Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 71
Von Jakob Michael Reinhold Lenz

Mitte September 1776, Kochberg

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   Ich bin zu glücklich Lieber als daß ich deine Ordres
dir von mir nichts wissen zu lassen nicht brechen sollte;
wollte Gott ich hätte deine Art zu sehen und zu fühlen
und du zu Zeiten etwas von der meinigen, wir würden
uns glaub ich beyde besser dabey befinden.


   Ich schreibe dir dies vor Schlaffengehen, weil ich in der
That bey Tage keinen Augenblick so recht dazu finden
kann. Dir alle die Feerey zu beschreiben in der ich
itzt existire, müßte ich mehr Poet seyn als ich bin.
Doch was soll ich dir schreiben daß du falls Schwedenborg
kein Betrüger ist alles nicht schon vollkommen mußt
geahndet gesehen und gehört haben. Wenigstens haben
wirs an all den Gebräuchen und Zauberformeln
nicht fehlen lassen mit denen man abwesende
Geister in seinen Zirkel zu bannen pflegt; wenn
du nicht gehört hast, ists deine Schuld.


   Mit dem Englischen gehts vortreflich. Die Frau
von Stein findt meine Methode besser als die deinige
Ich lasse sie nichts aufschreiben als die kleinen Binde-
wörter die oft wiederkommen; die andern soll
sie a force de lire unvermerkt gewohnen, wie
man seine Muttersprache lernt. Auch bin ich unerbittlich
ihr kein Wort wiederzusagen was den Tag schon vorgekommen
und was mich freut ist, daß sie es entweder ganz gewiß | 2 |
wiederfindt oder wenigstens auf keine falsche Bedeutung
räth, sondern in dem Fall lieber sagt, daß sies nicht
wisse, bis es ihr das drittemal doch wieder
einfällt. – Nur find ich daß sich ein Frauenzimmer
fürs Englische ganz verderben kann, wenn
sie mit Ossianen anfängt. Es geht ihr sodenn
mit der Sprache wie mir und Lindau mit dem
menschlichen Leben.


   Lieber Bruder, du hast entweder selbst meine
Brieftasche oder Philipp hat sie gefunden; schicke
mir sie doch. Wenigstens dein Gedicht, das ich
hineingelegt hatte – alles, denn ich weiß selbst
nicht mehr was drin ist. Schick doch auch sonst
was mit für Frau v. Stein, etwa d. Jungs
Autobiographie von der ich ihr erzehlt habe.
Ich komm in That hieher wie ein
Bettelmönch, bringe nichts mit als meine
hohe Person mit einer großen Empfäng-
lichkeit; habe aber doch sobald ich allein bin
große Unbehäglichkeiten über den Spruch
daß Geben seeliger sey als Nehmen.

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   Dein Bote gieng obschon er alle Kräfte anwandte die
ihm Weib und Kinder übrig gelassen mit der Geschwin-
digkeit eines Mauleseltreibers; ich wäre eben so geschwind
und ungefähr in eben der Gemüthsfassung mit
bloßen Knieen auf Erbsen nach K – gerutscht; und
doch war eben der Merkurius den andern Morgen als
ich ihn wollte ruffen lassen, dir Frau v. Stein Brief und
Zeichnungen zuzuschicken, (obschon ichs ihm Abends vorher
hatte notifiziren lassen) über alle Berge. Wofür
du ihn sermoniren kannst damit ers ein andermal
in ähnlichen Fällen nicht wieder so macht.


   I beg thee to see frequently the spouse of
the lady. I have a pressentiment thou willst
thank me of having given thee a counsel
needful. At least
it is only given
thou kno
imagine all
suffers constantly
She must sea
much deli
tranquillity of mind


S: Latvijas Akademiska Biblioteka Riga  D: BrL Nr. 222  B: an C. von Stein, 1776 September 10 bis 12 (WA IV 3, Nr. 510)  A: - 

Entgegen G.s Weisung, ihm nicht zu schreiben, müsse er es dennoch, wenn auch unzulänglich, tun. - C. von Stein finde seine Art, die englische Sprache zu lehren, besser als diejenige G.s; Einzelheiten zu seiner Methode. - G. möge L.s Brieftasche mit dem darin befindlichen Gedicht G.s ("Seefahrt") und etwas für C. von Stein, etwa "Heinrich Stillings Jugend" (1777), übersenden. Klage über Seidel als Boten, der den andern Morgen als ich ihm wollte rufen lassen, dir Frau v. Steins Brief und Zeichnungen zuzuschicken, [...] über alle Berge war. - In Englisch: Zu den Beziehungen zwischen G. und C. von Stein.

