Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 72a
Von Jakob Michael Reinhold Lenz

2. Hälfte? September 1776, Kochberg

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So soll ich dich verlassen liebes Zimmer Wo in mein Herz der Himmel niedersank Den ich aus ihrem Blick, wie seelig, aus dem Schimmer Der Gottheit auf der Wange trank, Wenn sich ihr Herz nach ihm nach ihm empörte Und ihr entzücktes Ohr der Sphären Wohllaut hörte. Wenn sie mit Shakespear der ihren Geist umfieng Ha zitternd oft für Furcht und Freude Der Engel Lust im süssen Unschuldskleide In die Mysterien des hohen Schicksals gieng. Auch ich sah ihren Pfad, auch mir War es vergönnt ein Röschen drauf zu streuen Zur Priesterin des Gottes – sie zu weyhen Und hinzuknien vor ihm und ihr
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   Ach wär ich nur so rein gewesen Als die Erscheinung dieses Glücks Vorausgesetzt! Ihr höhern Wesen Verzeyht dem Strauchelnden, euch waren sie erlesen Doch Ewigkeiten Lust sind Kranken die genesen Nur Freuden eines Augenblicks. Ja es erwarten dich du Himmelskind! der Freuden Unzthlige, durch selbstgemachte Leiden Dir unbegreiflich, längst erkauft Mit Tränen ingeheim, getauft.    Ja es erwartet dich was du nicht lösen könntest Der Rätzel Allentwickelung Und höherer Gefühle Schwung Wovor Dir schwindelte, die du dir selbst nicht gönntest./ Indessen wird die weisse Hand Des Jünglings Ungestüm beschränken Und wem die Seele schon auf blassen Lippen stand Die Lust zum Leben wiederschenken Ich aber werde dunkel seyn Und gehe meinen Weg allein.


Den letzten Tag in Kochberg
in dem Zimmer der Frau
v. Stein gemacht; niemand
als ihr selber vorzulesen.


S: -  D: Katalog Stargardt 617 (1979) Nr. 124  B: -  A: an C. von Stein, 1776 September ? 2. Hälfte (Katalog Stargardt 617 (1979), Nr. 124)  V: Druck 

Gedicht: So will ich dich verlassen liebes Zimmer [...] mit der Bemerkung: den letzten Tag in Kochberg in dem Zimmer der Frau v. Stein gemacht; niemand als ihr selber vorzulesen.

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So soll ich dich verlassen liebes Zimmer Wo in mein Herz der Himmel niedersank Den ich aus ihrem Blick, wie seelig, aus dem Schimmer Der Gottheit auf der Wange trank, Wenn sich ihr Herz nach ihm nach ihm empörte Und ihr entzücktes Ohr der Sphären Wohllaut hörte. Wenn sie mit Shakespear der ihren Geist umfieng Ha zitternd oft für Furcht und Freude Der Engel Lust im süssen Unschuldskleide In die Mysterien des hohen Schicksals gieng. Auch ich sah ihren Pfad, auch mir War es vergönnt ein Röschen drauf zu streuen Zur Priesterin des Gottes – sie zu weyhen Und hinzuknien vor ihm und ihr
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 Ach wär ich nur so rein gewesen Als die Erscheinung dieses Glücks Vorausgesetzt! Ihr höhern Wesen Verzeyht dem Strauchelnden, euch waren sie erlesen Doch Ewigkeiten Lust sind Kranken die genesen Nur Freuden eines Augenblicks. Ja es erwarten dich du Himmelskind! der Freuden Unzthlige, durch selbstgemachte Leiden Dir unbegreiflich, längst erkauft Mit Tränen ingeheim, getauft.  Ja es erwartet dich was du nicht lösen könntest Der Rätzel Allentwickelung Und höherer Gefühle Schwung Wovor Dir schwindelte, die du dir selbst nicht gönntest./ Indessen wird die weisse Hand Des Jünglings Ungestüm beschränken Und wem die Seele schon auf blassen Lippen stand Die Lust zum Leben wiederschenken Ich aber werde dunkel seyn Und gehe meinen Weg allein.

 Den letzten Tag in Kochberg in dem Zimmer der Frau v. Stein gemacht; niemand als ihr selber vorzulesen.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
RA 1, Nr. 72a, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0072_00078.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 72a.

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