Goethes Briefe: GB 2, Nr. 114
An Sophie La Roche

〈Frankfurt a. M. , Ende Mai/Anfang Juni? 1774〉 → 〈Ehrenbreitstein bei Koblenz〉


Liebe Mama ich begreiffe die Menschen nicht, ich muss mich noch so offt über sie wundern, und daran spür ich dass ich iung binn.

Sonst wenn ich von einem grosen Geiste hörte, so gab meine Einbildungskrafft dem Mann eine Stärcke, eine hohe Vorstellungsart, und übrige Apartinenzien, und nun wie ich sie kennen Lerne die Herrn, ist's mit ihnen nicht besser, als einem eingeschränckten Mädgen deren Seele überall anstöst, und deren Eitelkeit mit einem Winckgen zu beleidigen ist. Ich dachte Wieland sollte sich so albern nicht gebärden. denn was ist an der ganzen Sache? Ich hab ihm ein Gartenhäusgen ​ 1 seines Papiernen Ruhms abgebranndt, ihm ein wächsern Desert Parterrgen verheert, kommt er darüber auser sich, was wird er erst gegen das Schicksaal toben, das mit unerhörter Impertinenz den Seschianischen Pallast, mit soviel Kunstwerken und Kostbaarkeiten, die Arbeit sovieler HundertMenschenseelen ​ 2 , in vier und zwanzig Stunden in die Asche legt. Meinen Werther musst ich eilend zum drucke schicken, auch dacht ich nicht dass Sie in der / Lage seyen, meiner Empfindung, Immagination ​ 3 , und Grillen zu folgen.

Meine Schwester trägt gegenwärtig die Unbequemlichkeiten guter Hoffnung, ich habe wohl in zwey Monaten keinen Brief von ihr.

Die liebe Max seh ich selten, doch wenn sie mir begegnet ists immer eine Erscheinung vom Himmel.

Meine Mutter grüsst sie herzlich.

Wann werden Sie kommen, und sich wieder überzeugen dass Sie wohl bessere Söhne und Freunde haben, treuer aber keinen als

Ihren Goethe.   

  1. Garte h ​nhäusgen​ ↑
  2. Hundertm ​Menschenseelen​ ↑
  3. × ​Immagination​ ↑

Die Datierung des Briefes kann sich auf die indirekte Erwähnung des Weimarer Schlossbrandes vom 6. Mai 1774 (vgl. 90,7–10 ) stützen sowie auf die Äußerung von Goethes Zweifel an Sophie La Roches Fähigkeit, eine kongeniale Leserin seines „Werther“ zu sein (vgl. 90,10–12 ), wovon er in seinem Brief vom 7. oder 8. Mai ( Nr 109 ) noch ausgegangen war (vgl. 86,12–13 ). Dieser letzte Umstand lässt vermuten, dass zwischen beiden Briefen eine gewisse Zeitspanne liegt. Goethes Erstaunen über Wielands Verhalten angesichts seiner Farce „Götter Helden und Wieland“ korrespondiert mit entsprechenden Bemerkungen im Brief an Heinrich Christian Boie vom 4. Juni 1774 (vgl. 90,29–30 ). Es ist also anzunehmen, dass der vorliegende Brief etwa zur selben Zeit geschrieben wurde, vielleicht Ende Mai/Anfang Juni 1774. Vgl. auch Böhm (1973), 264.

H: GSA Weimar, Sign.: 29/294,I, Bl. 9. – 1 Bl. 19,2 × 23,2 cm, 1 ½ S. beschr., egh., Tinte, sorgfältig geschrieben; obere rechte Ecke des Blattes abgeschnitten.

E​1: Katalog der Goethe-Ausstellung 1861. Berlin 1861, S. 27, Nr 101 (Teildruck: 90,3–10 Ich dachte Wieland 〈…〉 Asche legt.; 90,15–16 Die liebe Max 〈…〉 Himmel.).

E​2: Frese (1877), 148, Nr 13.

WA IV 2 (1887), 164–166, Nr 225 (Textkorrekturen in den „Berichtigungen“; vgl. WA IV 50 [1912], 209).

Der Brief beantwortet vermutlich einen nicht überlieferten Brief Sophie La Roches (vgl. zu 89,21 ). – Ein Antwortbrief ist nicht bekannt.

ich begreiffe die Menschen nicht] Nachdem Goethe Anfang Mai mit Erleichterung die öffentliche Erklärung Wielands über die Farce „Götter Helden und Wieland“ im „Teutschen Merkur“ zur Kenntnis genommen hatte (vgl. 86,1–4 ), war er – durch Sophie La Roche oder auf sonst unbekanntem Wege – davon unterrichtet worden, dass sich Wieland privat offenbar doch sehr gekränkt gezeigt habe.

Apartinenzien] Besonderheiten, Reize (von apart).

ein Gartenhäusgen 〈…〉 abgebranndt] Anspielung auf Wielands Singspiel „Alceste“, auf das Goethes Farce Bezug nimmt (vgl. zu 41,33–34 ).

wächsern Desert Parterrgen] Tafelschmuck aus künstlichen Blumen beim Dessert (vgl. GWb 2, 1155). – Im Brief an Gottlob Friedrich Ernst Schönborn vom 1. Juni bis 4. Juli 1774 ( Nr 123 ) beschreibt Goethe die Stoßrichtung seiner Kritik an Wieland: Ich turlupinire ihn auf eine garstige Weise über seine moderne Mattherzigkeit in darstellung iener Riesengestalten der marckigen Fabelwelt. ( 96,10–12 .)

den Seschianischen Pallast 〈…〉 in die Asche legt] Anspielung auf den Weimarer Schlossbrand vom 6. Mai 1774, bei dem das Schloss bis auf die Grundmauern zerstört wurde. Vom Seschianischen Pallast ist die Rede in Anspielung auf Wielands Roman „Der Goldne Spiegel, oder die Könige von Scheschian, eine wahre Geschichte“ (4 Tle. Leipzig 1772), der seine Berufung als Prinzenerzieher nach Weimar zur Folge hatte.

Meinen Werther 〈…〉 zum drucke schicken] Zunächst hatte Goethe das Manuskript des „Werther“ zur Lektüre an Sophie La Roche schicken wollen, sich dann aber anders entschieden (vgl. zu 86,13 ). Vgl. auch Datierung. Der Roman erschien zur Michaelismesse im Oktober 1774 bei Christian Friedrich Weygand in Leipzig.

guter Hoffnung] Das erste Kind von Goethes Schwester Cornelia Schlosser, Luise, wurde am 28. Oktober 1774 geboren.

Wann werden Sie kommen] Sophie La Roche hielt sich im Juni/Juli in Frankfurt auf. Vgl. Datierung zu Nr 122 .

 

 
 

Nutzungsbedingungen

Kontrollen

Kontrast:
SW-Kontrastbild:
Helligkeit:

Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 114 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR114_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 89–90, Nr 114 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 248–249, Nr 114 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

Zurück zum Seitenanfang