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  Ich bin zu glücklich Lieber als daß ich deine Ordres dir von mir nichts wissen zu lassen nicht brechen sollte; wollte Gott ich hätte deine Art zu sehen und zu fühlen und du zu Zeiten etwas von der meinigen, wir würden uns glaub ich beyde besser dabey befinden.

  Ich schreibe dir dies vor Schlaffengehen, weil ich in der That bey Tage keinen Augenblick so recht dazu finden kann. Dir alle die Feerey zu beschreiben in der ich itzt existire, müßte ich mehr Poet seyn als ich bin. Doch was soll ich dir schreiben daß du falls Schwedenborg kein Betrüger ist alles nicht schon vollkommen mußt geahndet gesehen und gehört haben. Wenigstens haben wirs an all den Gebräuchen und Zauberformeln nicht fehlen lassen mit denen man abwesende Geister in seinen Zirkel zu bannen pflegt; wenn du nicht gehört hast, ists deine Schuld.

  Mit dem Englischen gehts vortreflich. Die Frau von Stein findt meine Methode besser als die deinige Ich lasse sie nichts aufschreiben als die kleinen Bindewörter die oft wiederkommen; die andern soll sie a force de lire unvermerkt gewohnen, wie man seine Muttersprache lernt. Auch bin ich unerbittlich ihr kein Wort wiederzusagen was den Tag schon vorgekommen und was mich freut ist, daß sie es entweder ganz gewiß| 2 | wiederfindt oder wenigstens auf keine falsche Bedeutung räth, sondern in dem Fall lieber sagt, daß sies nicht wisse, bis es ihr das drittemal doch wieder einfällt. – Nur find ich daß sich ein Frauenzimmer fürs Englische ganz verderben kann, wenn sie mit Ossianen anfängt. Es geht ihr sodenn mit der Sprache wie mir und Lindau mit dem menschlichen Leben.

  Lieber Bruder, du hast entweder selbst meine Brieftasche oder Philipp hat sie gefunden; schicke mir sie doch. Wenigstens dein Gedicht, das ich hineingelegt hatte – alles, denn ich weiß selbst nicht mehr was drin ist. Schick doch auch sonst was mit für Frau v. Stein, etwa d. Jungs Autobiographie von der ich ihr erzehlt habe. Ich komm in That hieher wie ein Bettelmönch, bringe nichts mit als meine hohe Person mit einer großen Empfänglichkeit; habe aber doch sobald ich allein bin große Unbehäglichkeiten über den Spruch daß Geben seeliger sey als Nehmen.

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  Dein Bote gieng obschon er alle Kräfte anwandte die ihm Weib und Kinder übrig gelassen mit der Geschwindigkeit eines Mauleseltreibers; ich wäre eben so geschwind und ungefähr in eben der Gemüthsfassung mit bloßen Knieen auf Erbsen nach K – gerutscht; und doch war eben der Merkurius den andern Morgen als ich ihn wollte ruffen lassen, dir Frau v. Stein Brief und Zeichnungen zuzuschicken, (obschon ichs ihm Abends vorher hatte notifiziren lassen) über alle Berge. Wofür du ihn sermoniren kannst damit ers ein andermal in ähnlichen Fällen nicht wieder so macht.

  I beg thee to see frequently the spouse of  the lady. I have a pressentiment thou willst thank me of having given thee a counsel needful. At least it is only given thou kno imagine all suffers constantly She must sea much deli tranquillity of mind

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
RA 1, Nr. 71, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0071_00076.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 71.

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