Goethes Briefe: GB 2, Nr. 113
An Friedrich Gottlieb Klopstock

Frankfurt a. M. , 28. Mai 1774. Samstag → 〈Hamburg〉


Schönborn in einem Briefe aus Algier den ich gestern empfangen habe, schreibt mir: „Klopstock wird sie durch Boie um einige ihrer Arbeiten ersuchen lassen“. Und warum soll ich Klopstocken nicht schreiben, ihm selbst schicken was es auch sey, und was für einen Anteil er auch dran nehmen kann! Soll ich den Lebenden nicht anreden, zu dessen Grabe ich wallfahrten würde. Hier haben Sie also ein Stück das wohl nie gedruckt werden wird, das ich bitte mir gerade zurückzusenden. Sobald einige Dinge von mir die fertig liegen gedruckt sind, schick ich sie Ihnen oder meld es wenigstens, und wünsche dass Sie empfinden mögen ​ 1 mit welch wahrem Gefühl meine Seele an Ihnen hängt. Franckfurt am 28 May 1774

Goethe.

  1. mögg ​en​ ↑

H: Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky, Hamburg, Sign.: KN 42 : 6 : 1. – 1 Bl. 19,2 × 23,2 cm, ⅔ S. beschr., egh., Tinte.

E: 〈Carl〉 Redlich: Ein unechter und ein echter Brief Goethe's an Klopstock. In: Im neuen Reich 4 (1874). Bd 2, S. 340.

WA IV 2 (1887), 162, Nr 221 (nach E; Hinweis auf H in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 209).

Manuskript zu einem Stück (vgl. zu 89,14 ).

Der Brief beantwortet keinen Brief Klopstocks. – Ein Antwortbrief ist nicht bekannt.

Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803), geboren als Sohn eines Advokaten in Quedlinburg im Harz, war nach dem Studium der Theologie in Jena und Leipzig von 1748 bis 1750 Hauslehrer in Langensalza gewesen. In dieser Zeit waren (anonym) die ersten drei Gesänge des Hexameter-Epos „Der Messias“ erschienen (in: Neue Beyträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes 〈Bremer Beiträge〉. Bd 4. 4. und 5. Stück 1748, S. 243–378), das Klopstocks literarischen Ruhm begründete. Johann Jacob Bodmer lud den Dichter 1750 nach Zürich ein, damit er dort sein Werk vollende. Der Aufenthalt endete bereits im folgenden Jahr mit einem persönlichen Zerwürfnis, und Klopstock nahm das Angebot des dänischen Königs an, mit einer Pension ausgestattet sich seiner literarischen Arbeit zu widmen. Von 1751 bis 1770 lebte Klopstock, unterbrochen von einem Aufenthalt in Deutschland von 1762 bis 1764, in Kopenhagen. Als 1770 sein Förderer, der dänische Außenminister Johann Hartwig Ernst Bernstorff, entlassen wurde, begleitete Klopstock diesen nach Hamburg, wo er bis zu seinem Tode lebte.

Goethe war, so schildert er es im 2. Buch von „Dichtung und Wahrheit“, seit seiner Kindheit beeindruckt von Klopstocks Dichtung sowie durch den Umstand, dass ein so vortrefflicher Mann so wunderlich heißen könne (AA DuW 1, 70). Er las den „Messias“ und die Oden. Gemeinsam mit der Schwester lernte er Passagen des Epos auswendig und rezitierte sie (vgl. AA DuW 1, 71). In Straßburg lernte Goethe durch Herder Klopstock als einen Dichter schätzen, der die deutsche Literatur und Sprache zu erneuern imstande war; seine freirhythmischen Hymnen (wie „Wandrers Sturmlied“, „Ganymed“, „An Schwager Kronos“) zeugen vom Einfluss der Klopstockschen Odendichtung. Klopstock seinerseits wurde im Jahr 1773 durch „Götz von Berlichingen“ auf Goethe aufmerksam. „Der Ritter mit der eisernen Hand und sein Dichter, sind beydes brave Männer“, „die ihre Knie nicht vor Wieland oder andern Gözen gebeugt haben“, hatte Christian zu Stolberg am 2. August 1773 im Namen des Göttinger Hainbundes an den verehrten Klopstock geschrieben (Klopstock, Briefe HKA 6 I, 82), der das Stück „eben so gut so ​original“ fand wie Stolberg selbst (Brief an Johann Heinrich Voß und Carl Friedrich Cramer, 19. September 1773; GJb XXXIII [1912], 11). Das Drama veranlasste Klopstock zu der Annahme, den Dichter der eigenen ,patriotischen‘ Partei zurechnen zu können, die wie die Stolbergs und der gesamte Hainbund gegen die französischen Einflüsse in der deutschen Literatur, so insbesondere in Wielands Werken, zu Felde zog. Wenige Wochen vor dem vorliegenden Brief war zur Leipziger Ostermesse Klopstocks Schrift „Die deutsche Gelehrtenrepublik“ erschienen, von Goethe begeistert aufgenommen (vgl. 92,22–24 ; 97,32–98,12 ).

