder deine Hand halten Lotte ​ 2 ? Ich habe der Meyern viel erzählt von dir, sie war mit mir im Wald und versprach mir, dich auf der Ellrie von mir zu unterhalten. Ja Lotte ich hab lang so keine Freude gehabt — Ihr Mann ist iust einer der Menschen wie ich sie haben muss, die Erfahrung des Lebens, die schönen Kenntnisse und Wissenschafften ohne Pedanterey und die gute offne Seele. Wir haben uns recht gut gefunden. Und so mit gute Nacht. Morgen früh gehn sie und ich will ihnen noch was schicken. Adieu! Adieu! /


Und mein Pathgen ist wohl, und Mamagen wills auch bald wieder werden; ich schwöre dir Lotte das ist für meinen sinnlichen Kopf eine ​ 3 Marter ​ 4 , dich als Mamagen zu dencken und einen Buben der ​dein ist und der einen seiner Namen durch meinen Willen trägt. Ich komme damit nicht zurecht, ich kann mir's nicht vorstellen, und bleibe also dabey: Lotte liebe Lotte, es soll alles seyn wie's war, und ist so, und die Meyern sagt du habest dich auch nicht verändert. Und so grüse und Küsse Papa Kestnern, und er soll mir hübsch schreiben, und du sollst mir auch hübsch schreiben, wenns Mamagen nicht beschweerlich fällt. Hier ist von 〈der〉 Meyern ein Brief an ​ 5 ihre Schweste〈r de〉nck ich. Hans schickte mir einen an sie den ich richtig bestellt habe. Ich hoffe sie wird aus dem Bade wieder durch gehen und da geb ich ihr eine Hand und Grus für dich mit. Adieu liebe Lotte, ich schick euch ehstens einen Freund der viel änlichs mit mir hat, und hoffe ihr sollt ihn gut aufnehmen, er heisst Werther, und ist und war — das mag er euch selbst erklären.


Goethe.

  1. wie ​ar​ ↑
  2. l ​Lotte​ ↑
  3. einer ​ ↑
  4. Mard ​ter​ ↑
  5. × ​an​ ↑

H: GSA Weimar, Sign.: 29/263,I, Bl. 10–11. – Doppelblatt 19 × 23 cm, 2 S. beschr., egh., Tinte; nach Adieu ( 94,4 ) Komma ergänzt von fremder Hd, Tinte; S. 1 oben rechts von fremder Hd, Bleistift: „1774. Jun. 16.“; S. 4 Adresse: An Frau / ArchivSekretarius Kestner / nach / Hannover; rotes Initialsiegel: „G“; Bl. 1 im Mittelteil Fehlstelle im Papier durch Öffnen des Siegels, Verlust einzelner Buchstaben (vgl. 93,12 ; 94,1 ); Bl. 2 Siegelausriss am rechten Rand. – Beischluss: Brief von Frau Meyer (vgl. 94,1 ); nicht überliefert.

E: Goethe und Werther​1 (1854), 209–211, Nr 100.

WA IV 2 (1887), 166–168, Nr 227 (Textkorrekturen in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50, 209).

Ein Bezugs- und ein Antwortbrief sind nicht bekannt.

Meyers] Gemeint ist ein aus Hannover stammendes und mit den Kestners befreundetes Ehepaar Meyer (auch: Mejer, Meier). Oskar Ulrich weist in seiner Biographie Charlotte Kestners Meyer als Kammersekretär in Hannover aus: „Kestner kannte die Familie seit seiner frühesten Jugend und hat mit Frau und Kindern oft in dem Mejerschen Hause am Walle (Kl. Wallstraße 4) verkehrt. Mejer lebte mit seiner Frau, der Tochter eines Northeimer Amtmanns, in kinderloser Ehe und führte ein gastfreies Haus. Als Mejers im Juni 1774 auf einer Badereise durch Frankfurt kamen, besuchten sie auf Kestners Empfehlung auch Goethe 〈…〉.“ (Ulrich, Charlotte Kestner, 82.) Nachzuweisen ist im hannoverschen Staatskalender von 1774 ein Ludwig Johann Georg Meier, eingetragen als „Cammer-Secretarier“ (freundliche Mitteilung von Yvonne Sowa, Stadtarchiv Hannover). Bisher wurde der Ehemann als hannoverscher Hofrat und Kammersekretär H. G. Meyer identifiziert (vgl. Goethe-Lavater​3, 436).

