Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 185
Von Friedrich Heinrich Jacobi

28. April bis 8. Mai 1784, Düsseldorf und Pempelfort

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Ich hätte schon lange deinen herzlichen Brief, der mehr
als Versicherung u Zeichen, der die Freundschaft mit der That
ist, beantwortet, wenn ich nicht am Leibe u am Geiste unauf-
hörlich krank gewesen wäre. Ich bin es noch; aber ich mag nicht län-
ger warten. Und worauf sollt' ich warten? Wo ist Gesundheit, und
was bedeutet unter Menschen dieses Wort – das vielleicht über-
all keinen Sinn hat? Zürne nicht, lieber Goethe – Oder du
magst denn zürnen, und mich nennen wie du willst, mich oder
ihn – den Gott (nach Plato) welchem meine Seele folgte, da
sie, niedersinkend, ihre Flügel einbüßte, und diesen Körper
aufladen mußte: was kann ich jetzt dazu? Der ich ward der bin
ich, gequält von meiner Kindheit an mit einem heimlichen
unüberwindlichen Eckel an mir selbst, dem Menschen; so daß
ich, immer mehr verarmt an Hoffnung, oft es kaum ertrage,
so ein Ding zu seyn: eine Lüge, unter lauter Lügen; ein Ge-
träume, von Geträumtem; u wenn ich meine wach zu seyn, noch
weniger als das. – Doch es sey! Wenn auch dem Menschen keine
Hülfe, keine Hoffnung weiter ist, so bleibt ihm doch zum
wenigsten der Gott des alten Plinius: Deus est mortali juvare| 2 |
mortalem. Und hierauf, lieber Goethe, nehm ich dich in mei-
nen Arm.


   Daß du dich nach meinem zweyten Sohne erkundigst u
dich seiner annimmst, dafür gehört der Dank unmittelbar an
diese Stelle.


   Es kann seyn, daß wir den Knaben falsch behandeln;
aber wie man ihn recht behandelte, dieses würdest du Mühe ha-
ben anzugeben, wenn du ihn kenntest, so wie wir ihn kennen.
Ich habe viel darüber nachgedacht, wie ich dir einen Begriff v
ihm beybrächte, u mit meinen Schwestern oft darüber mich
besprochen: aber wir alle sehen keinen Weg. Ich müßte dir
zuerst seine Gestalt beschreiben, die sehr bedeutend ist, seine Art diese Gestalt zu tra-
gen; hernach gewiße Charakter Züge näher bestimmen; andere
an den Tag u in Verbindung bringen; und dann noch, dir
einige seiner Handlungen ausführlich u genau erzählen.
Das alles ist sehr schwer u sehr weitläuftig. Aber ich will ihn
für dich abzeichnen laßen, in lebensgröße nach dem ver-
jüngten Maßstabe, denn er kömmt bald hierher während die
Fürstinn eine Reise thut. Dieser Zeichnung will ich alsdann
Erläuterungen beyfügen. – Eben diese Erwartung meines
Sohnes, ist eine Hauptursache, warum ich dir noch nichts ge- | 3 |
wißes über meine Reise nach weimar sagen kann. Ich habe
gute Lust, ihn nicht wieder nach Münster gehen zu laßen,
sondern ihn nun eine Zeitlang bey mir zu behalten, u trage
mich mit diesem Gedanken schon seit dem letzten Herbst.
Die jetzige Gelegenheit ist erwünscht um hierüber zu einem
Entschluße zu kommen. Noch weiß ich nicht in welchem Monate die
Reise der Prinzeßinn vor sich gehen wird. Ich habe ihr darum ge-
schrieben, u erwarte nun mit jedem Posttage ihre Antwort.
Von andern Hindernißen, welche der Befriedigung meines Ver-
langens im Wege stehen, sage ich dir nichts, weil sie alle zur
Noth sich überwinden laßen; von meinem Verlangen allein aber
nicht überwunden werden dürfen. Ich werde sehen, wie es nach
4 oder 5 Wochen um mich steht.


   


   Gestern bin ich hier eingezogen. Mir war sehr Angst vor
diesem Zuge, und ich hätte ihn darum gern früher unternom-
men; aber das große Waßer hatte mir so viel Unheil ange-
richtet, daß es nicht anging. Da bin ich denn öfter nur auf
Stunden hier gewesen, u habe, bey gutem Wetter, alle Tage
wenigstens den Ort besucht, u es so almählich ertragen ge-
lernnt, auch hier – wo ich den letzten Herbst so besonders
glücklich mit meiner Betty war – ohne sie zu seyn, u ohne | 4 |
meinen lieben Franz. Alles hat sich vereinigt, daß mir dieß
beym Einziehen lange nicht so schmerzhaft aufgefallen ist, als
jedes mahl vorhin. Heute früh erwachte ich sehr munter,
u ich bin es geblieben. Es ist der erste Tag, nach vielen Monaten,
an dem ich wieder ein natürliches Frohseyn empfinde.