Die Beziehung zwischen Goethe und Klopstock wurde durch Vermittlung Gottlob Friedrich Ernst Schönborns gestiftet, der mit Klopstock und Bernstorff befreundet war. Bei seinem Besuch in Frankfurt im Oktober 1773 hatte er Klopstock in einem Brief (vgl. Klopstock, Briefe HKA 6 II, 467) über Goethe berichtet, vermutlich zur selben Zeit und in der gleichen enthusiastischen Weise wie in seinem Brief an Heinrich Wilhelm von Gerstenberg vom 12. Oktober 1773: „Er ist sehr beredt u ströhmt von Einfällen die sehr witzig sind. In der That besitzt er so weit ich ihn kenne, eine ausnehmend anschauende sich in die Gegenstände durch und durch hinneinfühlende Dichterkrafft so dass alles lokal u individuell in seinem Geiste wird. Alles verwandelt sich gleich bey ihm ins Dramatische. Er freute sich ungemein da ich ihm sagte daß Sie 〈Gerstenberg〉 sehr mit seinem Stük 〈Götz von Berlichingen〉 zufrieden gewesen. Ihr u Klopstoks Urtheil habe er längst gerne vernehmen mögen 〈…〉.“ (BG 1, 239.) Mit dem vorliegenden Brief wendet sich Goethe erstmals an Klopstock. Es folgten im weiteren Verlauf des Jahres mehrere Briefe (AA DuW 1, 537 [15. Buch]), die nicht überliefert sind. Noch im selben Jahr 1774 kam es zur ersten persönlichen Begegnung. Einer Einladung des Markgrafen Karl Friedrich von Baden folgend, der ihn an seinen Hof holen wollte, reiste Klopstock im September nach Karlsruhe; am 27. September besuchte er Goethe in Frankfurt und fuhr in dessen Begleitung am 29. September weiter nach Darmstadt (vgl. die „Frankfurter Kaiserl. Reichs-Ober-Post-Amtszeitung“ vom 1. Oktober 1774; BG 1, 296). Der Besuch verlief nicht zu Goethes Zufriedenheit; im 15. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ erinnert er sich, dass Klopstocks Betragen ernst und abgemessen gewesen sei und seine Gegenwart etwas von der eines Diplomaten gehabt habe (AA DuW 1, 537). Statt über Literarisches sprach Klopstock über die Technik des Eislaufs und übers Reiten (vgl. AA DuW 1, 538). Auf der Rückreise von Karlsruhe hielt er sich am 30. März 1775 noch einmal in Frankfurt auf. Dies war die letzte Begegnung Goethes mit ihm; da Klopstock im Mai 1775 Karlsruhe längst verlassen hatte, kann Goethe ihn dort zu Beginn seiner Schweizer Reise nicht gesehen habe, wie er im 18. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ schreibt (vgl. AA DuW 1, 601).

