Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 87
Von Anna Luise Karsch

18. Mai 1778?, Berlin

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Gutten Morgen lieber Göthe sage hast du gestern mich gegrüßt wie vom Schönen Junngen Tage    Dem der Thau imm Haare fließt    Eine Staude wird gegrüßt die am Fuß des Hügels sizet und des wanndrers Blik nicht    mehr erwirbt weill Ihr leben ausgenüzet welkt und Stirbt:

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Ja du warsts du bists gewesen aber ich beschreib es weitter nicht magst nicht gern ein leer geschwäze    lesen höre lieber was die Kleine spricht die mir Ennkel hatt gebohren Ihre Sinnen haben sich schier inn deinem blik verlohren hör Sie liebet dich, | 2 | ich komme gestern spät heim, Sie hatt unntterdeß nach Hammburg Einen brieff geschrieben der noch offen da liegt, ich hasch Ihn, leg daß blätchen untters Kopfküßen wie deinen ersten brieff und lese beim erwachen, Sie schläfft heütte noch untter Ihren Kindern, und ich will geschwind etwas abschreiben


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   Göthe
gab gestern Seinen besuch ann meine Mutter – Ich sah Ihn, meine Mutter nicht denn die verlohr inn Taumelnden    entzüken So plözlich Göthen zu erbliken verlohr inn Seinen Kuß daß licht des Tages – fühltte nur, und sah und hörtte    nicht Ich aber sah Ihn: ach daß diese Sinnen in mir so Treu nicht schöpfer sind | 3 | umms darzustellen wie? daß ferngewesne    kind kömmt so anns Mutterherz, und Ihm entrinnen sprach und gedank im Mutterblik und dem aus Herzenschlag gesammletten    wilkommen So inn dem wesen kam Er, doch    der blik mitt dem Er kam, der bleibt    mir unverschwommen in Lethens ewigen Vergeßenheittens    Trank daß war gannz Göthe der aus diesem    blike dranng kein anndrer paßt hinnein; kein May    und kein Apoll und doch war dieser blik nicht    etwan Sprudelnd voll vonn sichtbarflammenden Emmpfinden worann daß auge möcht verblinden    es war Ein blik ann welchen sannfft die herzen lannden | 4 | ummher getrieben vom Geschik so wohl, so wohl, o welch ein blik


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Bis hierher schreib ich dirs nur ab denn weitter hinn braußtte die Schwärmerin bis zum bliz und zum Spähren Klang, hört Endlich auff poetisch zu sein, und spricht, bester VV wie läßt sich daß beschreiben was nur einmahl so inn der natur da ist wie Göthe mitt Seinem Thun und laßen; anngemeßner ist nichts inn den Regeln der Geometrie, als Seine red und antwort, kurz, aber auch so einschmeichelnd wie Männliche anmuth durch Music ausgedrukt)– ich möcht Gern den gannzen brief abschreiben wenn ich nicht fürchtten müßtte daß Sie herrein käme, nein nein ich will die blätchens wieder Still unntter Ihre Papiere legen, und einmahl sehn ob Sie mir Sie zu lesen geben wird – | 5 | auch will ich sehn ob dich mein    auge wieder dort oben finnden kann dort blikst du geistig auff mich    nieder und Siehest meinen RittersMann dicht hinntter mir im weißen    überroke und Einer schon halbgraugewordnen    loke und sizet oder steht bey dir Ein mann und nicht ein weib dann komm ich mitt Begier Einmahl an deine logenthür iezt rufft mann mich Zum    Theegenuße und iezt Emmpfehl ich mich mitt    Einem Seelengruße – beflügelt, durchs Papier


    A. L. K.


S: Freies Deutsches Hochstift Frankfurt am Main  D: Becker-Cantarino, in: Karsch 124-126  B?: 1778 Mai 18 (WA IV 51, Nr. 703a)  A: -  V: Fragment 

Gutten Morgen lieber Göthe sage hast Du gestern mich gegrüßt. - G. möge hören, was ihre Tochter (K. L. Hempel) nach seinem Besuch in einem Brief nach Hamburg geschrieben habe: Wiedergabe eines Teiles ihrer Verse. - Wie läßt sich daß beschreiben was nur einmahl so in der natur da ist wie Göthe mitt Seinem Thun und laßen [...].