O Lotte was ich ein Kind bin!] Hier wie auch an anderen Stellen des Briefes wird die Nähe zur Sprache des „Werther“, den Goethe kurz zuvor abgeschlossen hatte, besonders deutlich (vgl. auch zu 93,12 ). Für Charlotte Kestner noch nicht erkennbar, zitiert Goethe z. B. fast wörtlich aus dem 1. Teil: Was man ein Kind ist! Was man nach so einem Blikke geizt! Was man ein Kind ist! (Brief vom 8. Juli; DjG​3 4, 127.)

Kestners Briefe] Nicht überliefert.

deinem Schatten] Charlottes Silhouette, die Goethe in seinem Zimmer aufgehängt hatte. Wahrscheinlich ist die mehrfach als Faksimile veröffentlichte Porträtsilhouette gemeint, deren Original schon vor 1910 als verschollen galt (vgl. DjG​2 4, 374, Tafel 5; vgl. auch GB 1 II, zu 235,22 ). – Auch im „Werther“ tritt Lottes Bild für den Helden an die Stelle der abwesenden Geliebten: O Lotte, was erinnert mich nicht an dich! Umgiebst du mich nicht, und hab ich nicht gleich einem Kinde, ungenügsam allerley Kleinigkeiten zu mir gerissen, die du Heilige berührt hattest! / Liebes Schattenbild! Ich vermache dir's zurük, Lotte, und bitte dich es zu ehren. Tausend, tausend Küsse hab ich drauf gedrükt, tausend Grüße ihm zugewinkt, wenn ich ausgieng, oder nach Hause kam. (DjG​3 4, 185 [2. Teil].)

das dahin zu krizzen] Kritzeln. – Der vorliegende Brief ist wie auch die anderen überlieferten Briefe Goethes an Charlotte im Gegensatz etwa zu Briefen an Kestner oder an Hans Buff gleichmäßig und deutlich geschrieben (vgl. Nr 13 , 18 , 25 und 227 ; vgl. auch GB 1 II, Überlieferung und einleitende Erläuterung zu Nr 99 ).

Ellrie] Ein Wald bei Hannover, benannt nach den Erlen (Ellern), die früher auf dem feuchten und sumpfigen Boden wuchsen. Aus dem wohl noch Ende des 18. Jahrhunderts gebräuchlichen Namen ‚Ellernried‘ wurde später ‚Eilenriede‘, heute der Stadtwald Hannovers.

mein Pathgen] Georg, der am 1. Mai 1774 geborene älteste Sohn Charlotte und Johann Christian Kestners.

der einen seiner Namen 〈…〉 trägt] Vgl. zu 86,21 .

Papa Kestnern] Johann Christian Kestner.

ein Brief an ihre Schweste〈r〉] Nicht überliefert.

Hans] Charlottes Bruder Hans Buff.

aus dem Bade] Die Meyers befanden sich auf der Durchreise nach Ems, wo Goethe am 29. und 30. Juni sowie vom 15. bis zum 18. Juli und möglicherweise auch im August 1774 mehrfach wieder mit ihnen zusammentraf (vgl. Chronik 1, 660–674). Mitte August reiste das Ehepaar über Frankfurt nach Hannover zurück.

eine Hand] Verkürzt für ‚Händedruck‘, ‚Handschlag‘; hier wahrscheinlich: Kusshand (vgl. GWb 4, 669).

ehstens einen Freund] Goethe rechnete demnach mit einem früheren Erscheinen des „Werther“, den er Ende Mai/Anfang Juni zum Verlag gegeben hatte; der Roman erschien erst zur am 2. Oktober beginnenden Herbstmesse. Der Dichter muss bereits Mitte September einige Exemplare erhalten haben, die er an seine Freunde schickte (vgl. Datierungen zu Nr 148 und Nr 155 ).

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 120 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR120_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 93–94, Nr 120 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 257–259, Nr 120 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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