Goethes Briefe: GB 2, Nr. 110
An Johann Christian Kestner

〈Frankfurt a. M. 〉, 11. Mai 〈1774. Mittwoch〉 → 〈Hannover〉


Es hat mich überrascht, ich erwartete das nicht. Gehofft hatt ichs, doch da dein Brief nichts davon sagte, beschied ich mich dass die erstgebohrnen der Famille gehören. Nun aber — ich wünsche dass Lotte – denn getauft ist der Knabe am 11 May da ich das schreibe — dass Lotte, alle Uberlegung ​ 1 möge auffahrend durchgebrochen haben, und gesagt: ​Wolfgang heist ​er! und der Bub soll auch so heisen! — du scheinst dahin zu neigen, und ich wünsche dass er diesen Nahmen führe weil er mein ist. — habt ihr ihm den ​andern gegeben so halt ich mir aus dem nächsten den Nahmen ​Wolfg. zu geben, da ihr doch mehr Gevattern nehmt — und ich — wohl all eure Kinder aus der Taufe heben mögte weil sie mir all so nah sind wie ihr. — Schreibt ​ 2 mir gleich was geschehn ist. – Ich habe närrische Ahndungen dadrüber ​ 3 , die ich nicht sage sondern die Zeit will walten lassen.

Adieu ihr Menschen die ich so liebe |:dass ich auch der träumenden Darstellung ​ 4 des Unglücks unsers Freundes, die Fülle meiner Liebe borgen und anpassen musste:| die Parenthese bleibt versiegelt biss auf weiters.

G.

  1. u ​Uberlegung​ ↑
  2. Schri ​eibt​ ↑
  3. dab ​drüber​ ↑
  4. Darstellun|g|​ ↑

Die Datierung folgt der Angabe im Brief: am 11 May da ich das schreibe ( 86,19 ). Das Jahr ergibt sich aus der Erwähnung der Taufe von Kestners erstgeborenem Sohn Georg (vgl. 86,19 ), der am 1. Mai 1774 geboren worden war.

H: GSA Weimar, Sign.: 29/264,I,3, Bl. 5. – 1 Bl. 19(–19,3) × 23 cm, 1 S. beschr., egh., Tinte; S. 1 oben von fremder Hd, Bleistift: „11. May 1774.“

E: Goethe und Werther​1 (1854), 207 f., Nr 99.

WA IV 2 (1887), 159 f., Nr 219.

Der Brief beantwortet einen nicht überlieferten Brief Kestners etwa vom 9. Mai 1774 (vgl. zu 86,16 ). – Ein Antwortbrief ist nicht bekannt.

Es hat mich überrascht 〈…〉 Gehofft hatt ichs] Wie aus dem Folgenden hervorgeht, muss Kestner in seinem Bezugsbrief, der unter Berücksichtigung der Postwege etwa vom 9. Mai 1774 stammt, Goethe zum Paten gebeten haben. – Die Eintragung im Kirchenbuch der Schlosskirche zu Hannover belegt, dass Goethe zu den Paten des erstgeborenen Sohnes der Kestners gehörte (vgl. Ulrich, Charlotte Kestner, 91).

​Wolfgang heist er!] Goethes Wunsch sollte nicht in Erfüllung gehen. Laut Kirchenbuch wurde Kestners am 1. Mai 1774 geborener Sohn auf die Namen Georg Heinrich Friedrich Wilhelm getauft (vgl. Auszug aus dem Register der Schlosskirche zu Hannover; Ulrich, Charlotte Kestner, 193; ebenso Eggers, 16). Worauf die Angabe bei Fischer-Lamberg beruht, die Taufnamen von Kestners erstgeborenem Sohn seien Georg Wolfgang gewesen, ist nicht bekannt (vgl. DjG​3 4, 329, zu Nr 231).

so halt ich mir aus] Sich etwas aushalten: sich etwas ausbedingen; nach Adelung in dieser Bedeutung vor allem im Rheinischen gebräuchlich (vgl. Adelung 1, 599).

dem nächsten 〈…〉 ​Wolfg. zu geben] Der zweite Sohn der Kestners, geboren am 2. Mai 1775, erhielt die Namen Wilhelm Georg Konrad Arnold; auch keiner der sechs jüngeren Söhne des Paares wurde auf den Namen Wolfgang getauft (vgl. Ulrich, Charlotte Kestner, 193 f.; ebenso Eggers, 16–24).

Gevattern] Taufzeugen, Paten. – Neben Goethe waren auch der Großvater Henrich Adam Buff sowie ein Bruder Kestners und ein Freund der Familie, der hannoversche Hof- und Kriegssekretär Ludwig Johann Georg Meier (auch: Meyer, Mejer; vgl. zu 93,1 ), Taufpaten des erstgeborenen Sohnes Georg Kestner.

der träumenden Darstellung 〈…〉 anpassen musste] Anspielung auf „Die Leiden des jungen Werthers“, in die das Schicksal Carl Wilhelm Jerusalems literarisch vermittelt eingeflossen war (vgl. GB 1 II, zu 246,4–5 ). In der Zeit vor der Veröffentlichung des „Werther“ verweist Goethe in den Briefen an Kestner mehrfach auf das Geschick Jerusalems als den stofflichen Hintergrund des Romans, wohl vor allem in der Absicht, dem Eindruck einer zu direkten Verarbeitung der eigenen Wetzlarer Erlebnisse vorzubeugen (vgl. 85,18–20 ).

die Parenthese 〈…〉 auf weiters] Diese und andere Anspielungen mussten Kestner bis zur Lektüre des „Werther“ unverständlich bleiben.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 110 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR110_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 86–87, Nr 110 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 240–242, Nr 110 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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