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Gutten Morgen lieber Göthe sage hast du gestern mich gegrüßt wie vom Schönen Junngen Tage  Dem der Thau imm Haare fließt  Eine Staude wird gegrüßt die am Fuß des Hügels sizet und des wanndrers Blik nicht  mehr erwirbt weill Ihr leben ausgenüzet welkt und Stirbt:

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Ja du warsts du bists gewesen aber ich beschreib es weitter nicht magst nicht gern ein leer geschwäze  lesen höre lieber was die Kleine spricht die mir Ennkel hatt gebohren Ihre Sinnen haben sich schier inn deinem blik verlohren hör Sie liebet dich,| 2 | ich komme gestern spät heim, Sie hatt unntterdeß nach Hammburg Einen brieff geschrieben der noch offen da liegt, ich hasch Ihn, leg daß blätchen untters Kopfküßen wie deinen ersten brieff und lese beim erwachen, Sie schläfft heütte noch untter Ihren Kindern, und ich will geschwind etwas abschreiben

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 Göthe
gab gestern Seinen besuch ann meine Mutter – Ich sah Ihn, meine Mutter nicht denn die verlohr inn Taumelnden  entzüken So plözlich Göthen zu erbliken verlohr inn Seinen Kuß daß licht des Tages – fühltte nur, und sah und hörtte  nicht Ich aber sah Ihn: ach daß diese Sinnen in mir so Treu nicht schöpfer sind| 3 | umms darzustellen wie? daß ferngewesne  kind kömmt so anns Mutterherz, und Ihm entrinnen sprach und gedank im Mutterblik und dem aus Herzenschlag gesammletten  wilkommen So inn dem wesen kam Er, doch  der blik mitt dem Er kam, der bleibt  mir unverschwommen in Lethens ewigen Vergeßenheittens  Trank daß war gannz Göthe der aus diesem  blike dranng kein anndrer paßt hinnein; kein May  und kein Apoll und doch war dieser blik nicht  etwan Sprudelnd voll vonn sichtbarflammenden Emmpfinden worann daß auge möcht verblinden  es war Ein blik ann welchen sannfft die herzen lannden| 4 | ummher getrieben vom Geschik so wohl, so wohl, o welch ein blik

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Bis hierher schreib ich dirs nur ab denn weitter hinn braußtte die Schwärmerin bis zum bliz und zum Spähren Klang, hört Endlich auff poetisch zu sein, und spricht, bester VV wie läßt sich daß beschreiben was nur einmahl so inn der natur da ist wie Göthe mitt Seinem Thun und laßen; anngemeßner ist nichts inn den Regeln der Geometrie, als Seine red und antwort, kurz, aber auch so einschmeichelnd wie Männliche anmuth durch Music ausgedrukt)– ich möcht Gern den gannzen brief abschreiben wenn ich nicht fürchtten müßtte daß Sie herrein käme, nein nein ich will die blätchens wieder Still unntter Ihre Papiere legen, und einmahl sehn ob Sie mir Sie zu lesen geben wird –| 5 | auch will ich sehn ob dich mein  auge wieder dort oben finnden kann dort blikst du geistig auff mich  nieder und Siehest meinen RittersMann dicht hinntter mir im weißen  überroke und Einer schon halbgraugewordnen  loke und sizet oder steht bey dir Ein mann und nicht ein weib dann komm ich mitt Begier Einmahl an deine logenthür iezt rufft mann mich Zum  Theegenuße und iezt Emmpfehl ich mich mitt  Einem Seelengruße – beflügelt, durchs Papier

    A. L. K.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
RA 1, Nr. 87, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0087_00095.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 87.

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