   Gestern erhielte ich auch Briefe von der Fürstinn.
Sie wird nicht vor Ende Julius verreisen. Ich wäre von
dieser Seite also ziemlich ungehindert. Wie sich das Uebrige
entscheidet, davon gebe ich dir zu Anfang des künftigen Mo-
naths Bericht.


   Hier ein kleines pro memoria, deßen Inhalt ich dich
bitte durch einen deiner Leute besorgen zu laßen.


   Grüße Herdern, dem ich noch immer eine Antwort
schuldig bin, die auch nun nicht kommen wird, ehe die Wahrscheinlich-
keit aufhört, daß ich selbst komme. Herders Philosophie scheint mit
der von Wachter im elucidario cabbalistico viel ähnliches
zu haben, welches ich immer vermuthet hatte, u dennoch wieder nicht
begriffe, denn ich weiß nichts trüberes als dies System. Ein da-
hin gerichtetes Urtheil über Herders Urkunde, welches Leßing von
ohngefähr zu sehen bekam, ist ein Hauptanlaß seiner nä-
heren Verbindung mit mir gewesen. Leßings εν χαι
παν war consequenter. Herder wäre diesen Sachen auf | 5 |
dem Grunde, schriebst du mir im Januar. Diesen Sachen
aufdemGrunde? Wer kann das seyn – etwa die
Freymäurer ausgenommen!

Lebe wohl, du Lieber,
wir alle grüßen dich von Herzen.

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An Göthe zu Weimar



Pempelfort dℓ 8t May
   1784
An Göthe zu Weimar

S: GSA 51/II,2 St. 24  D: JacobiI 3, Nr. 1034  B: 1784 März 31 (WA IV 6, Nr. 1907)  A: 1784 Mai 29 (WA IV 6, Nr. 1937)  V: Konzept 


1784 April 28, Düsseldorf
Dank für G.s Brief, der die Freundschaft mit der That sei. Depressive Vorstellungen über das eigene Leben. Berufung auf den Gott des alten Plinius: Deus est mortali juvare mortalem. - Über die Schwierigkeiten mit seinem Sohn Georg, der bei der Fürstin Gallitzin erzogen werde und demnächst heimkehre. J. werde ihn zeichnen lassen und dem Bild Erläuterungen für G. beifügen. Da noch nicht feststehe, wann die Fürstin mit Georg eintreffen werde, könne J. den Termin seiner Reise nach Weimar noch nicht bestimmen.
1784 Mai 8, Pempelfort
Bericht über den verzögerten Einzug in Pempelfort zum Sommeraufenthalt; Erinnerung an seine verstorbene Frau und seinen jüngsten Sohn Franz. - Die Reise der Fürstin Gallitzin sei nicht vor Ende Juli zu erwarten und hindere daher J.s Reise nach Weimar nicht; näherer Bescheid deshalb sei jedoch erst Anfang Juni möglich. - Ein beigelegtes Promemoria bittet J. besorgen zu lassen. - Er bittet, Herder zu grüßen, dessen Philosophie ("Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit", 1784-91) mit der von J. G. Wachter im elucidario cabbalistico viel ähnliches zu haben scheine (Wachter, "Elucidarius cabbalisticus"). J. wisse nichts trüberes als dies System. Ein Urteil dieser Art sei ein Hauptanlaß von Lessings näherer Verbindung mit J. gewesen. Lessings [griechisches Zitat] sei konsequenter. J. distanziert sich auch von G.s Urteil: Herder wäre diesen Sachen auf dem Grunde [...]. Diesen Sachen auf dem Grunde? Wer kann das seyn - etwa die Freymäurer ausgenommen!

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 Ich hätte schon lange deinen herzlichen Brief, der mehr als Versicherung u Zeichen, der die Freundschaft mit der That ist, beantwortet, wenn ich nicht am Leibe u am Geiste unaufhörlich krank gewesen wäre. Ich bin es noch; aber ich mag nicht länger warten. Und worauf sollt' ich warten? Wo ist Gesundheit, und was bedeutet unter Menschen dieses Wort – das vielleicht überall keinen Sinn hat? Zürne nicht, lieber Goethe – Oder du magst denn zürnen, und mich nennen wie du willst, mich oder ihn – den Gott (nach Plato) welchem meine Seele folgte, da sie, niedersinkend, ihre Flügel einbüßte, und diesen Körper aufladen mußte: was kann ich jetzt dazu? Der ich ward der bin ich, gequält von meiner Kindheit an mit einem heimlichen unüberwindlichen Eckel an mir selbst, dem Menschen; so daß ich, immer mehr verarmt an Hoffnung, oft es kaum ertrage, so ein Ding zu seyn: eine Lüge, unter lauter Lügen; ein Geträume, von Geträumtem; u wenn ich meine wach zu seyn, noch weniger als das. – Doch es sey! Wenn auch dem Menschen keine Hülfe, keine Hoffnung weiter ist, so bleibt ihm doch zum wenigsten der Gott des alten Plinius: Deus est mortali juvare| 2 | mortalem. Und hierauf, lieber Goethe, nehm ich dich in meinen Arm.