Zu einem ernsthaften Bruch in der Beziehung zu Klopstock kam es schon wenige Monate nach Goethes Übersiedlung nach Weimar. Anlass war ein Brief Klopstocks vom 8. Mai 1776, in dem er Goethe wegen dessen und des Herzogs Lebenswandel Vorhaltungen machte (vgl. Klopstock, Briefe HKA 7 I, 22 f.; RA 1, 66, Nr 64 ). Goethe antwortete darauf am 21. Mai: Verschonen Sie uns ins Künftige mit solchen Briefen, lieber Klopstock! Sie helfen nicht, und machen uns immer ein paar böse Stunden. 〈…〉 Glauben Sie, daß mir kein Augenblick meiner Existenz überblieb, wen ich auch all' solche Briefe, auf all' solche Anmahnungen antworten sollte. (WA IV 3, 63 f., Nr 462.) Klopstock war so verletzt, dass er nach Lektüre des Briefes „so gelassen u kalt wie möglich“ gesagt haben soll: „,Izt verachte ich Göthen!‘“ (Zitat im Konzept eines Briefes von Carl Friedrich Cramer an Goethe vom 11. Oktober 1776; Klopstock, Briefe HKA 7 II, 371; vgl. auch RA 1, 67 f., Nr 73 .) In seiner Replik vom 29. Mai kündigte er Goethe seine Freundschaft auf: „Sie haben den Beweis meiner Freundschaft so sehr verkannt, als er groß war; 〈…〉 so erklär' ich Ihnen hierdurch, daß Sie nicht werth sind, daß ich ihn gegeben habe.“ (Klopstock, Briefe HKA 7 I, 31; vgl. auch RA 1, 66, Nr 65 .) Zu einer Wiederannäherung kam es nicht mehr. Dennoch blieb Goethe, bei kritischen Äußerungen im Einzelnen, stets bei seiner Anerkennung der literaturgeschichtlichen Bedeutung Klopstocks.

Von Goethe sind insgesamt nur drei Briefe an Klopstock überliefert, außer den beiden im vorliegenden Band der erwähnte Brief vom 21. Mai 1776, von Klopstock nur die beiden genannten aus dem Mai 1776.

Schönborn in einem Briefe aus Algier] Schönborns Brief vom 16. April 1774 (vgl. 90,22 ) ist nicht überliefert; über Schönborn vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 123 .

gestern] In seinem Antwortbrief an Schönborn ( Nr 123 ) schreibt Goethe aber (im Briefteil vom 1. Juni 1774), er habe den Brief am 25. Mai erhalten (vgl. 95,10 ).

„Klopstock wird 〈…〉 ersuchen lassen“.] Schon am 9. November 1773 hatte Klopstock an Schönborn geschrieben: „Was Sie mir von Göthe schreiben hat mir recht sehr gefallen. Ich werde ihn durch Boie bitten, daß er mir die Sachen schikt, die er Ihnen vorgelesen hat.“ (Klopstock, Briefe HKA 6 I, 111.) Goethe hatte Schönborn im Oktober 1773 zwei Akte seines „Prometheus“-Dramas vorgelesen (vgl. BG 1, 239). Offenbar hatte Heinrich Christian Boie (vgl. über ihn die einleitende Erläuterung zu Nr 46 ) diesen Auftrag Klopstocks noch nicht ausgeführt.

ein Stück] Nicht ermittelt. Der Herausgeber des Erstdrucks zitiert einen Brief von Johann Heinrich Voß an den Göttinger Hainbund, in dem es heißt: „Kl. 〈Klopstock〉 will gerne Göthens Prolog gegen Wieland u Jakoby sehn. Sie dürfens ihm schreiben, H Boie, daß es Kl. will.“ (Johann Heinrich Voss: An den Göttinger Hain. Brief vom 4. April 1774. Hrsg. von Sigrid von Moisy [Erstdruck]. In: Einladung ins 18. Jahrhundert. Ein Almanach aus dem Verlag C. H. Beck im 225. Jahr seines Bestehens. Hrsg. von Ernst-Peter Wieckenberg. München 1988, S. 272.) Mit dem „Prolog gegen Wieland u Jakoby“ sind die Satiren „Götter Helden und Wieland“ und „Das Unglück der Jacobis“ gemeint. Ob eine von ihnen das fragliche Stück war, ist unwahrscheinlich, denn die erstere war bereits erschienen, die zweite hat Goethe kaum aus der Hand geben wollen (vgl. zu 91,1 ). In DjG​3 4, 330 wird ohne nähere Hinweise vermutet, es könne sich um das „Prometheus“-Fragment (vgl. vorhergehende Erläuterung) oder um die (im Sommer 1773 entstandene, erst 1817 veröffentlichte) Farce „Satyros oder der vergötterte Waldteufel“ handeln.

einige Dinge] „Die Leiden des jungen Werthers“ und „Clavigo“ (vgl. 94,20–21 ; 95,24–96,8 ).

schick ich sie Ihnen oder meld es wenigstens] Es ist nicht bekannt, ob dies geschah.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 113 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR113_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 89, Nr 113 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 244–247, Nr 113 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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