Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 115
Von Johann Kaspar Lavater

8. April 1780, Zürich

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Lieber Goethe,


Ich wollte dir heüte die Lotte und die von
Kaufmann mir zurükgesandten indianischen
Zeichnungen über die Post senden, da ich aber
eben ein Kistgen an Reich schike, so hast du
noch Geduld, bis du das Ding mit dieser Ge-
legenheit empfängst.


Die Cenci ist nun einmal ziemlich leidlich
Copirt. Nun noch einmal und ich sende
dir sie zurük. aber sie hat doch meiner Er-
wartung nicht ganz entsprochen. Gluk hin-
gegen hat mir sehr wohl gethan. Die Dörr-
maschiene Zeichnung und Beschreibung er-
wart ich alle Tage. In ansehung der Pen-
sion, von deren mir der Herzog schrieb,
habe ich noch keine auskunft. Mattei schreibt
mir: Er habe dir über so was ausführlich
geschrieben. Hier in Zürich ist alles so
Bürgerlich, so klein, daß hochadeliche Fraü-
lein sich kaum würden drein finden
können.

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Denk, lieber, auf Pfingsten muß ich eine
lateinische Oration halten, 12. Jahre hab'
ich nichts lateinisches geschrieben und ge-
lesen – dies nimmt mir nun gar noch je-
den freyen Odem.


Der Schweizern 2. Schwesteren sind gestor-
ben, die Dritte, ein wahrer Engel an Un-
schuld – wird heüt oder Morgen den bey-
den andern folgen. – und das wird so
dann auch diese 4.​te noch hinraffen.


Den Augenblik kommt der abdruk vom
Herzog an. Harre noch 4. Wochen, so sollst
du haben, was du verlangtest.


Nun ist bey uns anderm nichts die
rede, als von unserm Staatsgefangenℓ
Heinrich Waaser, gewesenen Pfarrer
beym Kreüz – auf den Höchstvermuth-
lich die Nachtmal Vergiftung heraus-
kommen wird. Obgleich der Mann mir
immer innerlich widerstand, so gesteh'
ich doch gern, daß ich nie an den dachte,
und da man gleich anfangs mir ihn | 3 |
nennte, widersprach ich den Argwohn mit
überzeügung. Hätt' ich Zeit, ich schriebe dir
gern was über die merkwürdige Ge-
schichte dieses sonderbaren Menschen,
der von allem den Schein – nichts aber
wirkliches hat; deßen Geistesstärke
nichts, als enorme, mit Höflichkeit ge-
färbte Impudenz, deßen Klugheit bloß
List für den Moment ist, – ein Mensch
ohne Liebe – ohne Freüd, und dennoch
ein treüer Ehemann – und der dienst-
fertigste Mensch von der Welt. Näch-
sten Dienstag wird er, in Gegenwart
des Scharfrichters, auch über die Gift-
mischung befragt werden. Mann hat
nichts diesfalls in Händen. Aber
sein ganzer Charakter, einzelne Staats-
verbrechen, und Worte, die er fallen
ließ – vornehmlich aber, weil man
sich nun erinnert, daß er einen | 4 |
Schlüßel zum Münster hatte, berech-
tigen den Magistrat zu dieser Frage.


à Dio für diesmal. Grüß alles Grüß-
bare, und habe Geduld mit mir. à
Dio.

   
    Johann Caspar Lavater.


S: Zentralbibliothek Zürich  D: GL Nr. 72  B: 1780 Februar 7 (WA IV 4, Nr. 887)  A: 1780 Mai 1 (WA IV 4, Nr. 936)  V: Abschrift 

L. kündigt die Übersendung des Porträts von C. S. H. Kestner und der von J. C. Kaufmann zurükgesandten indianischen Zeichnungen im Paket an P. E. Reich an. Das Porträt B. Cencis, das seiner Erwartung nicht ganz entsprochen habe, folge bald. Gluk hingegen hat mir sehr wohl gethan. Die Dörrmaschiene Zeichnung und Beschreibung erwart ich alle Tage. In ansehung der Pension, von deren mir der Herzog schrieb, habe ich noch keine auskunft. K. Mattei schreibt mir: Er habe dir über so was ausführlich geschrieben. - Pfingsten müsse L. eine lateinische Rede halten. - Zwei Schwestern M. Schweizers seien gestorben. - Gerade erhalte L. den abdruk vom Herzog. - Ausführlich über die Affäre J. H. Waser.

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Lieber Goethe,

 Ich wollte dir heüte die Lotte und die von Kaufmann mir zurükgesandten indianischen Zeichnungen über die Post senden, da ich aber eben ein Kistgen an Reich schike, so hast du noch Geduld, bis du das Ding mit dieser Gelegenheit empfängst.

 Die Cenci ist nun einmal ziemlich leidlich Copirt. Nun noch einmal und ich sende dir sie zurük. aber sie hat doch meiner Erwartung nicht ganz entsprochen. Gluk hingegen hat mir sehr wohl gethan. Die Dörrmaschiene Zeichnung und Beschreibung erwart ich alle Tage. In ansehung der Pension, von deren mir der Herzog schrieb, habe ich noch keine auskunft. Mattei schreibt mir: Er habe dir über so was ausführlich geschrieben. Hier in Zürich ist alles so Bürgerlich, so klein, daß hochadeliche Fraülein sich kaum würden drein finden können.

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 Denk, lieber, auf Pfingsten muß ich eine lateinische Oration halten, 12. Jahre hab' ich nichts lateinisches geschrieben und gelesen – dies nimmt mir nun gar noch jeden freyen Odem.

 Der Schweizern 2. Schwesteren sind gestorben, die Dritte, ein wahrer Engel an Unschuld – wird heüt oder Morgen den beyden andern folgen. – und das wird so dann auch diese 4.​te noch hinraffen.

 Den Augenblik kommt der abdruk vom Herzog an. Harre noch 4. Wochen, so sollst du haben, was du verlangtest.

 Nun ist bey uns anderm nichts die rede, als von unserm Staatsgefangenℓ Heinrich Waaser, gewesenen Pfarrer beym Kreüz – auf den Höchstvermuthlich die Nachtmal Vergiftung herauskommen wird. Obgleich der Mann mir immer innerlich widerstand, so gesteh' ich doch gern, daß ich nie an den dachte, und da man gleich anfangs mir ihn| 3 | nennte, widersprach ich den Argwohn mit überzeügung. Hätt' ich Zeit, ich schriebe dir gern was über die merkwürdige Geschichte dieses sonderbaren Menschen, der von allem den Schein – nichts aber wirkliches hat; deßen Geistesstärke nichts, als enorme, mit Höflichkeit gefärbte Impudenz, deßen Klugheit bloß List für den Moment ist, – ein Mensch ohne Liebe – ohne Freüd, und dennoch ein treüer Ehemann – und der dienstfertigste Mensch von der Welt. Nächsten Dienstag wird er, in Gegenwart des Scharfrichters, auch über die Giftmischung befragt werden. Mann hat nichts diesfalls in Händen. Aber sein ganzer Charakter, einzelne Staatsverbrechen, und Worte, die er fallen ließ – vornehmlich aber, weil man sich nun erinnert, daß er einen| 4 | Schlüßel zum Münster hatte, berechtigen den Magistrat zu dieser Frage.

à Dio für diesmal. Grüß alles Grüßbare, und habe Geduld mit mir. à Dio.     Johann Caspar Lavater.

 

 
 

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Online-Edition:
RA 1, Nr. 115, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0115_00128.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 115.

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