  Daß du dich nach meinem zweyten Sohne erkundigst u dich seiner annimmst, dafür gehört der Dank unmittelbar an diese Stelle.

  Es kann seyn, daß wir den Knaben falsch behandeln; aber wie man ihn recht behandelte, dieses würdest du Mühe haben anzugeben, wenn du ihn kenntest, so wie wir ihn kennen. Ich habe viel darüber nachgedacht, wie ich dir einen Begriff v ihm beybrächte, u mit meinen Schwestern oft darüber mich besprochen: aber wir alle sehen keinen Weg. Ich müßte dir zuerst seine Gestalt beschreiben, die sehr bedeutend ist, seine Art diese Gestalt zu tragen; hernach gewiße Charakter Züge näher bestimmen; andere an den Tag u in Verbindung bringen; und dann noch, dir einige seiner Handlungen ausführlich u genau erzählen. Das alles ist sehr schwer u sehr weitläuftig. Aber ich will ihn für dich abzeichnen laßen, in lebensgröße nach dem verjüngten Maßstabe, denn er kömmt bald hierher während die Fürstinn eine Reise thut. Dieser Zeichnung will ich alsdann Erläuterungen beyfügen. – Eben diese Erwartung meines Sohnes, ist eine Hauptursache, warum ich dir noch nichts ge| 3 |wißes über meine Reise nach weimar sagen kann. Ich habe gute Lust, ihn nicht wieder nach Münster gehen zu laßen, sondern ihn nun eine Zeitlang bey mir zu behalten, u trage mich mit diesem Gedanken schon seit dem letzten Herbst. Die jetzige Gelegenheit ist erwünscht um hierüber zu einem Entschluße zu kommen. Noch weiß ich nicht in welchem Monate die Reise der Prinzeßinn vor sich gehen wird. Ich habe ihr darum geschrieben, u erwarte nun mit jedem Posttage ihre Antwort. Von andern Hindernißen, welche der Befriedigung meines Verlangens im Wege stehen, sage ich dir nichts, weil sie alle zur Noth sich überwinden laßen; von meinem Verlangen allein aber nicht überwunden werden dürfen. Ich werde sehen, wie es nach 4 oder 5 Wochen um mich steht.

 

  Gestern bin ich hier eingezogen. Mir war sehr Angst vor diesem Zuge, und ich hätte ihn darum gern früher unternommen; aber das große Waßer hatte mir so viel Unheil angerichtet, daß es nicht anging. Da bin ich denn öfter nur auf Stunden hier gewesen, u habe, bey gutem Wetter, alle Tage wenigstens den Ort besucht, u es so almählich ertragen gelernnt, auch hier – wo ich den letzten Herbst so besonders glücklich mit meiner Betty war – ohne sie zu seyn, u ohne| 4 | meinen lieben Franz. Alles hat sich vereinigt, daß mir dieß beym Einziehen lange nicht so schmerzhaft aufgefallen ist, als jedes mahl vorhin. Heute früh erwachte ich sehr munter, u ich bin es geblieben. Es ist der erste Tag, nach vielen Monaten, an dem ich wieder ein natürliches Frohseyn empfinde.

  Gestern erhielte ich auch Briefe von der Fürstinn. Sie wird nicht vor Ende Julius verreisen. Ich wäre von dieser Seite also ziemlich ungehindert. Wie sich das Uebrige entscheidet, davon gebe ich dir zu Anfang des künftigen Monaths Bericht.

  Hier ein kleines pro memoria, deßen Inhalt ich dich bitte durch einen deiner Leute besorgen zu laßen.

  Grüße Herdern, dem ich noch immer eine Antwort schuldig bin, die auch nun nicht kommen wird, ehe die Wahrscheinlichkeit aufhört, daß ich selbst komme. Herders Philosophie scheint mit der von Wachter im elucidario cabbalistico viel ähnliches zu haben, welches ich immer vermuthet hatte, u dennoch wieder nicht begriffe, denn ich weiß nichts trüberes als dies System. Ein dahin gerichtetes Urtheil über Herders Urkunde, welches Leßing von ohngefähr zu sehen bekam, ist ein Hauptanlaß seiner näheren Verbindung mit mir gewesen. Leßings εν χαι παν war consequenter. Herder wäre diesen Sachen auf| 5 | dem Grunde, schriebst du mir im Januar. Diesen Sachen aufdemGrunde? Wer kann das seyn – etwa die Freymäurer ausgenommen!

Lebe wohl, du Lieber, wir alle grüßen dich von Herzen.

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    An Göthe zu Weimar


Pempelfort dℓ 8t May
   1784
An Göthe zu Weimar

 

 
 

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Online-Edition:
RA 1, Nr. 185, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0185_00214.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 185.

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